Alt-Bundesrat Moritz Leuenberger hat am 17. September 2023 im Zürcher Fraumünster eine Ansprache zum Eidgenössischen Dank-, Buss- und Bettag gehalten. Sie benennt die Grundvoraussetzungen der vor 175 Jahren geschaffenen Schweizer Verfassung.
Der Eidgenössische Dank, Buss- und Bettag ist ein Kind des neuen Bundesstaates. Vor seiner Gründung wurden Buss- und Bettage in den katholischen und reformierten Kantonen demonstrativ an verschiedenen Tagen begangen. Die Konfessionen lagen im Streit, der sich zu einem Krieg zuspitzte, dem Sonderbundskrieg. Nach diesem Krieg wurde 1848 die Bundesverfassung erschaffen, auf die Woche genau vor 175 Jahren.
Der Eidgenössische Dank-, Buss- und Bettag wurde als Beitrag zur Versöhnung zwischen den Konfessionen eingeführt; er sollte den gegenseitigen Respekt vor den politisch und konfessionell Andersdenkenden fördern. Die Behörden erliessen Bettagsmandate. Im Kanton Zürich verfasste sie der Staatsschreiber, Gottfried Keller.
Die Bundesverfassung, deren Jubiläum wir in diesen Tagen feiern, ist also die Mutter des Eidgenössischen Bettages. Sie beginnt mit dem Bekenntnis: «Im Namen Gottes!» Ausrufezeichen, dem einzigen in der ganzen Verfassung.
Dieser Beginn ist nicht ganz unumstritten. Namentlich in der Romandie, wo die Trennung von Kirche und Staat konsequenter durchgeführt ist als in der deutschsprachigen Schweiz. Aber: Im Jahre 1999 haben Volk und Stände diesem Ingress mit grossem Mehr zugestimmt.
Die Bundesverfassung gibt nicht nur die Grundsätze vor, wie wir den Staat organisieren, sondern auch, wie wir als Gemeinschaft zusammenleben sollen. Dazu nennt sie Grundsätze wie:
- «Die Verantwortung gegenüber den künftigen Generationen.»
- «Jede Person nimmt Verantwortung für sich selber wahr und trägt nach ihren Kräften zur Bewältigung der Aufgaben in Staat und Gesellschaft bei.»
- «Die Stärke des Volkes misst sich am Wohl der Schwachen.» Eine Gesellschaft zerfällt, wenn sie nicht alle mitzieht und mitberechtigt. Die Unruhen in den Agglomerationen der französischen Grossstädte führen es uns vor Augen.
- «Frei bleibt nur, wer seine demokratische Freiheit gebraucht.» Die Demokratie muss gelebt werden, sonst wird sie von populistischen, religiösen und autoritären Führern übernommen.
Machiavelli geht in «Der Fürst» davon aus, das Zusammenleben der Menschen müsse mit der Angst vor Sanktionen organisiert werden. Viele Staaten, weltweit wahrscheinlich die Mehrheit, sind nach dieser Idee organisiert.
Die Bundesverfassung atmet einen anderen Geist. Sie erkennt, dass selbst mit uneingeschränkten polizeilichen Mitteln echtes Vertrauen zwischen den Menschen nicht erzwungen werden könnte. Ein Staat, der nur mit Gesetzen, Verordnungen und Bussen funktioniert, kann nicht gleichzeitig die Freiheit garantieren.
Die Bundesverfassung geht deshalb von der Erkenntnis aus, dass eine Gemeinschaft in erster Linie auf Hilfe und Barmherzigkeit zwischen den Menschen angewiesen ist. Sie setzt in erster Linie auf Mitmenschlichkeit.
Die Quellen für dieses Grundwasser der Nächstenliebe bilden Religion und Kultur. Der Fluss, der aus diesem Grundwasser fliesst, ist der demokratische Diskurs darüber, was gut und was anständig ist, was verwerflich ist und wie wir uns gegenüber Gegnern verhalten.
Der Staat ist auf die Kirche angewiesen und gewährt ihr deshalb Freiheit. Er erwartet von ihr, diese Freiheit auch kritisch gegen ihn zu nutzen.
Die Ergebnisse dieser Diskussionen münden in die moralischen Normen, nämlich die Regeln über Achtsamkeit, Vertrauen, Treu und Glauben.
Doch: Moralischen Regeln werden nie von allen eingehalten, weswegen als letztes notwendiges Mittel gesetzliche Regeln mit Sanktionen erlassen werden, damit sich alle daranhalten. Im Notfall wird zu ihrer Durchsetzung Zwang und Gewalt angewendet.
Auf dieser Dreifaltigkeit der Aufklärung – Mitmenschlichkeit, Normen, sanktionsbewehrte Regeln – wurde das Zusammenleben in unserem Bundesstaat aufgebaut, damit er ein menschlicher und ein zivilisierter Staat sein kann.
Nicht nur die Bundesverfassung beginnt mit der Anrufung des lieben Gottes. Auch die Nationalhymne ist ein Psalm. Und auch sie ist von vielen bestritten, wiederum deshalb, weil Gott im Mittelpunkt steht. Seit Jahrzehnten wird versucht, ein neues Lied als Nationalhymne zu ernennen. Bis jetzt erfolglos. Ich bin ganz froh, dass das noch nicht gelungen ist.
Wenn wir hören, was andere Nationen in ihren Hymnen singen, bin ich ganz froh um unser Strahlenmeer. Andere Länder singen wahre Schlachtgesänge. In der Nationalhymne Italiens wird noch heute vor jedem Fussballmatch gesungen, dass der österreichische Adler seine Federn verloren habe und er mit dem Kosaken das Blut von Italien getrunken habe. Die Marseillaise ruft martialisch zu den Waffen: «Aux armes, citoyens!» (Nicht einmal die weibliche Form kommt da vor!)
Ein «Eidgenössischer Buss- und Bettag», das ist vielen so unverständlich wie Gott in der Präambel. Er tönt für viele wie «Eidg. Bussenzettel». Dabei ist er gar keine schweizerische Besonderheit. Er ist auch nicht christlichen Ursprungs. Schon das alte Rom kannte öffentliche Sühnetage, die dann von den Christen übernommen wurden.
Kollektive Busstage haben sich bis in unsere säkuläre Zeit erhalten und bringen zum Ausdruck: Jede politische Gemeinschaft ist mit moralischen Problemen konfrontiert, die sie allein mit politischen Mitteln gar nicht bewältigen kann.
Keine Gemeinschaft ist frei von Fehlern. Selbst ein Rechtsstaat verletzt immer auch Interessen von Minderheiten. Er erlässt generell-abstrakte Normen und diese nehmen nicht auf jedes Individuum Rücksicht. Jede noch so demokratische Abstimmung geht auch zulasten einer Minderheit.
Diese Erkenntnis zwingt dazu, in der Haltung des politischen Gegners immer auch eine Wahrheit zu suchen und sie ihm zuzuerkennen. Das leistete vor 175 Jahren die Mehrheit gegenüber der besiegten Minderheit, indem sie diese nicht demütigte, sondern in den neuen Staat einbezog.
Es ist dies eine politische Konkretisierung des Gebotes im Neuen Testament: «Liebe deine Feinde!» (Ein Gebot, das in seiner Radikalität von vielen nicht begriffen wird.)
Es kann kein Staat für seine Politik moralische Vollkommenheit beanspruchen. Er würde sonst die Ungerechtigkeit aller Ideologien begehen, die ihre utopische Ordnung um jeden Preis durchsetzen wollen.
Als Prinzip ist das leicht gesagt. Schwieriger aber ist es, begangene Fehler in konkreten Fällen öffentlich einzugestehen, erst recht, eine Schuld anzuerkennen. Dazu ringt sich ein Staat immer erst in mühsamen und umstrittenen Prozessen durch.
Das zeigt sich dann, wenn sich die Landesregierung für ein Verhalten früherer Generationen entschuldigen muss, wie etwa für die offizielle Flüchtlingspolitik während des Zweiten Weltkrieges, als jüdische Flüchtlinge abgewiesen und in den Tod getrieben wurden. (Fünfzig Jahre nach Kriegsende hat sich der Bundesrat dafür entschuldigt.)
Gleiches geschah als späte Antwort auf das Zurückbehalten jüdischer Vermögen auf Schweizer Banken (sogenannter «nachrichtenloser Vermögen») und in einem anderen Fall für die Internierung von «Kindern der Landstrasse».
Künftig sind das vielleicht die Kinder der Saisonniers, für die wir uns entschuldigen müssen oder die Tatsache, mitverantwortlich für Kinder- und Sklavenarbeit zu sein, von der hiesige Konzerne in anderen Kontinenten profitieren. Und wir ebenfalls, indem wir Steuern einziehen.
Doch heute ist nicht der Tag der politischen Auseinandersetzung, sondern der, sich dies in Erinnerung zu rufen: Eine spätere politische Generation kann uns für etwas verurteilen, das wir heute unreflektiert gutheissen.
Wir sind nicht unfehlbar. Ebenso wenig ist es unsere Demokratie. Dies in Demut zu erkennen, zu versuchen, es in die politische Arbeit einzubeziehen, dies ist der Sinn des Eidgenössischen Dank-, Buss- und Bettages.