Noch heute erzählt man sich im Städtchen Sciacca im Süden Siziliens diese Geschichte: Vor langer Zeit setzte sich jeden Sonntag ein altes Ehepaar auf eine Bank und schaute aufs Meer hinaus. Die beiden warteten auf ein Wunder – ein Wunder, das schon einmal geschehen war. Doch sie warteten vergebens. Wird sich das Wunder bald wiederholen?
Das südliche Italien und das südliche Mittelmeer sind seismisch sehr aktive Regionen. Seit dem vergangenen Januar ereigneten sich über 60 kleinere und mittlere Erd- und Seebeben. Das heftigste wurde am 24. Januar um 21.15 Uhr in einer Tiefe von 16 Kilometern registriert. Es hatte eine Stärke von 5,6. Seither wird die Region fast täglich von Erschütterungen heimgesucht. Die meisten ereignen sich kaum beachtet tief im Meer.
Der italienische Geologe und Erdbebenforscher Alessandro Amato erklärt, dass zwischen Sizilien und Afrika die Erdkruste in Bewegung sei. So kommt es auf der Kante zwischen Sizilien und den vulkanischen italienischen Inseln Pantelleria und Lampedusa «aktiv zu Verwerfungen». Sizilien entferne sich jährlich um wenige Millimeter vom sogenannten «Nubien»-Block, d. h. von Afrika.
Es wimmelt von unterseeischen Vulkanen
Das Meer südlich von Sizilien ist Teil der «Campi Flegrei del Mar di Sicilia», der «phlegräischen Felder des sizilianischen Meers». Dabei handelt es sich um eine Gruppe unterseeischer Vulkane, die in einer etwa tausend Meter tiefen Senke südwestlich von Sizilien liegen. (Phlegräische Felder gibt es auch südlich von Neapel. Dort schliessen Geologen einen baldigen, sehr schweren Vulkanausbruch nicht aus.)
Es wäre nicht das erste Mal, dass in den phlegräischen Feldern südlich von Sizilien Unvorhergesehenes geschieht. Vor bald 200 Jahren ereignete sich dort ein «Wunder», auf dessen Wiederholung das alte Ehepaar in Sciacca gewartet hatte.
Alles begann 1818. Damals ereignete sich an der Ostküste Siziliens, in der Gegend um Catania, ein schweres Erdbeben. Dreizehn Jahre später, am 28. Juni 1831, begann in Sciacca eine Erdbebenserie mit teils sehr heftigen Erdstössen.
«Donnerähnliches Getöse»
Laut dem deutschen Physiker Johann Christian Poggendorff ereignete sich vermutlich am 2. Juli 1831 mitten im Meer – etwa 30 Kilometer vor Sciacca – ein heftiger Ausbruch eines Unterwasser-Vulkans.
Ein gewisser Francesco Tefiletti, Kapitän des sizilianischen Zweimasters «Il Gustavo», war der Erste, der das Ereignis beobachtete. Er vernahm ein «donnerähnliches Getöse». Es roch nach Schwefel, als ob sich die Hölle geöffnet hätte.
Poggendorf, der sich in der Nähe befand, beschrieb kurz darauf die Ereignisse im Detail: Eine schwarzgefärbte Wassermasse, «anscheinend bis auf eine Höhe von 100 Palmen oder 82 preussischen Fussen» sei aus dem Meer geschossen. Diese Erscheinung habe sich alle 15 bis 30 Minuten wiederholt. Auf dem Wasser schwammen «bereits todte oder nur noch halb lebende Fische».
Plötzlich ragt eine Insel aus den Wellen
In Sciacca hatte man noch keine Ahnung vom «Daseyn dieser Ereignisse», wie Poggendorff schrieb. Wegen des trüben Wetters und der schlechten Sicht bemerkte man die riesige Dampfsäule nicht. Fischer staunten als erste, als sie sahen, wie auf dem Wasser riesige Mengen Schlackenstücke trieben. Dann endlich, am 13. Juli, wurde das Wetter besser. Nun sah man von Sciacca aus eine hohe Rauchsäule, aus der immer wieder Feuerstrahlen zischten.
Der Vulkanausbruch führte dazu, dass riesige Mengen von eruptivem Auswurfmaterial mitten im Meer angehäuft wurden: Tephrit, Schlacken, Bimsstein und Lapilli – so viel, dass plötzlich eine Insel aus dem Wasser ragte: kein Inselchen, eine richtige Insel. Sie hatte eine Fläche von vier Quadratkilometern und erreichte eine Höhe von 65 Metern. In der Mitte bildete sich ein Krater mit einem Durchmesser von etwa 70 Metern. Darin befand sich orangegelbes 95-grädiges Wasser, das von einem dicken Schaum bedeckt war.
Von Blitzen durchzuckte Rauchsäule
Poggendorff berichtete, dass sich auf einer Terrasse in Sciacca die Einwohner in der Abendkühle versammelten, «den Blick gegen die von Blitzen durchzuckte Rauchsäule gerichtet und in ahnungsvoller Stille auf das sehr häufig herübertönende donnerähnliche Getöse horchend, das zuweilen wohl eine Viertelstunde lang und darüber ununterbrochen anhielt». Doch «keiner von den 15’000 Einwohnern hatte eine Seereise zur Insel unternehmen wollen».
Auch die Naturforscher, Geologen und Physiker hatten Mühe, ein Schiff zu finden, das sie auf die Insel brachte, schrieb Poggendorff. «Unsere Reisenden fanden erst nach dreitägigen ämsigen Unterhandlungen» mit Interventionen höchster Stellen eine Transportmöglichkeit.
Blaue Sonnenuntergänge
Als Erste reisten dann «der deutsche Naturforscher Professor F. Hoffmann aus Halle, Hr. Escher aus der Schweiz, und die DDr Filippi und Schultz aus Berlin» vor die Insel. Ein Betreten wurde ihnen wegen eines neuen Ausbruchs verwehrt. Hoffmann war schon früher ins «Königreich beider Sizilien» gereist, um dort die Geologie zu erforschen.
Bei dem von Poggendorff erwähnten «Hr Escher aus der Schweiz» handelt es sich um Arnold Escher von der Linth (1807–1872), Professor für Geologie an der Universität Zürich und am Polytechnikum. Er ist der Sohn von Hans Konrad Escher von der Linth, Staatsrat, Geologe, Baunternehnmer, Seidenfabrikant, Kunstmaler, Politiker und Ingenieur, der als Leiter der Linthkorrektion zu nachhaltiger Berühmtheit gelangte.
Die Dampfmasse, die in den Äther gelangte, führte dazu, dass in weiten Teilen Europas wunderbare blaue, grüne und rote Sonnenuntergänge beobachtet wurden.
Britisch-französisch-italienischer Streit
Wem gehört diese neue, rätselhafte Insel? Sogleich begann ein Streit zwischen dem «Königreich beider Sizilien», den Engländern und den Franzosen. Die Süditaliener argumentierten, dass das neue Territorium ihnen gehört, weil es vor Sizilien liegt. Die Engländer, die das nahe Malta besetzten, erkannten die strategische Bedeutung der aufgetauchten Felsmasse. Und die Franzosen wollten ihre Position im südlichen Mittelmeer festigen.
So erhielt die Insel denn auch sieben verschiedene Namen.
Die Süditaliener nannten sie «Ferdinandea» nach Ferdinand II., dem König des «Königreichs beider Sizilien». Ferdinand residierte im üppigen Schloss Caserta nördlich von Neapel. Das «Königreich beider Sizilien» existierte zwischen 1816 und 1861 und umfasste den unteren Teil der Apenninenhalbinsel mit Neapel und ganz Sizilien mit Palermo. Hauptstadt war zunächst Palermo und ab 1817 Neapel. Ferdinand II. regierte von 1830 bis zu seinem Tod 1859.
Die Engländer bezeichneten die Gesteinsmasse als «Graham Island». Sir James Robert George Graham war Innenminister und Erster Lord der Admiralität.
Und die Franzosen nannten die Insel «Giulia», weil sie im Juli aus den Wellen des Mittelmeers auftauchte.
Weitere Namen waren Nerita, Hotham, Corrao und Sciacca. Der Name «Ferdinandea» setzte sich schon früh durch.
Touristenmagnet
Am 2. August hatten die Briten den Union Jack gehisst und die Insel formell in Besitz genommen «Wir hörten ihre Kanonensalven, welche den Vorgang verkündeten», schrieb Poggendorff. Die Franzosen und Italiener waren wütend.
Schnell wurde Ferdinandea zu einem Touristenmagnet. Im Hafenstädtchen Sciacca, das bisher vor allem dank seiner heissen Quellen bekannt war, wurden Boote gemietet, die die Besucher, meist Ausländer, zumindest in die Nähe der Insel brachten. Sciacca erlebte einen Aufschwung.
Der vergrabene Schatz
Natürlich wurde die Insel literarisch verarbeitet. In Jules Vernes Roman «Meister Antifers wunderbare Abenteuer» wird ein Gold- und Edelstein-Schatz eines reichen Ägypters auf der Insel Giulia vergraben. Doch als die Schatzsucher endlich vor der Südküste Siziliens eintreffen ist die Insel bereits wieder im Meer versunken und der Schatz liegt hundert Meter unter dem Meeresspiegel.
Der deutsche Schriftsteller Armin Strohmeyr liess seiner Phantasie freien Lauf. In seinem 2021 erschienenen witzigen Roman «Ferdinandea, die Insel der verlorenen Träume»*) beschreibt er den Kampf zwischen Engländern, Franzosen und Italienern um den aufgetauchten Steinhaufen. Der Text basiert auf einigen realen Begebenheiten, doch das meiste ist Fiktion, bewusst überzeichnet.
In Sekt und Rotwein baden
So waren laut Strohmeyrs Roman die Franzosen dabei, auf der Insel einen Thermalkurort namens «Neu-Vichy» zu errichten. Die Insel sollte zur Perle des französischen Weltreichs werden. Palmen, Lorbeerbäume und Rosensträucher wurden gepflanzt. Die Kurgäste sollten in Sekt und Rotwein baden. Vergnügungszentren wurden gebaut, ein Kurhaus, Herbergen, eine Strandpromenade, auf der sich bald betuchte Gäste aus aller Welt tummelten. Sogar Russen «spazierten pfauenhaft» dem Meer entlang.
Auch eine Kirche entstand – und die brauchte ein Wunder, um Besucher anzulocken. Don Sebastiano, Priester im nahen Sciacca, hatte eine Idee. Er transportierte ein Gemälde des Heiligen Sebastian auf die Insel. Es war nicht irgendein Gemälde, denn immer wieder kullerten heilige Tränen aus der Leinwand und dem Gesicht des Heiligen. Die Besucher der Insel waren ergriffen.
Schnelles Ende
Doch der Traum ging schnell zu Ende. Schon im Dezember 1861, also nach gut fünf Monaten, tauchte die Insel langsam wieder unter. Im Januar 1832 war nichts mehr zu sehen.
Und jetzt könnte Ferdinandea wieder auftauchen – oder eine andere ähnliche Insel in der Gegend. Geologen schliessen das nicht aus. Unterwasser-Vulkane gibt es dort genug.
Zunehmende Erdbebentätigkeit
Enzo Boschi, der Leiter des «Istituto Nazionale di Geofisica e Vulcanologia», stellte fest, dass die Seismizität in der Nähe der Campi Flegrei Mar Sicilia seit Jahren wieder zugenommen hat. Zur Zeit liegt Ferdinandea etwa zehn Meter unter dem Meeresspiegel.
Boschi sagt: «Die Insel könnte also wieder an die Oberfläche kommen, aber wir müssen abwarten. Es könnte ein paar Wochen oder Monate dauern.» Doch solche Prognosen gibt es seit Jahren.
Und die Alten auf der Bank?
Trotzdem: Im Mittelmeer zwischen Sizilien und Afrika brodelt es. Ein Auftauchen einer neuen Insel ist möglich.
Und das alte Ehepaar, das jeden Sonntag auf der Bank in Sciacca sass und auf eine Wiederholung des «Wunders von Ferdinandea» wartete? Sässen die beiden heute noch dort, würden sie vielleicht bald einmal eine riesige Rauch- und Dampfsäule erblicken.
*) Armin Strohmeyr: Ferdinandea, die Insel der verlorenen Träume. Roman, Südverlag Konstanz 2021, 376 Seiten.