„The Rape of Lucretia“ – Die Schändung Lukretias war erst die zweite Oper des damals zweiunddreissigjährigen Benjamin Britten. Der 1913 im englischen Suffolk geborene Komponist war ein glühender Henry Purcell-Verehrer, und Anklänge an den grossen barocken Vorgänger klingen in diesem Werk auch einige Male an. Die Oper ist, durchaus in alter Manier, im Wechsel von Rezitativ und Arioso aufgebaut und endet mit einer Passacaglia in Purcells Stil. Das Werk schliesst direkt an Brittens Grosserfolg mit „Peter Grimes“, seiner ersten, weitaus grösseren Oper, an. Die Titelfigur, an der Uraufführung 1946 in Glyndebourne von der grossen Altistin Kathleen Ferrier verkörpert, ist als Sinnbild ehelicher Treue und Liebe seit der Antike bekannt und bot vielen – vor allem bildenden – Künstlern Stoff zur Umsetzung.
Die Etrusker
Ca. 500 v.Chr. war, einer geschichtlich nicht belegten Legende nach, Lucretia Gattin des etruskischen Fürsten Collatinus im damals von den Etruskern seit rund 400 Jahren besiedelten Rom. Bis heute ist relativ wenig über dieses hochzivilisierte, geheimnisumwitterte Volk bekannt, das – laut Herodot – aus Kleinasien im 13./14. Jahrhundert eingewanderte Volk der Lyder. Andere Quellen sprechen vom Beginn der Herrschaft der etruskischen Könige, hergeleitet aus der Villanova-Kultur, im 7. Jahrhundert.
Auch wenn Rom 509 v.Chr. mit dem Sturz des Tarquinius Superbus aufgegeben werden musste und damit der Beginn der römischen Republik eingeläutet wurde, blieb Etrurien, die heutige Toskana, bis 88 v. Chr. eine eigenständige, blühende und hochzivilisierte Region. Die Römer übernahmen von den friedlichen Etruskern u.a. das Zahlensystem, Erkenntnisse zu Kanalisation und Landwirtschaft, aber auch das Recht der Frauen, einen eigenen Vornamen zu tragen und mit dem Gatten gemeinsam aufzutreten.
Die Handlung
Dies zum Hintergrund des Dramas, wobei der emanzipatorische Effekt der sich ihrer Rechte und Pflichten bewussten Frau durchaus eine Rolle spielt. Während eines Männergesprächs im Feldlager unweit Roms über die zu Hause gebliebenen Frauen der Kämpfer wird neidvoll Lucretias unerschütterliche Treue und Liebe zu Collatinus gerühmt. König Tarquinius lässt sich dazu anstacheln, diese Treue auf die Probe zu stellen.
Er reitet nach Rom. In Lucretias Haus muss man ihm notgedrungen Gastrecht geben, das er dazu benutzt, die unerschütterlich treue Hausherrin nachts zu vergewaltigen. Lucretia lässt anderntags ihren Gatten zu sich rufen, berichtet ihm das Vorgefallene und ersticht sich aus Scham und Demütigung vor seinen Augen. Dies ist, wiederum der Legende nach, der Auftakt für die Revolte der Römer gegen die etruskische Herrschaft. Tarquinius Superbus, der letzte etruskische König, wird gestürzt.
Die Oper
Britten wählte für den Stoff zwar eine kammermusikalische Form mit nur 13-köpfigem Orchester. Damit weiss er aber grosse, mitreissende Steigerungen aufzubauen, welche von intimen, fast lied- oder choralhaften Szenen abgelöst werden. Besetzungsmässig wählt er nach antikem griechischem Vorbild zwei Erzähler, welche den kommentierenden männlichen und weiblichen Chor verkörpern und eine wichtige Funktion einnehmen, ja, manchmal sogar selber in die Handlung eingreifen.
Der kriegerischen Männerriege um Tarquinius steht die sanfte, glückliche Welt der Frauen gegenüber, Lucretia im Kreise ihrer Dienerinnen, die sie verehren. Diese Brüche sind akzentuiert herausgearbeitet, werden aber durch die Erzähler betrachtend und auch warnend im Hinblick auf einen christlichen Erlösungsgedanken geglättet.
Der Librettist
„Alle Tyrannen stürzen, auch wenn die Tyrannei fortbesteht“. Solche Sätze schrieb in einem literarisch ungewöhnlich hochstehenden, oft poetischen Libretto der aus Süd-Rhodesien stammende (weisse) Poet Ronald Duncan, der früher schon den Text zu Brittens „Pacifist March“ verfasst und beim letzten Akt von „Peter Grimes“ mitgeholfen hatte.
Die Aufführung
In der stimmigen Basler Inszenierung von Ulrike Jühle und dem klugen, polyvalenten Bühnenbild von Marianna Helen Meyer bewegen sich die jungen, aus allen Weltgegenden stammenden Darsteller ausnahmslos perfekt und engagiert – jeder einzelne von hoher Stimmkultur (Aidan Ferguson als Lucretia, Zachary Altman als Tarquinius, José Coca Loza als Collatinus, Kang Wang und Meike Hartmann als Erzähler, weiter Maria Carla Pino Cury, Rita Ahonen und Jason Cox). Die meisten von ihnen sind in der laufenden Saison Mitglieder von „Opera Avenir“, der Basler Opern-Kaderschmiede, die in etwa mit dem Internationalen Opernstudio Zürich verglichen werden kann, ja, dieses an Qualität der bereits voll ausgebildeten Sängerinnen und Sänger oft noch überragt.
Der schwierige Orchesterpart wurde von Studierenden der Musikhochschule Basel übernommen, angefeuert und mit exakter Zeichengebung von David Cowan geführt. Der erfolgreiche englische Dirigent, seit 2001 am Basler Theater, verlässt Basel leider Ende Saison, um wieder nach England zu gehen – ein Verlust.
Der knapp zweistündige Abend wurde mit grossem Applaus beendet. Weitere Vorstellungen auf der Kleinen Bühne im Theater Basel: 8., 11., 19. und 25. April.