Taoufik Ouanes, ein schweizerisch-tunesischer Doppelbürger, ist Rechtsanwalt in Genf und Tunis. Zuvor war er jahrelang Uno-Beamter und in Dutzenden Ländern im Einsatz. Er sieht die Probleme in Tunesien differenzierter als die meisten westlichen Medien.
Der Untergang eines Migrantenschiffs vor der griechischen Küste am 14. Juni ist eine weitere tragische Episode in dem seit mehr als zwei Jahrzehnten andauernden Problem der illegalen oder irregulären Migration. Das Mittelmeer ist zu einem Friedhof für Zehntausende Menschen geworden, die bei dem Versuch, Natur- und Klimakatastrophen, Kriegen, Armut und Menschenrechtsverletzungen zu entkommen, ertrunken sind.
Hunderttausende, wenn nicht Millionen von Menschen, darunter viele Frauen und Kinder, wollen aus Afrika, dem Nahen Osten, Asien und Südamerika nach Europa oder in die USA gelangen.
Von Afrika aus durchqueren sie die Sahara, um nach Nordafrika zu gelangen. Wenn sie dieses erste oft tödliche Hinternis überwunden haben, müssen sie sich dem oft todbringenden Mittelmeer stellen.
Alle sind schuldig
Das Problem der illegalen Migration ist endemisch, dauerhaft und dramatisch geworden. Ein Problem, das zunehmend den Frieden und den Wohlstand vieler Länder bedroht und deshalb wirksam und nachhaltig gelöst werden sollte.
Um es gleich vorweg zu sagen: Alle beteiligten Staaten (Herkunftsstaaten der Migranten, Transitstaaten und Staaten, in denen sie sich niedergelassen haben) sind verantwortlich, wenn auch in unterschiedlichem Masse. Aber alle sind schuldig, weil sie keine ausgehandelte, humane und ausgewogene Lösung für dieses Elend und diesen Menschenhandel finden. Der Massenzustrom von Migranten wird weitergehen und sich mit dem Beginn des Sommers aus meteorologischen Gründen sogar noch verstärken.
Die Festung, die Europa um seine Grenzen errichtet hat, hat sich als unwirksam erwiesen. Die Lösung kann niemals nur darin bestehen, Barrikaden um die Länder herum zu errichten. Wir kennen den Ausdruck «Es gibt keine uneinnehmbare Festung».
Die Frontstaaten können die Last nicht länger tragen
Unabhängig von der politischen Gesinnung oder den wirtschaftlichen Interessen kann das menschliche Gewissen nicht länger gleichgültig bleiben, wenn Tausende von Migranten vor den Toren Europas ertrinken. Die sogenannten Frontstaaten wie Italien, Griechenland und Spanien können die schwere Last der wachsenden Migrationsströme nicht länger allein tragen. Schon länger beschuldigen sie die anderen europäischen Länder der mangelnden Solidarität.
Die zahlreichen europäischen Abkommen der letzten beiden Jahrzehnte haben sich als nicht wirksam und unzureichend erwiesen, um das Problem in den Griff zu bekommen. Die europäischen Staaten und ihre öffentliche Meinung sollten erkennen, dass jede unilaterale oder rein europäische Lösung unweigerlich zum Scheitern verurteilt ist. Wie lange wird Europa dieses Problem noch militärisch und sicherheitspolitisch angehen? Wie lange wird es die Immigranten ertrinken lassen, während die Seegrenzschützer der europäischen Länder oder der «Frontex» (eine seit 20 Jahren bestehende Grenzschutzorganisation der Europäischen Union) gleichgültig und vielleicht sogar mitschuldig zuschauen?
Tunesien hat weder die Mittel noch die Pflicht, die Migranten aufzunehmen, zurückzunehmen und anzusiedeln.
Die Einbeziehung der Herkunfts- und Transitstaaten in die Suche nach einer globalen Lösung ist eine Notwendigkeit.
Flüchtlinge meiden Libyen und weichen nach Tunesien aus
Es ist illusorisch zu glauben, dass Europa die Rückführung dieser Migranten in Transitländer wie Libyen oder Tunesien anordnen kann. Diese beiden Länder haben weder die Mittel noch die Pflicht, diese Migranten in ihrem Hoheitsgebiet aufzunehmen und anzusiedeln. Darüber hinaus sollte man bedenken, dass diese Migranten einfach nicht in diesen Ländern bleiben wollen. Ihr ultimatives Ziel ist es, nach Europa zu gelangen, koste es, was es wolle, selbst wenn die Gefahr besteht, dass sie ertrinken. Aus denselben Gründen sind diese Länder nicht verpflichtet, Migranten aufzunehmen, die von Europa zurückgeschickt werden.
In Bezug auf Libyen stellt sich die Frage auf dramatische Weise anders, da Libyen zu einem gescheiterten Staat geworden ist. Es gibt keine Regierungs- oder Staatsstruktur mehr, die in der Lage wäre, die öffentliche Ordnung zu gewährleisten. Libyen ist seit zwölf Jahren dem Chaos und dem Bürgerkrieg ausgeliefert, nachdem Frankreich unter der Flagge der Nato militärisch interveniert hat. Libyen ist kein Transitland mehr für Migranten auf dem Weg nach Europa. Zahlreiche Milizen, Mafias aller Art und transmediterrane Schleusernetze begingen die schlimmsten Übergriffe gegen Migranten. Deshalb verzichten immer mehr Flüchtlinge darauf, den gefährlichen Weg via Libyen zu gehen und weichen in grosser Zahl auf Tunesien aus.
Man kann von Tunesien nicht verlangen, Flüchtlinge zurückzunehmen
Aber auch die Situation in Tunesien ist kompliziert. Zwar konnte sich das Land vor kurzem vom Einfluss des politischen Islam und seiner sprichwörtlichen Korruption teilweise befreien. Jetzt hat Tunesien mit dem schwierigen Kampf begonnen, diese vom politischen Islam geförderte Korruption auszumerzen oder zumindest zu reduzieren. Zudem war das Land von Terroranschlägen betroffen, die dem Tourismus, eine wichtige Quelle des Nationaleinkommens, schweren Schaden zugefügt hat.
Und wie überall auf der Welt litt auch Tunesien weitgehend unter den Folgen von Covid-19. Die tunesische Wirtschaft wurde ausgeblutet und die Auswirkungen des Krieges in der Ukraine auf die Nahrungsmittelversorgung verschlimmerten die Situation noch weiter.
Ist es vor diesem Hintergrund vernünftig, von Tunesien zu verlangen, Migranten aufzunehmen und zu behalten – Migranten, deren Zahl ständig wächst und die nicht in Tunesien bleiben wollen? Ist es vernünftig, dass Europa von Tunesien verlangt, als Grenzschutz zu fungieren und Migranten, die aus Europa zurückgeschickt werden, zurückzunehmen?
«Müllhalde» für Migranten
Auf Tunesien wird starker Druck ausgeübt, die Flüchtlinge wieder aufzunehmen. Seltsamerweise sind es die Propaganda und die Lobby des politischen Islam in Europa und den USA, die diesen Druck ausüben. Mit der Forderung, die Flüchtlinge zurückzunehmen, versucht der in Tunesien entmachtete politische Islam Unruhe zu schüren und eine Rückkehr an die Macht zu erreichen. Und Europa, das die Rückkehr der Flüchtlinge anstrebt, macht sich mitschuldig, Tunesien zu einer «Müllhalde» für Migranten zu machen.
Wir sollten unser Erstaunen darüber zum Ausdruck bringen, mit welchem Wohlwollen der Westen den «politischen Islam» und die Muslimbruderschaft beurteilt. Sie werden in manchen Kreisen als «Demokraten, die die Menschenrechte achten», dargestellt. Hat man Al-Kaida, den «Islamischen Staat», die Taliban und andere islamistische und terroristische Bewegungen vergessen? Es besteht kein fundamentaler Unterschied zwischen der Muslimbruderschaft und Al-Kaida. Beide haben die gleichen Überzeugungen. Die eine Organisation ist der politische, die andere der bewaffnete Arm. Man darf nicht vergessen, dass die tunesische (islamische) «Ennahda»-Regierung und ihr islamisch-politischer Theoretiker Ghanouchi mindestens 3000 junge Tunesier via die Türkei nach Syrien geschickt haben, um mit dem «Islamischen Staat» und Al-Kaida zu kämpfen.
68 Prozent der Tunesierinnen und Tunesier unterstützen laut einer Umfrage ihren im Westen verunglimpften Staatspräsidenten.
Der Präsident ist beliebt
Angesichts der kollektiven Verunglimpfungsstrategie («Mainstream Bashing») Tunesiens haben die Tunesier und Tunesierinnen gezeigt, dass sie mit der Politik des im Westen verunglimpften Präsidenten Saied im Einklang stehen. Ihre Unterstützung für seine Politik gründet sich auf die Tatsache, dass der Präsident der Korruption ernsthaft den Kampf angesagt hat und das Land vom Joch einer zehnjährigen islamistischen Herrschaft befreit hat. Im Westen sieht man nur die Bilder von Menschen, die gegen den Präsidenten protestieren. Doch dieser Präsident, ein ehemaliger Verfassungsrechtler, erfreut sich in Tunesien grosser Beliebtheit. In einer Umfrage des «Emhrod»-Instituts von Mitte Juni haben sich 68,7% der Befragten für ihn ausgesprochen. Der nächstfolgende Kandidat erhielt nur 8% der Stimmen.
Trotz mancher Unzulänglichkeiten, trotz der anfänglich politischen Unerfahrenheit des Präsidenten, die sich vor allem auch in wirtschaftlichen Fragen offenbarte, schätzt eine Mehrheit der Tunesier und Tunesierinnen die Integrität des Präsidenten, seine Geradlinigkeit und seine Hartnäckigkeit.
Nur die Schlepper profitieren
Was das Problem der illegalen Migration betrifft, so drängen nun die europäischen Länder, allen voran Italien, darauf, mit Tunesien eine einvernehmliche Lösung zu finden. Dazu wurde ein Verhandlungsprozess eingeleitet. Bereits ist ein zaghafter, aber realer Wandel in der Position der europäischen Regierungen zu beobachten. Die öffentliche Meinung in Europa beginnt langsam zu erkennen, dass die Ausübung eines unhaltbaren Drucks auf Tunesien eine Ursache für den Zusammenbruch des Landes sein könnte. Ein solcher Zusammenbruch liegt im Interesse von niemandem – ausser in dem der Schlepper.
Eine wirksame Kontrolle des Stroms irregulärer Migranten kann nur durch die Zusammenarbeit der Länder an den Ufern des Mittelmeers erreicht werden. Es handelt sich um ein transnationales Problem, das nur durch multilaterale Verhandlungen, die die Interessen aller betroffenen Länder berücksichtigen, gelöst werden kann. Wichtige Ansätze in diese Richtung sind bereits erkennbar. So war und ist denn die italienische Regierungschefin Giorgia Meloni sehr aktiv in dieser Angelegenheit. Sie warnt die europäischen Staaten vor einem Chaos in Tunesien und vor einer weiteren Verschlimmerung der Lage im benachbarten Libyen.
Aus strategischer Sicht wäre eine solche Entwicklung für Europa nicht nur in Bezug auf die Migration katastrophal. Sie würde auch die wirtschaftlichen und nachbarschaftlichen Beziehungen zu Tunesien gefährden. Es ist notwendig, dass Europa seine Analyse- und Handlungssoftware ändert. Diese Bemühungen scheinen Früchte zu tragen, vor allem nach mehreren hochrangigen Besuchen (z. B. von Ursula von der Leyen) in Tunesien.
Egoismus verschärft die Probleme nur
Die Idee einer internationalen Konferenz unter Einbezug der Herkunfts-, Transit- und Niederlassungsländer scheint sich durchzusetzen und wird möglicherweise vom Europäischen Rat Ende des Monats gebilligt. Parallel zu dieser Entwicklung ist das «Mainstream-Bashing» gegen Tunesien und seinen Präsidenten deutlich zurückgegangen. Verhandlungen zur Lösung dieses schwierigen und vielschichtigen Problems erfordern eine Atmosphäre der Solidarität und Koordination in gutem Glauben. Egoismus und Widrigkeiten werden die Probleme nur verschärfen und die Gefahren eskalieren lassen.
Zuerst sollten sich die Verhandlungen mit den Ursachen für die Abwanderung der Migranten aus ihren Heimatländern befassen. Folgen sollte eine entschlossene Bewertung der Herkunftsländer der Migranten. So könnten Projekte und Entwicklungspläne aufgegleist werden, die für alle von gegenseitigem Nutzen wären. Eine solche Massnahme würde sicherlich zu einem starken Rückgang der Migrationsströme führen und die Transitländer entlasten.
Ferner sollte geprüft werden, wie die Land- und Seegrenzen aller Staaten in koordinierten Aktionen einvernehmlich gesichert werden können. Ein solches Ziel wird sicherlich finanzielle und technologische Ressourcen sowie Schulungen und Informationsaustausch erfordern, um gegen Schlepper und Menschenhandelsmafias auf beiden Seiten des Mittelmeers vorzugehen. Ebenso müssen die humanitären Hilfs- und Rettungsbemühungen in gutem Glauben und effizient durchgeführt werden, wobei die in diesem Bereich tätigen NGOs, die viel Wissen und Know-how gesammelt haben, einbezogen werden müssen.
Alle müssen sich dieser Aufgabe stellen
Ein weiterer Schwerpunkt der Zusammenarbeit wäre es, die Migranten, die in Tunesien ankommen, bereits an der Grenze auszusortieren und ihren Status zu bestimmen. Einige dieser Menschen benötigen möglicherweise besonderen Schutz. Darunter fallen verfolgte Flüchtlinge oder Menschen, die vor Gewalt und Krieg fliehen. Diese Arbeit kann in Koordination zwischen staatlichen Organen und internationalen Organisationen (UNHCR, IOM, Unicef usw.) durchgeführt werden. Diese internationalen Organisationen verfügen über das notwendige operative und institutionelle Fachwissen. Sie werden diese Arbeit in Übereinstimmung mit den einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen sowie im Rahmen der Abkommen zwischen den betroffenen Staaten durchführen.
Jene Migranten, die in Europa oder anderswo akzeptiert werden, sollten sicher in die Aufnahmeländer geleitet werden. Wenn die Migranten es vorziehen, in dem Territorialstaat, in dem sie sich befinden, zu bleiben, kann der betreffende Staat ihnen dieses Recht gewähren, wenn sie die erforderlichen Kriterien erfüllen. Die übrigen Migranten müssen in ihre Herkunftsländer zurückgeführt werden. Diese müssen zuvor eine menschenwürdige Rückübernahme und eine wirtschaftliche und soziale Integration sicherstellen. Eine solche soll im Rahmen von Projekten zur wirtschaftlichen Entwicklung erfolgen, die gemeinsam von den Herkunftsländern und den europäischen Ländern oder internationalen Entwicklungsagenturen konzipiert und finanziert wird.
Dieser gesamte Prozess muss im Rahmen von Vorbereitungen und anschliessenden internationalen Konferenzen und Treffen ausgehandelt werden. Es versteht sich von selbst, dass diese Abkommen auch über die Budgets und die Finanzierung solcher Auffang- und Sortiermassnahmen bei der Ankunft der Migranten an den Land- oder Seegrenzen entscheiden müssen. Die hohe Dringlichkeit dieser Treffen und Konferenzen steht ausser Frage, und sie sind der einzige realistische und notwendige Weg, um die Schärfe der Krise zu überwinden und ihr Wiederauftreten zu verhindern.
Die in diesem Artikel vorgeschlagenen Denk- und Handlungsansätze sind weder revolutionär noch utopisch. Sie wurden weitgehend analysiert, konzipiert und teilweise von einigen Staaten und internationalen Organisationen umgesetzt. Um die gegenwärtige dramatische Krise zu bewältigen, ist eine koordinierte Zusammenarbeit, die aufrichtig vom politischen Willen getragen wird, dringend erforderlich. Alle beteiligten Staaten müssen sich dieser Aufgabe stellen und ihre jeweilige öffentliche Meinung über diese Notwendigkeit und Dringlichkeit aufklären.
(Übersetzung aus dem Französischen von hh)