Wer diese Phasen durchlaufen hat, ist ein echter Philosoph. Er hat erfasst, dass Philosophie eine Beschäftigung mit dem Absurden ist. Dazu muss man eine ganz besondere Erfahrung machen. Sie ist allen zugänglich.
Triviale Absurditätserfahrung
Es gibt die triviale Absurditätserfahrung. Erwartung und Realität, Wunsch und Wunscherfüllung, Mittel und Zweck klaffen auseinander. Das hat oft den Zug des Grotesk-Lachhaften. Ein Künstler erhält ein Stipendium für einen Halbjahresaufenthalt in New York. Am Ende präsentiert er ein Filmchen, das ihn schlafend zeigt. Lazarus Schwitter in Dürrenmatts „Meteor“ sieht keinen Sinn im Leben und überlebt alle seine Bekannten. Der russische Nobelpreisträger für Medizin Elias Metschnikoff war ein abgrundtiefer Pessimist, schrieb aber ein Buch mit dem Titel „Beiträge zu einer optimistischen Weltauffassung“.
Zur trivialen Absurditätserfahrung gehören im Besonderen Tretmühlen des Alltags, die durch ihre unaufhörliche Monotonie allen Sinn aus den Tätigkeiten waschen. Kaum ein anderer Schriftsteller des 20. Jahrhunderts hat das absurde Immergleiche der modernen Existenz zirkusnummernhafter beschreiben als Samuel Beckett. In seinem Roman „Watt“ tritt der Diener Watt seinen Dienst im Hause Knott an, und er muss vom abtretenden Vorgänger eine Suada der Absurdität über sich ergehen lassen:
„Dienstags fühlt man sich flau, der Mittwoch ist verrucht, donnerstags ist alles grau, der Freitag wird verflucht, samstags säuft man sich blau, der Sonntag wird verpennt, der Montag ist mau, der Montag ist mau (...) und natürlich der Schnee und selbstverständlich der Hagel und alle vier Jahre das Februardebakel und die endlosen Aprilschauer und die Krokusse und dann die ganze miese Geschichte, die wieder von neuem losgeht. Ein Scheissdreck. Und wenn ich alles wieder von neuem beginnen könnte, mit dem Wissen, das ich dann haben würde, würde das Ergebnis das gleiche sein. Und wenn ich hundertmal alles wieder von neuem beginnen könnte, jedesmal mit etwas mehr Wissen als zuvor, würde das Ergebnis immer das gleiche sein, das hundertste Leben wie das erste, und die hundert Leben wie eins. Ein Durchfall.“
War’s das?
Stumpft uns die Absurditätserfahrung der Monotonie ab, so zerreisst eine andere erratische Erfahrung unser Leben. Wir rackern uns ab im Beruf, und eines lichten Tages überfällt uns die Frage von aussen: War’s das? Wir leben ein Leben in solider ehelicher Solidarität und bei einem kommunen Abendessen setzt sich die Frage an den Tisch: Was ist aus unserem Zusammenleben eigentlich geworden? Die Frage bringt unseren Normalkurs ins Schlingern, wir geraten in die Turbulenz von Widersprüchen, Paradoxien, Aporien. Strömungsabriss im Leben. F. Scott Fitzgerald beschreibt dies in seinem autobiographischen Essay „Der Knacks“ sehr treffend: „Der Prüfstein für eine erstrangige Intelligenz ist die Fähigkeit, zwei entgegengesetzte Ideen zugleich im Kopf zu haben und doch weiter in Funktion zu bleiben.“ Die beiden Ideen, die er in seinem Kopf trug, waren jene der Flüchtigkeit und jene der Notwendigkeit aller Anstrengung. Wie kann man an einem Werk arbeiten mit der Vergeblichkeit dieser Arbeit im Hinterkopf? Die klassisch-absurde Situation. Es hat keinen Sinn, weiterzumachen, ergo macht man weiter. Fitzgerald beklagte sich, dass er nicht die „Erstklass-Intelligenz“ besitze, diesen Widerspruch auszuhalten.
Philosophische Absurditätserfahrung
Søren Kierkegaard soll einmal auf einer Party zusammengebrochen sein. Als man ihm helfen wollte, wieder auf die Beine zu kommen, wehrte er ab: „Lasst doch nur, das Dienstmädchen wird mich morgen aufwischen.“
Worin besteht die philosophische Absurdität? Zugleich Mensch und Partydreck zu sein. Das heisst, man macht die ganz spezifische Erfahrung einer fundamental unauflöslichen Spannung zwischen der Sicht „innerhalb“ der Welt – vom Standpunkt meiner persönlichen Existenz aus – und der Sicht „ausserhalb“ der Welt – von einem total unpersönlichen Standpunkt aus. Kurz, zwischen dem Blick von innen und dem Blick von aussen. Das Gefühl der Absurdität beruht gewissermassen auf der Instabilität beider Standpunkte. Bloss die erste Perspektive einzunehmen, würde aus uns Egozentriker, Soziopathen oder Solipsisten machen. Unsere Handlungen würden nur eine Innenansicht aufweisen, was sie einer Wertschätzung entzöge, die ja immer auf eine Ansicht „von aussen“ abstellt. Bloss die zweite Perspektive einzunehmen, liefe auf eine völlig entfremdende, verdinglichende, nihilistische Perspektive hinaus, in der unsere Handlungen als blosse Ereignisse in einem sinnlosen Universum erschienen.
Der Blick von nirgendwo
Der Philosoph Thomas Nagel hat den Blick von aussen den „Blick von nirgendwo“ genannt. Nicht nur Philosophen, wir Menschen oszillieren zwischen diesem Blick und der persönlichen Perspektive. Wie Nagel schreibt: „Die Menschen verfügen über die besondere Gabe, einen Schritt beiseite zu treten und aus dieser Distanz sich selbst und ihren Lebensweg mit dem gleichen Staunen zu betrachten, mit dem sie den hindernisreichen Weg einer Ameise durch den Sand verfolgen.“ Wenn wir vom Sinn des Lebens sprechen, dann meinen wir die persönliche Perspektive „von innen“: Grümpelturniersieger oder Dorfschönheitskönigin zu werden, die Fermatsche Vermutung zu beweisen oder den genetischen Code zu knacken, ein guter Lehrer oder Vater zu sein, der freien Marktwirtschaft in Tadschikistan zum Durchbruch zu verhelfen, für die Menschenrechte zu kämpfen oder Artikel zu schreiben, die wenigstens zwei Leser verstehen. In der Perspektive des Blicks „von aussen“ erscheint uns all dies – als wären wir quasi aus uns heraus getreten – als weit entfernt, fremd, emotional abgelöst. Nichts ergibt mehr einen Sinn.
Beide Haltungen sind philosophisch extrem unfruchtbar. Sie verrennen sich in egomanischer Isolation oder kosmischer Depression – Formen intellektuellen Berserkertums. Aber es handelt sich ja bloss um Pole eines ganzen Spektrums, auf dem wir uns bewegen können – jede Person auf ihre eigene Weise. In gewissem Sinn liegt das Besondere des Absurden darin, dass ich mich aus einer externen Perspektive betrachten kann, ohne aufzuhören, ich zu sein. Dieses nichtige Partikel in dieser unermesslichen Raumzeit: das bin ja ich!
Die zärtliche Gleichgültigkeit der Welt
Camus’ Sisyphus erfährt die Absurdität der Welt als glückliche Einsicht. Zumindest die Figur des Meursault tut dies in „Der Fremde“. In der Todeszelle, nachdem er die Tröstungsversuche des Gefängnisgeistlichen mit einer Wutsuada übergossen hat, ergreift Meursault ein tiefer kathartischer Frieden: „Als hätte dieser grosse Zorn mich von allem Übel gereinigt und mir alle Hoffnung genommen, wurde ich angesichts dieser Nacht voller Zeichen und Sterne zum ersten Mal empfänglich für die zärtliche Gleichgültigkeit der Welt.“ In Camus’ Augen schafft es die Welt nicht, unser Bedürfnis nach Sinn zu befriedigen. Aber das Problem ist nicht die Welt, sondern die unausräumbare Spannung in uns zwischen der internen und der externen Perspektive. Wir sind quasi ins Absurde geworfen. Und dagegen zu rebellieren, heisst, wie anfangs gesagt, philosophieren.
Auf der höchsten Stufe der Absurdität „Du bist der Welt egal“ gibt es eine einfache Reaktion: Das ist mir völlig egal! – Dieses Egal-sein hat nun aber ein philosophisches, ein absurdistisches Aroma. Man beginnt sich in diesem trotzigen Ruf neu zu entdecken. Ja, dieses Prinzip richtet einen geradezu auf. Und man kehrt ins Alltagsleben zurück, für das Absurde gerüstet, buchstäblich aufgestellt und am wichtigsten: jetzt mit Grund lachend.