„Paul Nizon – Der Nagel im Kopf“ ist der Titel einer trefflichen Hommage an den Schweizer Schriftsteller Paul Nizon, der im Dezember 2019 seinen 90. Geburtstag feierte. Realisiert hat sie der Dokumentarfilmer Christoph Kühn (*1955), dessen Werk einige Prominentenporträts umfasst. So über die Avantgarde-Künstlerin Sophie Taeuber-Arp, den Dichter Friedrich Glauser oder den Menschenrechtsaktivisten Bruno Manser.
Für Paul Nizon interessiert sich Christoph Kühn seit seiner Studienzeit. Mitte der 1970er-Jahre begegnete er Nizon an der Universität, wo dieser über sein Essay „Diskurs in der Enge“ sprach. Ein Text, der im Zug der 1968er-Revolte auch in der Schweiz die Gemüter erhitzte, die Meinungen polarisierte. Nizon setzte seine stupende Spracheleganz ein, um gegen das weitherum in die Kritik geratene Behäbige im freundeidgenössisch Schweizerischen anzuschreiben. Wo die meisten im Literarischen ideologisch herumpolitisierten, setzte Nizon auf die Sprengkraft der individuellen Freigeistigkeit. Was vielen nicht gefiel – den aufgeschreckten Bewahrern des vermeintlich noch immer zu Bewahrenden ebenso wenig wie den dogmatisch fixierten Revoluzzern.
„Das Leben ist ein unglaubliches Chaos, nie eine Geschichte“
„Meine Literatur“, sagt Nizon, „gehört nicht nur zum Existenzialismus, sie ist eher eine Existenz-Literatur.“ Das imponierte seinerzeit beispielsweise dem Verfasser dieser Zeilen, der sich gerade die Sporen als Feuilletonist abverdiente. Und wie erwähnt auch dem etwas jüngeren Christoph Kühn, der nun, einige Jahrzehnte später, dem von einer faszinierenden, wie aus der Zeit gefallenen Empathie-Patina umflorten Paul Nizon ein würdiges Filmessay widmet.
Da haben sich offensichtlich zwei gefunden, die etwas Besonderes kreieren. Nicht zuletzt die Umsetzung eines Nizon-Leitmotivs, das da lautet: „Das Leben ist ein unglaubliches Chaos, nie eine Geschichte.“ Und schon gar keine linear erzählbare oder abgeschlossene. Klug also, dass Christoph Kühn in „Paul Nizon – Der Nagel im Kopf“ nicht darauf aus war, buchhalterisch die Nizon-Biografie-Chronologie nachzubeten, sondern seinem Idol filmisch nahezukommen.
Dennoch ein paar Eckdaten zu Paul Nizon. Er wird 1929 als Sohn einer Bernerin und eines aus Russland eingewanderten Chemikers geboren. Der Vater stirbt schwerkrank, als Paul zwölf Jahre alt ist. Er wächst in einem bürgerlichen Frauenhaushalt auf, mit einer Grossmutter, die er liebt. Mit der Mama, die er als „ein ewiges Kind“ bezeichnet, der Schwester sowie einer Tante aus Paris. Im Film ist auch vom Hausdiener Werner die Rede, der ihm imponiert und das einzige weitere männliche Wesen im Haushalt ist. Sich selber sieht Nizon retrospektiv im Kindesalter als Aussenseiter, langhaarig, prinzartig.
„Keine Freizeit mehr im Leben des Schriftstellers“
Nach der Matura studiert Nizon unter anderem Kunstgeschichte, doktoriert über Vincent van Gogh, wird Feuilletonist. Das Jahr 1960 verlebt er (im Sinne des Wortes) als Stipendiat in Rom, wo er befeuert wird von jenem Lebensgefühl, das Federico Fellinis Film „La Dolce Vita“ vermittelt. 1961 wird Nizon zum „leitenden Kunstkritiker“ der Neuen Zürcher Zeitung. Und es reift in ihm der der Wunsch, Schriftsteller zu werden. 1963 erscheint der Roman „Canto“, „ein schnellgeschriebenes und neutönerisches Vater-Buch“, wie Nizon sagt, verfasst von einem, der erlebt hat, was es heisst, früh keinen Vater um sich zu wissen.
Paul Nizon war dreimal verheiratet, ist Vater von vier Kindern. Sehr jung gründete er eine Familie und erkannte, dass sich diese Rolle mit seinen Schriftsteller-Ambitionen kaum vereinbaren lassen würde: Es gibt „keine Freizeit mehr im Leben des Schriftstellers“, ist im Film zu vernehmen, und auch das: „Künstler sollten keine Familie haben.“
1975 erscheint sein Roman „Stolz“, der vom tragisch endenden Dasein eines jungen Erwachsenen erzählt, der nach dem Schulabschluss erkennt, dass er sich weder am Leben mit anderen zusammen beteiligen kann noch in der Lage ist, eine Beziehung zu führen. Es beginnt eine schwierige Zeit. Nizon hat das „kleine unterwürfige Zürcher Leben“ mit den Begegnungsrunden in der Limmatstadt satt, im „Schriftsteller-Wohnzimmer, wo man sich dauernd über den Weg läuft“. Und er erkennt für sich: „Keine Gesellschaft ist weniger solidarisch als die der Künstler, jeder ist der Todfeind des andern.“
„Das Leben ist zu verlieren oder zu gewinnen“
Ein Paul-Nizon-Bonmot lautet: „Das Leben ist zu verlieren oder zu gewinnen.“ 1977 setzt der 48-jährige Autor auf ein neues Gewinnspiel. Unter Zurücklassung der Familie geht er ins Exil, nach Paris, in die übergrosse Metropole, diesen Schmelztiegel von fast allem. Ohne einen fixen Plan, aber hungrig auf das, was er erleben, ausleben will. Er wird zum „Stadtvaganten“, zum „Vorbeistationierer“, zum Surfer auch im labyrinthischen Metro-Netz, diesem unvergleichlichen Aufenthaltsraum, der damals noch mehr als heute durchklungen ist von Weltmusik-Fetzen und erfüllt von tausend Düften. Nizon: „Ich hatte ein Gleichheitserlebnis, alle waren einen kurzen Zeitraum zusammen, alle waren Passagier, das war eine Wohltat.“
In Paris habe er zudem zwei ganz wesentliche Dinge gefunden: „Die Freiheit zum Schreiben und die ‚Maisons des Rendez-vous‘ mit ihren diversen Zugängen zur Unter- und Halbwelt auf der Basis eines erotischen Fluidums.“ Die bewegte erste Pariser-Zeit wird für Nizon zur Erfüllung und ist das Stimulans für einen seiner grossen Romane, in dem es direkt und indirekt auch um die emotionale Berg- und Talfahrt seiner komplexen Liebesbeziehung zur 26 Jahre jüngeren Marie-Odile Roquet geht: „Das Jahr der Liebe“ (1981).
Und es war dieses Buch, das für Regisseur und Drehbuchautor Christoph Kühn wohl die Initialzündung war für seinen Nizon-Porträtfilm, den er zu dessen 90. Geburtstag im Dezember 2019 fertigstellte. Er wurde im Beisein von Paul Nizon an den Solothurner Filmtagen 2020 uraufgeführt und kommt nun ins Kino.
„Ich bin hier zu dem geworden, als der ich gemeint bin“
Christoph Kühn hat für die Dreharbeiten seinen Protagonisten folgerichtig in Paris getroffen, in der Stadt, von der Nizon sagt: „Ich bin hier zu dem geworden, als der ich gemeint bin.“ Im Herzen der französischen Kulturszene wird er verehrt – fast noch mehr als im deutschsprachigen Raum: Das Leitblatt „Le Monde“ hat ihn schliesslich schon 1990 zum „le plus grand magicien actuel de la langue allemande“ erkoren.
Paris ist also Nizon-Territorium und Christoph Kühn hat es geschafft, für den gegenüber Medien nicht unbedingt als handzahm bekannten Romancier eine massgeschneiderte Ambiance zu kreieren. Sie erlaubt es ihm, der zu sein, der er sein will. So präsentiert sich Paul Nizon bar aller Altersgrummeligkeit in heiterer, aufgeräumter Stimmung. Und es ist ein Vergnügen, dabei zu sein, wenn Nizon in Fotoalben blättert, launige Kommentare abgibt, sich selber interessiert zuschaut, wenn ihm Kühn Archivaufnahmen vorspielt von Lesungen oder Interviews.
Nizon weiss genau, wie er das Publikum mit seiner wildkatzenartigen Schmeichelstimme packen und mit seiner stupenden Eloquenz fesseln kann. Es reiht sich Bonmot an Bonmot, und auch schon Gelesenes und Gehörtes hat die Anmutung des eben gerade Erfundenen. Wer Paul Nizons Sprachartistik kennt und schätzt, wird darüber nicht erstaunt sein. Es könnte aber eventuell auch einem wachen jüngeren Publikum auffallen, gefallen und Interesse wecken für einen reifen Autor, der Ernst macht mit seinem Anspruch: „Basis meiner Literatur ist das eigene gelebte Leben.“
Unbescheidenheit als Zier
Impressionen dazu werden in „Paul Nizon – Der Nagel im Kopf“ ins bewegte Bild transponiert. So begleitet man Monsieur Nizon beispielsweise beim Einkaufen auf dem Gemüsemarkt, sieht ihn als Flaneur unweit von Notre-Dame, lauscht aufmerksam, wenn er etwa von einem Clochard berichtet, den er einst längere Zeit beobachtete. Einen Kerl ohne Flasche in der Hand, offenbar kein Säufer, dafür immer den Rucksack umgehängt, ständig in Bewegung, ein rastlos Suchender, ein scharfer Beobachter.
Die Schilderung endet dann mit einer feinen Pointe, die durch ein reizvolles Detail des Kühn’schen Filmkonzepts aufgewertet wird: Sie ist nämlich ins Dokumentarfilmische hineinkomponiert, wird von einem Schauspieler nachgestellt, ganz ohne Gestelztheit. Kühn hat also auch im Detail das richtige Mass gefunden. Er weiss fiktionale Elemente so in Szene zu setzen, dass sie Nizons geschriebene und gesprochene Sprache ins Filmische übersetzen, sie erweitern und aufwerten. Daran hat übrigens der Kameravirtuose Stéphane Kuthy wesentlichen Anteil.
„Paul Nizon – Der Nagel im Kopf“ ist ein sinnhafter Porträtfilm mit einem – wie erwartet – sehr selbstbewussten Protagonisten, der einen Schmunzeln macht. Etwa dort, wo er zur Larousse-Enzyklopädie Ausgabe 2008 greift, wo er als Schriftsteller in den exklusiven Kreis der wichtigen Persönlichkeiten aufgenommen wurde. Nizon blättert im Band und erwähnt: „Von der deutschen Literatur sind ganz wenige Namen … Canetti, Grass, Frisch, Dürrenmatt … ganz wenige.“ Und weiter, dass sein Name unter N zu finden sei, in unmittelbarer Nähe von Nietzsche. Da mischt sich berechtigter Stolz mit einer Prise Unbescheidenheit, die bei Paul Nizon allerdings fast immer zur Zier wird.
„Je suis une pompe d’essence“
Der Filmtitel „Der Nagel im Kopf“ verweist übrigens auf ein unvollendetes Buchprojekt von Paul Nizon, das ihn seit zwölf Jahren beschäftigt – und seit längerem stagniert. Warum? Weil, so der Autor, es „mir unter der Hand weggestorben ist, was mir noch nie passiert ist, das letzte aufgegebene Projekt.“ Aufgegebenes Projekt? Mag sein, muss aber nicht: Denn Paul Nizon fügt natürlich in dieser feinen, verführerischen, würdigen Filmhommage auch noch einen kokett-hintergründigen Gedankenblitz hinzu: „Je suis une pompe d’essence – aber nur für den willigen Leser.“
Paul Nizon – Der Nagel im Kopf, Dokumentarfilm von Christoph Kühn, Schweiz 2020, Kinostart: 10. September