Der «argentinische Donald Trump», der «argentinische Jair Bolsonaro», der «argentinische Steve Bannon»: Mit diesen Worten wird der rechtsextreme, libertäre, cholerische Javier Milei bezeichnet, der jetzt die argentinische Präsidentschaftswahl gewonnen hat.
Die Wählerinnen und Wähler hatten am Sonntag die Wahl zwischen zwei Übeln: Sie haben das grössere Übel gewählt.
«Argentinien ist seit 50 Jahren eine makroökonomische und soziale Katastrophe», erklärt Carlos Gervasoni, ein argentinischer Politikwissenschaftler der «Universidad Torcuato Di Tella» in Buenos Aires.
Seit Jahren rutscht die drittgrösste lateinamerikanische Volkswirtschaft immer tiefer ins Desaster. Die Staatsverschuldung im einst blühenden Land am Rio de la Plata hat die 400-Milliarden-Grenze überschritten. Die Inflation erreichte im Oktober einen neuen Rekordwert: 143,3 Prozent. 40 Prozent der Bevölkerung gelten als arm.
Immer mehr Menschen in Argentinien glauben den Versprechungen der regierenden Politkaste nicht mehr. Viele verlangen einen radikalen Neuanfang; einen Bruch. Und einen solchen stellte der selbsternannte Anarcho-Kapitalist Javier Milei in Aussicht. Sein Konzept sei zwar «fragwürdig, dubios und halsbrecherisch», doch «schlimmer kann es nicht kommen», sagt eine junge Argentinierin in einer TV-Diskussionssendung. «Also versuchen wir es mit ihm.» Viele nennen ihn «El loco» – den Verrückten.
Abenteuerliches Programm
Auf den 56-jährigen «Trumpianer» Milei entfielen nach Auszählung von rund 90 Prozent der Stimmen etwa 55 Prozent. Die Stichwahl an diesem Sonntag war nötig, weil im ersten Wahlgang am 22. Oktober keiner der Kandidaten das absolute Mehr erreicht hat. Der unterlegene Sergio Massa hat seine Niederlage eingestanden und Milei gratuliert.
Javier Milei, ein Showman erster Güte, war es, der den Wahlkampf dominierte und auch die internationalen Medien auf Trab brachte. Sein Programm ist tatsächlich abenteuerlich. Er ist stolz darauf, wenn man ihn als «ultrarechten Haudegen» bezeichnet. Der Staat soll nach seinem Willen radikal amputiert werden und nur noch für die Sicherheit und die Justiz zuständig sein. Sozialprogramme für die Bevölkerung sollen abgeschafft werden, obwohl fast die Hälfte der Argentinierinnen und Argentinier ohne sie nicht überleben könnte. Die Zentralbank müsse abgeschafft, «mit Dynamit gesprengt» werden. Die argentinische Währung, den Peso, will er durch den Dollar ersetzen. Jedem und jeder sei erlaubt, eine Waffe zu tragen. Das Bildungssystem soll möglichst privatisiert werden.
Ein Polterer in populistischer Manier
Nicht genug: Der Verkauf und der Konsum von Drogen soll nach seiner Vorstellung legalisiert werden. Er spricht sich für die gleichgeschlechtliche Ehe und die «freie Liebe» aus. Abtreibungen lehnt er ab. Die Frauen bräuchten keinen speziellen Schutz. Das Frauenministerium sei überflüssig und gehöre abgeschafft. Und natürlich ist der Klimawandel «eine Erfindung der Linken» und eine «Lüge des Sozialismus». Die Verbrechen der argentinischen Militärdiktatur (1976–1983) verharmlost er.
Die politische Kaste bezeichnet er als «parasitär und korrupt», die mit «Haut und Haaren ausgerottet» werden müsse. In verschiedenen TV-Talkshows war er ein gern gesehener Dauergast. Er polterte in populistischer Manier gegen das «Establishment» und entwickelte sich so zum Politstar. Sein Kampf gegen «das System», gegen «die da oben», gegen «die Elite» hat gemäss Erhebungen vor allem bei Jüngeren verfangen. Oft sprach er wutentbrannt zu seinem Publikum.
Milei ist ein erklärter Bewunderer von Donald Trump. Unter anderem pflegt er enge Kontakte zur rechtsextremen spanischen Vox-Partei. Unterstützung hatte er vom umstrittenen konservativen früheren Präsidenten Mauricio Macri erhalten, der das Land von 2015 bis 2019 hilflos regierte. Auch die einst linksrevolutionäre und später neoliberale Patricia Bullrich mit ihrem konservativen Bündnis «Juntos por el Cambio» (Gemeinsam für den Wechsel) schlug sich auf die Seite von Milei. Sie hatte im ersten Wahlgang den dritten Platz erreicht und schied damit für die jetzige Stichwahl aus. Ihre Unterstützung hat wesentlich zu Mileis Sieg beigetragen.
Teil der «Elite»
Mileis Gegenkandidat war der bisherige Wirtschaftsminister Sergio Massa. Er war für das sogenannt progressive peronistisch geführte Bündnis «Unión por la Patria» angetreten.
Sein Handicap war, dass er als «Peronist» und als Teil der «Elite» gilt. Die von Juan Perón in den Vierzigerjahren gegründete populistische peronistische Bewegung dominierte das Land insgesamt 45 Jahre lang und gilt inzwischen als völlig abgewirtschaftet, schamlos und korrumpiert.
Massa galt ursprünglich als Zögling der peronistischen Präsidentenfamilie Kirchner. Néstor Kirchner war von 2003 bis zu seinem Tod 2007 Präsident Argentiniens. Seine Frau, Cristina Fernández de Kirchner, folgte ihm und stand dem Land von 2007 bis 2015 als Präsidentin vor. Ab 2019 war sie Vizepräsidentin unter Alberto Ángel Fernández. Die Kirchners gelten als Inkarnation von Korruption und Arroganz. Vor einem Jahr wurde Cristina Fernández de Kirchner in einem Korruptionsprozess in erster Instanz zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt. Und Massa arbeitete eng mit ihr zusammen. Ausgerechnet er also, der für das Wirtschaftsdesaster im Land mitverantwortlich ist, sollte es nun richten und das Land retten? Das nahmen ihm viele nicht ab.
«Schamlos» Staatsgelder ausgeschüttet
Zwar wandte sich Massa mehrmals von den Kirchners ab, fand in jüngster Zeit aber wieder in den peronistischen Schoss zurück. Politisch und ideologisch kann er als prowestlicher «Liberaler» bezeichnet werden, der allerdings auf seiner Karriere-Leiter das Hemd immer wieder wechselte.
Der Boulevard bezeichnete Massa als den «smarten Sergio». Für einige ist er etwas allzu «smart», vor allem wenn es um seine Karriere ging. Sein Vater stammt aus Sizilien, seine Mutter aus Triest. Der Politikwissenschaftler Carlos Gervasoni warf ihm vor, im Wahlkampf «offen und schamlos» Staatsgelder für seinen Werbefeldzug eingesetzt zu haben. Er tat das, was Populisten vor den Wahlen zu tun pflegen: Er überschüttete Angestellte, Arbeiter und Pensionierte mit Einmalzahlungen. Ein Konzept, wie er die Wirtschaft sanieren wollte, legte er nicht vor. Er konzentrierte sich vor allem darauf, die Wählerinnen und Wähler vor Milei zu warnen und ihnen Angst einzujagen.
Im Wahlkampf wurde Massa dafür verantwortlich gemacht, dass er die Inflation nicht drücken konnte. Zu seiner Verteidigung könnte man sagen, dass er erst seit 15 Monaten Wirtschaftsminister ist. In einer solch kurzen Zeit ist eine grundlegende Neuausrichtung der Wirtschaftspolitik wohl nicht möglich. Andererseits: Sein Einfluss auf die bisherige Regierung ist seit Jahren so gross, dass er durchaus für das jetzige Desaster mitverantwortlich gemacht werden kann.
Aufs Glatteis geführt
In den letzten Tagen vor der Stichwahl schöpfte Massa wieder Hoffnung. Anlass dazu gab ihm das Fernsehduell, das am Sonntag vor einer Woche in der Universität von Buenos Aires stattgefunden hatte und von 14 TV-Stationen live übertragen wurde. Fast die Hälfte der argentinischen Wählerschaft sass vor dem Bildschirm. Massa trat gut vorbereitet, kompetent, fast schon staatsmännisch auf. Obwohl sein Gegenspieler Milei ein ausgebildeter Ökonom ist, liess er sich in Wirtschaftsfragen immer wieder aufs Glatteis und in die Defensive führen. Die spanische Zeitung «El País» schrieb, ein «blasser Milei» habe sich in die Ecke drängen lassen.
Doch trotz verlorenem Fernsehduell: Die Verzweiflung der argentinischen Bevölkerung ist so gross, dass die Bevölkerung es mit dem fauchenden, rebellischen, unerfahrenen Milei versuchen will.
Wie sein Vorbild Trump
Der 41-wöchige Wahlkampf hatte in den letzten Tagen aggressive Züge angenommen. Laut Medienberichten habe eine Gruppe junger Menschen ein Attentat auf Massa geplant. In der nordargentinischen Stadt Salta wurde eine 18-Jährige festgenommen.
Milei hatte durchblicken, dass er – wie sein Vorbild Trump – eine Niederlage nicht akzeptieren würde. Er sprach davon, dass Massa die Wahlurnen manipulieren könnte und einen «kolossalen Wahlbetrug» vorbereite. Kurz vor der Wahl zog Milei dann allerdings diesen Vorwurf zurück.
Während Sergio Massa sich in den letzten Tagen eher zurückhielt, liess der Showman Milei keine Gelegenheit aus, um sich in Szene zu setzen. 48 Stunden vor der Stichwahl besuchte er mit seiner Lebensgefährtin und Schauspielerin Fátima Florez das legendäre «Teatro Colón» in Buenos Aires, um Madame Butterfly zu sehen.
Das Paar betrat das Theater erst in der Pause des Stücks, um von allen gesehen zu werden. Die einen im Publikum klatschten, andere zischten laut, pfiffen und buhten Milei aus.
Nicht so heiss gegessen
Und jetzt? Wird Präsident Milei den argentinischen Peso abwerten, wird er ihn durch den Dollar ersetzen? Wird er die Nationalbank «mit Dynamit» sprengen»? Wird er die Sozialleistungen abschaffen und damit Millionen ins Elend stürzen?
Analysten sagen, dass vieles, was er lauthals angekündigt hat, wohl nicht so heiss gegessen wird, wie es angerichtet wurde. Vor allem gibt es da auch noch das argentinische Parlament, in dem Mileis Anhänger in der Minderheit sind. Einige Beobachter weisen darauf hin, dass der jetzige Präsident seine scharfe Rhetorik in jüngster Zeit etwas gezügelt hat.
Die wichtigste Frage ist: Gelingt es ihm, die Wirtschaft mit ihrer astronomischen Inflation und ihrem ebenso astronomischen Schuldenberg endlich zu sanieren? Nur wenige trauen ihm das zu. Und die 40 Prozent Armen?
Aussenpolitisch hat Milei seinem Gegenspieler Massa vorgeworfen, vor dem Kreml-Chef in die Knie gegangen zu sein. Massa hatte zunächst erklärt, die russische Invasion in der Ukraine bedrohe «nicht nur das ukrainische Volk, sondern die ganze Welt». Im August jedoch hatten die Brics-Staaten an ihrem Gipfeltreffen in Johannesburg neben anderen auch Argentinien als neues Brics-Mitglied aufgenommen. Seither schlug Massa gegenüber dem Brics-Staat Russland plötzlich weniger harsche Töne an.
Demgegenüber erklärte Milei, er verhandle nicht mit Verbrechern, weder in Russland noch in China noch in Iran. Israel hingegen kann voll auf Milei zählen. Seit langem hat er «Israels Recht zur Selbstverteidigung» hochgehalten und seine Affinität zum Judentum betont. Den islamischen Terror verurteilt er scharf.
«Weder die Reife, noch die Statur, noch die Erfahrung»
Was jetzt auf Argentinien zukommt, weiss niemand. Der argentinische Staatsapparat ist aufgebläht. Bis weit in die Regierung, die Verwaltung, die Armee und in die Politik hinein herrschen mafiöse Zustände: Eine Hand wäscht die andere.
Die meisten Analysten glauben nicht, dass es Milei gelingen wird, eine konstruktive Politik zu verwirklichen. Beobachter erklärten nach dem TV-Duell, Milei habe «weder die Reife, noch die Statur, noch die Erfahrung», die ein Präsident haben sollte.
Und der Politikwissenschaftler Juan Negri von der Universität Torcuato di Tella sagt: «Ich bezweifle, dass Javier Milei seine Amtszeit zu Ende bringen kann.»