Zum 100. Geburtstag von Saul Leiter ist eine Retrospektive erschienen. Seine Bilder haben bis heute eine Magie, die den Betrachter unmittelbar einfängt. Man staunt. Und man blättert den Band wieder und wieder durch.
Es ist kaum möglich, für die Kunst von Saul Leiter die wirklich passenden Worte zu finden. Jedenfalls, wenn es darum geht, die Wucht zu beschreiben, die von vielen seiner Bilder ausgeht. Seine Fotografien wirken so, als habe er die Fotografie schon weit hinter sich gelassen und benutze die Kamera eher wie ein Malinstrument, das ihm in geradezu magischer Weise zur Verfügung steht. Er sieht Verborgenes und macht es sichtbar, nicht im Sinne von verborgenen Dingen, die er ans Licht holt, sondern im Sinne von überraschenden Konstellationen oder Beziehungen, für die er einen begnadeten Blick hat.
Andere Künstler sind dem auch auf der Spur, aber es bedarf häufig eines grossen Aufwandes an Interpretation, um das, was sie meinen, zu verstehen. Bei Saul Leiter ist das völlig anders. Die Bilder springen den Betrachter geradezu an. Der Betrachter wird von ihnen überwältigt. Er will keine Erklärung, keine Interpretation. Die Bilder sprechen zu ihm unmittelbar. Es entsteht eine geradezu intime Beziehung. Er ist wie in einem Zauber gefangen.
Bei Saul Leiter verbinden sich Genie und Kompromisslosigkeit. Für die «Retrospektive» aus Anlass seines 100. Geburtstags am 3. Dezember 1923 sind einige Texte verfasst worden, die seinen Lebensweg aus unterschiedlichen Perspektiven beschreiben. Wieder und wieder wird hervorgehoben, mit welcher Konsequenz Saul Leiter seiner künstlerischen Bestimmung gefolgt ist und dabei auf alle materiellen Vorteile, die sich ihm leicht geboten hätten, verzichtet hat.
Sein eigener Weg
Geradezu liebevoll ist das Kapitel über die «Anfänge» gestaltet. Fotos und Dokumente illustrieren seine ersten Jahre in Pittsburgh. Sein Vater war ein hoch angesehener Rabbi, ein Gelehrter im besten Sinne des Wortes. Seine Privatbibliothek soll 15’000 Bände enthalten haben. Rabbi Wolf Leiter interessierte sich sehr für die zeitgenössischen kulturellen und wissenschaftlichen Themen. Sein Sohn Saul war der begabteste von den insgesamt vier Geschwistern, und für die Eltern war es ausgemacht, dass er in die Fussstapfen seines Vaters treten würde.
Aber Saul fing schon mit 15 Jahren zu malen an, und seine Mutter schenkte ihm in dieser Zeit auch eine sehnlichst gewünschte Kamera. Seine Eltern mussten akzeptieren, dass er seinen eigenen Weg als Künstler gehen wollte.
Man kann fragen, ob Saul Leiter in erster Linie Maler oder Fotograf war. Diese Frage ist deswegen fruchtbar, weil sie sich nicht beantworten lässt. Saul Leiter hat jeden Tag gemalt; er konnte nicht anders. Und ebenso entstanden seine Fotografien. Eine Besonderheit besteht darin, dass Leiter anders als andere Fotografen nicht gereist ist. Er fand seine Motive in seiner unmittelbaren Umgebung, die er täglich durchstreifte. Jeden Tag erschlossen sich buchstäblich neue «Einsichten».
Die Fotografie bot Leiter schon während seiner Studienjahre ein materielles Auskommen. Und schnell schaffte er es zu Harper’s Bazaar. In dem Bildband sind Modefotografien aus dieser Zeit versammelt, und auch hier zeigen sich sein einzigartiges Können, aber auch seine Eigenwilligkeit. Einige Fotos nehmen das vorweg, was man später in der Werbung die «Emanzipation vom Produkt» genannt hat. Die Mode steht nicht mehr im Mittelpunkt, sondern andere Eindrücke, die den Fotografen allerdings weit mehr faszinieren als die Auftraggeber.
Starfotografen wie Irving Penn oder Richard Avedon, die für die Konkurrenz Vogue arbeiteten, konnten ein Lied davon singen. Und es ist nicht ohne Witz, dass Irving Penn eines Tages anfing, nur noch Zigarrenkippen zu fotografieren. Sogar manche seiner Freunde hielten ihn für etwas übergeschnappt, aber das MoMa widmete diesen Kippen eine Ausstellung. So weit brachte es Saul Leiter nicht. Allerdings wird in dem Band über ihn nicht ganz deutlich, ob er von sich aus sein Engagement beendete oder ob er gehen musste. Die Modefotos in der «Retrospektive» sind zum Teil so überwältigend, dass man sich kaum vorstellen kann, warum man auf ihn verzichten wollte, andere wiederum sind so schräg, dass man sich fragt, ob er sie ernst gemeint hat oder mit ihnen mehr oder weniger unbewusst seine Kündigung provozierte.
Die intimen Fotos
Jedenfalls folgten finanziell prekäre Jahre. Aber Leiter sagte von sich, dass ihm ein Raum mit einem Bett, einem Schreitisch und einer Lampe genüge. Und man glaubt es ihm. Man versteht, dass ihn nichts so sehr umtrieb wie sein Malen und sein Fotografieren und dass in seinem inneren Haushalt alles andere zweitrangig war. Aber jetzt kommen wir zu einem besonderen Kapitel, das sogar seine enge Vertraute wie Margit Erb überrascht hat: die intimen Fotos.
Saul Leiter hat über Jahrzehnte Tausende von Aktfotos angefertigt. In aller Regel in seinen beengten häuslichen Verhältnissen. Zahllose Bilder entstanden mit seiner Lebensgefährtin Soames Bantry, einem ehemaligen Model. Man kann vermuten, dass er sie bei seiner Arbeit als Modefotograf kennen gelernt hat. Sie wurde zu seiner Muse. Beide wohnten ursprünglich in demselben Gebäude im East Village und beide teilten das Schicksal, dass an ihren Wohnungstüren von Zeit zu Zeit Räumungsbescheide prangten. Doch sie verloren nicht den Glauben aneinander.
Aber er hat auch zahlreiche andere Frauen fotografiert, und all die Akte, Halbakte und Porträts verraten, dass er zu jeder dieser Frauen eine sehr enge persönliche Beziehung hatte. Das Ganze ist ein bisschen geheimnisumwittert. Seine Mitarbeiterin Margit Erb, die sich als seine Freundin zu erkennen gibt, schreibt in der «Retrospektive», dass sie beim Sichten des «verstaubten» Archivs von Saul Leiter auf diese riesige Anzahl von Fotos gestossen sei, von denen sie keine Ahnung gehabt hatte.
Ein Geheimnis
Eine Besonderheit besteht darin, dass Saul Leiter einige seiner Aktfotos übermalt hat. Hier treffen sich Fotografie und Malerei. Und man kann fragen, warum er gerade im Bereich der intimen Fotos seine beiden grossen Leidenschaften zusammengeführt hat. Strassenbilder hat er nicht übermalt, wohl aber die Bilder von seinen Geliebten. Übermalt und damit ungeahnt gesteigert. Ein schönes Geheimnis.
Es gab einmal Überlegungen, diese intimen Fotos in einem Band zu publizieren. Saul Leiter soll dafür in seinem Labor mehr als 1000 Stunden gearbeitet haben. Aber am Ende zerschlug sich das Projekt, das er zusammen mit seinem Freund Henry Wolf, dem ehemaligen Art Director von Harper’s Bazaar, aufgleisen wollte. Warum? Margit Erb vermutet, dass Saul Leiter zuletzt davor zurückgeschreckt sein könnte, weil seine Eltern damals noch lebten. Hätten sie, die den Weg ihres hochbegabten Sohnes in die Kunst nur mit Mühe mitgemacht haben, einen Bildband akzeptieren können, der nach damaligem Verständnis in der Nähe der Pornografie angesiedelt ist?
Das sehr riskante Verhalten
Oder gibt es eine ganz andere Erklärung? Margit Erb, neben Michael Parillo Herausgeberin dieses Bandes, stellt eine weitere Überlegung an. Und die trifft ins Schwarze. Saul Leiter war ein Künstler, der nur seiner Kunst verpflichtet war. «Er machte keine Akquise und er wartete nicht auf die Anerkennung anderer Leute.» Man muss nur seine Bilder auf sich wirken lassen, um zu begreifen, dass er eine völlig andere Sprache sprach als die des Kunstmarktes. Es klingt wie eine Botschaft aus einer utopischen Welt, wenn Margit Erb schreibt: «Saul war bekannt dafür, kreativ und produktiv zu arbeiten, aber alles andere dem Zufall zu überlassen – ein sehr riskantes Verhalten für einen Künstler.» – Und ein unglaubliches Glück für die diejenigen, die seinen Werken heute begegnen.
Diese Retrospektive auf Leben und Werk von Saul Leiter wird man in seiner Fotobibliothek ganz nach vorne stellen.
Margit Erb & Michael Parillo (Hrsg.): Saul Leiter, Die grosse Retrospektive.
Texte von Margit Erb, Michael Greenberg, Adam Harrison Levy, Asa Hiramati, Michael Parillo, Lou Stoppard. Gestaltet von Ramon Pez. Heidelberg: Kehrer Verlag, 362 Seiten, 300 Farb- und S/W-Abb. 68 Euro