Viel von der alten Atmosphäre ist aber im renovierten Alten Bahnhof erhalten geblieben, der, gleich neben dem Neuen Bahnhof an den Gleisen stehend, mittlerweile zum Zentrum des Fests geworden ist, und wo nach wie vor der Geist der französischen Schweiz wohltuend weht.
Ein weitgestreutes Angebot
Edouard Waintrop, seit von 2007 bis jetzt für das Festival tätig (neuer Direktor wird Thierry Jobin), hat eine längere Identitätskrise des FIFF für beendet erklärt, indem er das Konzept des „Südfilms“ («cinéma du sud»), welches bereits dasjenige des fragwürdig gewordenen „Drittweltfilms“ („cinéma du tiers monde“) abgelöst hatte, ebenfalls über Bord warf. Er definierte es nun – um den Preis einer gewissen Beliebigkeit des Programms – als die Aufgabe des Festivals, „unsere Kenntnisse der unterschiedlichen nationalen Kinematographien [zu] vertiefen“ und innerhalb derselben Filme zu fördern, „die immer noch Schwierigkeiten haben, in die Schweizer Kinosäle zu gelangen“ und die würdig seien, entdeckt zu werden.
Zur Auswahl standen dem Publikum diesmal neben einem Internationalen Wettbewerb mit neuen Filmen aus aller nichtwestlicher Welt einige Sondervorführungen und Kurzfilme. Wiederum wurden auch „Panoramen“ angeboten: Vertiefende Zusammenstellungen von Werken zu einzelnen Themen oder Herkunftsorten. Ein Panorama war zum Beispiel der Filmerin und Produzentin Lita Stantic gewidmet – sie war eine der wichtigsten Produzentinnen des "Nuevo cine argentino" der letzten Jahrzehnte.
Es wurde auch eine Werkschau von georgischen Filmen von 1930 bis 2010 gezeigt („Sakartvelo“ = „Georgien“) und eine Auswahl von Filmen des Da Huang Netzwerks („Da Huang“ = „Große Leere“) aus Malaysia. Drei Mitglieder dieses Netzwerks konnten im Rahmen einer „Masterclass für Fachleute“ näher kennengelernt und befragt werden. Nach manchen Filmen wurden überdies „Debatten“ geboten, im Rahmen derer anwesende FilmerInnen und andere Beteiligte mit dem Publikum ins Gespräch treten konnten, auch Lita Stantic war persönlich anwesend.
Im Rahmen von Erfolg versprechenden Serien – zu schwarzer und afrikanischer Musik etwa („Black Note“) oder zu „Heldinnen im Film Noir“ („du rythme et du sang“ hatte im Januar das Pressecommuniqué versprochen) – sind auch Klassiker westlicher Provenienz und Inhalte nicht ausgeklammert worden.
Terroristenthriller
Ebenso enthielt das Panorama „Dans la peau d’un terroriste“ Filme, die man eher im gewöhnlichen Unterhaltungskino als am FIFF erwartet – wiewohl ihre Zusammenstellung als Ganzes das Verdienst hat, etwas in die Geschichte der revolutionären Bewegungen des späteren 20. Jahrhunderts einzuführen, welche wesentlich im Kampf gegen den Faschismus, den Protesten gegen den US-amerikanischen Vietnamkrieg (1965-1975) und der Weltwunde Palästina/Israel wurzeln.
So ist Steven Spielbergs „Munich“ (2005) – über die Rache des Mossad an den Terroristen vom „Schwarzen September“ – mit in die Serie aufgenommen worden – gewiss kein Film, der Schwierigkeiten hätte, „in die Schweizer Kinosäle zu gelangen“. Auch die Projektion der integralen Version von „Carlos“ – einer dreiteiligen Fernseh-Serie aus dem Jahre 2010 – war in diesem Sinne bildend. In 5 ½ Stunden erzählt Olivier Assayas das offenbar gut recherchierte Leben des Illich Ramirez Sanchez, genannt ‘Carlos’ oder ‘der Schakal’. Es ist interessant, auf der Spur dieses 1949 in Venezuela geborenen Sohns eines kommunistischen Anwalts in der Welt herumzureisen und zu erfahren, wie vielfältige kollaborative oder konkurrenzierende Beziehungen er zu so vielen Befreiungsbewegungen seiner Zeit unterhalten hat.
Aufkommende Langeweile
Teil 2 der Mini-Serie ist der OPEC-Geiselnahme durch den "Arm der arabischen Revolution" gewidmet, welche, angeführt von Carlos, im Dezember 1975 in Wien stattfand. Interessanterweise fängt man sich indessen im Lauf der 333 Minuten „Carlos“ doch irgendwie zu langweilen an, ähnlich wie in „Munich“, so gespannt man das Spielberg’sche Drama verfolgt. Dabei ist Olivier Assayas bekannt als differenzierter und feinsinniger Filmer.
Dasselbe Gefühl beschlich die Schreibende in Claude Chabrols „Nada“, der Verfilmung eines Romans. Sie erzählt von einer fiktiven, nach dem Modell der „Brigate Rosse“ und der „Roten Armee Fraktion“ organisierten französische Gruppe, welche sich gegen den westlichen Imperialismus und namentlich gegen den Vietnamkrieg engagiert. Zur Zeit seines Erscheinens 1974 war dieser Film gewiss aufrüttelnd und aufklärend, heute wirkt er mit perfekter Machart und Inszenierung weniger altehrwürdig als antiquiert und, da eh nicht historisch, wenig relevant.
Immer geht es um Leben und Tod
Auch „United Red Army“ (Kōji Wakamatsu, Japan 2007) lässt einen nicht reicher zurück. Auch da wird, wie „Munich“ und „Carlos“, eine wahre Geschichte erzählt –diese führt aber aus den Städten weg in die Berge im Norden Japans. Nach einer dokumentarischen Einführung über die Entstehung der bewaffneten „Vereinigten Roten Armee“ (aus der Fusion einer aus Studentenprotesten hervorgegangenen radikalisierten Gruppe und der Maoistischen Linken) im Jahre 1971 wird deren weitere Entwicklung in ihrem Trainingslager im Spielfilm rekonstruiert: eine äusserst brutale, sadistisch eingefärbte allmähliche Selbstzerstörung und der Showdown von 1972, der als Asama-Sansō-incident bekannt ist.
Man wird einfach des Rhythmus von Spannung und Entspannung müde – immer wieder Schießereien, Explosionen, Verfolgungen, Sturm, Blutbäder, Aufreissen und Zuschlagen von Autotüren mit rasendem Ein- und Aussteigen, pneuquietschendem Losrasen und Bremsen, gefolgt von Ruhemomenten vor dem Sturm, vielleicht Sex, Männertreue, vielleicht Erschöpfung und Alkohol, durchwirkt von Misstrauen, Verrat, Spionage, Geheimnis und Enthüllung, Telefonklingeln. Und dann die unvermeidlichen Momente, wo „es“ nicht klappt.
Das ist ja alles äußerst aufregend und oberflächlich keineswegs langweilig, immer öffnen sich neue Perspektiven, nie weiß man, wie es weitergeht und – falls man nicht historisch vorgebildet ist – wie es endet, und immer geht es um Leben und Tod. Die Langeweile sitzt tiefer, sie gründet in einer merkwürdigen emotionalen Flachheit und Monotonie. Es ist eine Art von Tiefenlangeweile, die einen angesichts dieser Filme erfasst.
In tieferen Schichten leer, eitel, verirrt
Diese wurzelt, glaube ich, weniger in der Abwehr gegenüber dem Phänomen ‘Gewalt’ – innerlich wie äusserlich – als darin, daß die Abwehr, die Zensur in diesen Thrillern schon impliziert ist. Wie immer die Gewalt in Erscheinung tritt, immer steht sie nackt im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Ihre Rechtfertigung, Kritik oder Problematisierung wirken da wie Feigenblätter. Es klärt nichts, wenn Avner, der Held von „Munich“, zuerst für Golda Meyr, der er als ehemaliger Leibwächter verbunden ist, für sein Land und für seine geliebte Familie handelt und später dank sensibler Gattin, nachdenklichem Kollegen und eigener Erfahrung von Zweifeln an der Richtigkeit seines Tuns befallen wird.
Ebensowenig ist gewonnen, wenn Assayas den Carlos als extrem selbstbezogenen, eitlen Narziss schildert und seine Frauenbeziehungen entsprechend – die Interpretation ist medientauglich, macht die Figur des „Schakals“ jedoch nicht interessanter und ist übrigens von Ilich Ramírez Sánchez selbst, der in Poissy, Frankreich, lebenslang in der ‘maison centrale de correction’ sitzt, scharf abgelehnt worden.
Bezüglich der Frage, wie es sich in der Haut von TerroristInnen anfühlt, bringen alle diese Filme wenig Erkenntnisgewinn, weil sie ihre ProtagonistInnen ihrer Vorgeschichte, Lebenssituation und Werthaltungen im weitesten Sinne entkleiden und sozusagen dem voyeuristischen Blick einer abgespaltenen Gewalttätigkeit aussetzen. Man fühlt sich von ihnen vielleicht erregt und unterhalten, in tieferen Schichten aber leer, eitel, verirrt in dieser Haut – das ist wohl auch die Botschaft, die solche Werke mediieren.
Filmische Auswege aus dem Thriller
Demgegenüber ist die schwarze Komödie des britischen Komikers Christopher Morris („We Are Four Lions“, Grossbritannien 2010) eine reine Wohltat. Sie handelt von einer äusserst unbeholfenen Gruppe von Muslimen aus Nordengland, die Jihadisten werden wollen – was dem Filmer Gelegenheit gibt, auf liebenswürdige Weise alle möglichen und unmöglichen gängigen Wahrnehmungen und Überzeugungen zum Thema Terrorismus aufs Korn zu nehmen. „Four Lions“ ist in Fribourg als Vorpremière gezeigt worden und kommt bald in die Schweizer Kinos.
Andere Wege gehen „Buongiorno notte“ von Marco Bellocchio (Italien 2003) und „Paradise Now“ von Hany Abu-Assad (Palästina, Niederlande, Deutschland und Frankreich 2004). „Buongiorno Notte“ erzählt von der Gefangenhaltung des in der Folge ermordeten Präsidenten der Christdemokratischen Partei Italiens Aldo Moro im Jahre 1978. In einer durch drei Männer und eine Frau, Angehörige der Roten Brigaden zu diesem Zweck umgebauten Wohnung entfaltet sich ein beklemmendes Kammerspiel – an Aldo Moros Figur wird die Differenz zwischen Feindbild und freundlichem alten Menschen sichtbar, in den Terroristen die Spannung zwischen eisernen Soldaten ihrer Sache und berührten, berührbaren jungen Leuten. Die gemeinsame Wohnung wird zum gemeinsamen Gefängnis, und als ZuschauerIn teilt man mit allen Beteiligten den Traum eines Entweichens aus der Enge.
„Paradise Now“ ist die sehr eindrückliche Geschichte zweier Freunde, die sich als Selbstmordattentäter anheuern lassen, mit ihren inneren und äusseren Konflikten, ihren Motiven, ihrer Treue zur Sache und ihren Zweifeln, eine Geschichte von Demütigung und Ehre.
„Il terrorista“ (Italien 1963) schliesslich problematisiert den Begriff des „Terroristen“. Dieser älteste, schwarz-weisse Film des FIFF-Panoramas „Dans la peau d’un terroriste“ basiert tatsächlich auf persönlichen Erfahrungen seines Regisseurs Gianfranco de Bosio (*1924). Er erzählt von der Resistenza während der nazionalsozialistischen Besetzung von Venedig. Bosio hat sich in dem Widerstand selbst engagiert und habe den porträtierten Terroristen daher persönlich gekannt.
Gewalt, Mandela und Schillers Tell
Nicht als Teil des „Panoramas“, sondern als eine „soirée spéciale“ dargeboten wurde „Reconciliation, Mandela's Miracle“ von Michael Henry Wilson (USA 2010), dessen Inhalt wie folgt umrissen wurde: „Nachdem er jahrzehntelang von den weissen Machthabern als Terrorist bezeichnet wurde, läutete Nelson Mandela … nicht nur das Ende der Apartheid ein, sondern auch den versöhnlichen Übergang zur Demokratie.“ Der Film macht indessen auch klar, daß Mandela diesen Übergang nicht alleine hat herbeiführen können: der ab 1989 amtierende südafrikanische Staatspräsident Frederik Willem de Klerk hat er mit dem seit 1962 inhaftierten Mandela das Gespräch aufgenommen.
Das Angebot einer Freilassung, unter der Bedingung, auf den bewaffneten Kampf zu verzichten, hatte Mandela 1985 abgelehnt. 1990 hat De Klerk Mandela aus dem Gefängnis entlassen. Mandela und de Klerk haben 1993 zusammen den Friedensnobelpreis erhalten.
Wie sagt es doch Werner Stauffacher in Schillers „Wilhelm Tell“ (2. Aufzug, Szene 2) so schön:
„Wo Mensch dem Menschen gegenüber steht – Zum letzten Mittel, wenn kein andres mehr Verfangen will, ist ihm das Schwert gegeben – Der Güter höchstes dürfen wir vertheid'gen Gegen Gewalt – “
Und im Rahmen derselben Diskussion wenig später Tells Schwiegervater Walter Fürst:
„Denn bill'ge Furcht erwecket sich ein Volk Das mit dem Schwerte in der Faust sich mässigt.“