Frank Schirrmacher, der Chef des FAZ-Feuilletons, nennt es „den grossen Gesellschaftsroman der Bundesrepublik“. Das ist wohl ziemlich übertrieben. Aber der grosse Roman des deutschen Literatur- und Feuilletonbetriebs, das sind die Tagebücher von Fritz J. Raddatz gewiss. Der frühere Chef des „Zeit“-Feuilletons, der seinen Posten einst wegen eines missglückten Zitats verlor, bewegte sich jahrzehntelang im Mittelpunkt dieser Welt, als Intellektueller, als Autor, als Journalist, als Kritiker.
900 Seiten misst das Buch und umfasst die Jahre 1982 bis 2001. So muss man schon ein erhebliches Interesse an dieser sich so gross dünkenden kleinen Welt mitbringen, um sich durchzukämpfen, aber sie gewähren auch einen tiefen Blick ins Innere – des Verfassers wie all jener, mit denen er es zu tun hatte, heissen sie Günther Grass, Hans Mayer, Walter Jens, Joachim Kaiser, Hans Magnus Enzensberger, Adolf Muschg, Rudolf Augstein, Rolf Hochhuth, Stephan Hermlin, Martin Walser, Christa Wolf, Thomas Brasch, Gräfin Dönhoff, Gerd Bucerius, Helmut Schmidt, Günther Gaus oder Richard von Weizsäcker. Kurzum, Raddatz „hatte“ es einfach mit jedem, aber er hatte es nicht einfach mit ihnen und sie auch nicht mit ihm.
Alle sind egoistisch, nur er nicht
Mit der Ausnahmen ganz weniger kommt keiner gut weg bei Raddatz, der im nächsten Jahr 80 wird. Wer gerne Bosheiten liest, aber auch köstliche Klein-Porträts, der ist hier also gut bedient: Er zeichnet ein Panorama von Selbstbezogenheit, Egoismus, Weinerlichkeit, Protzentum und Stillosigkeiten. Kaum einer, der sich für anderes interessiert als für sein nächstes Buch, den Preis, den er gerade bekommen hat oder den er nächstens bekommen soll, den Artikel, der morgen in der FAZ erscheint oder den Kollegen, der sich mies benommen hat. Geizig sind sie auch alle, lassen immer gerne Raddatz die Rechnung zahlen, sie ziehen bei ihm über andere her und schmeicheln dann wieder in der direkten Begegnung, von feiner Lebensart haben sie auch keine Ahnung – ganz im Gegensatz zu ihm, der wie ein Parvenu nicht müde wird, seinen erlesenen Geschmack zu preisen, seine Hemden, sein Porzellan, seine Vasen, sein Silber, seinen Champagner und den Kaviar, die er auffährt, seine Bilder an den Wänden und den Porsche in der Garage. Das alles erwähnt er immerfort in seinem Tagebuch, von dem er am Ende schreibt, er habe nie im entferntesten erwogen, es zur Veröffentlichung freizugeben. Was irgendwie schwer zu glauben ist.
Ebenso unermüdlich (und mit der Zeit ermüdend) ist Raddatz’ Klage darüber, wie zuvorkommend und mitfühlend er zu allen ist und wie schlecht sie ihn behandeln. Nie wollen sie vom Fortgang seiner Arbeit hören und immer nur von sich erzählen, sie nehmen ihn als Romancier nicht ernst (der er ja auch ist) und nehmen ihn nur als den Rezensenten wahr, der ihr nächstes Buch in der „Zeit“ bespricht, er schmeisst die tollsten Einladungen und bekommt selber nur ein Schinkenbrot und bestenfalls ein Sektglas in die Hand (wie kann man nur...), wenn es mal eine Gegeneinladung gibt, er ist es, der sich stets um andere kümmert und seinerseits vergebens auf den versprochenen Anruf wartet.
Das muss auch Raddatz selber aufgefallen sein, denn immerhin macht er seine Klagen und Frustrationen wiederholt zum Thema und setzt sich durchaus selbstkritisch damit auseinander. Allerdings fragt man sich dann auch, wie weit her es mit seiner Aufrichtigkeit oder seinem Anstand ist, deren Fehlen er bei anderen beklagt. Denn mit allen, über die er herzieht, trifft er sich stets aufs Neue oder lädt sie zu sich ein.
Er erinnert, wo andere verdrängen
Doch Fritz J. Raddatz ist auch der, der 1977 bis 1985 in der „Zeit“ eines der anregendsten Feuilletons gemacht hat. Er ist nicht nur ein glänzender Schreiber (das versteht sich sowieso), hat viele Beziehungen auch im Ausland, besonders in Frankreich, er ist vor allem auch ein hochpolitischer (linker) Kopf und hat den Zusammenhängen von Literatur und Politik stets grösstes Gewicht beigemessen im Blatt. Raddatz hat Nazizeit und DDR erlebt (an verantwortlicher Stelle beim Ostberliner Verlag Volk und Welt). Das haben alle um ihn herum auch. Aber er hat wie kaum ein anderer deren Verdrängung, Verwedelung, Beschönigung und Lüge benannt, was deutsche Vergangenheit und deutsche Verbrechen anbelangt, ob es um die NS-Zeit geht oder um die DDR. Nachzulesen etwa im Aufsatz „Wir werden weiterdichten, wenn alles in Scherben fällt...“ von 1979, worin er nachweist, wer es sich in der NS-Zeit weit besser hat gehen lassen, als sie es später hinstellten, wo sie doch mit einem Fuss schon im KZ standen und Goebbels am Teetisch einen vernichtenden Blick zugeworfen haben. Genauso hat Raddatz sich die DDR-Schönredner vorgeknöpft, ob sie Christa Wolf, Stephan Hermlin oder Günther Gaus heissen. Das hat ihm nicht nur Freunde geschaffen, natürlich nicht, aber „man“ blieb – siehe oben – immer in Verbindung. Man war eben aufeinander angewiesen, eine Frage von Angebot und Nachfrage.
Interessante Einblicke gibt Raddatz in die Redaktion der „Zeit“, wo es, wenn man ihm glauben will, längst nicht so vornehm oder stilvoll zu und her ging, wie man sich gerne gab. Er hatte keinen leichten Stand, vor allem nicht bei „der Gräfin“ Dönhoff oder bei Helmut Schmidt, die aber auch er nicht ausstehen konnte. Am meisten zieht er über den langjährigen Verleger und „Milliardär“ Gerd Bucerius her. Wie so oft bei Raddatz hat das auch zu tun mit deren Haltung zur Vergangenheit. Als Raddatz ein schlimmer Fehler unterlief, da hatte er nicht mehr allzu viele Freunde, die ihm in der Redaktion zur Seite standen. Vielleicht waren sie froh, ihn loszuwerden, denn bequem war er gewiss nicht. Jedenfalls, es war Herbst 1985 vor der Buchmesse, als er einer Glosse von NZZ-Feuilletonchef Martin Meyer aufsass, der von Goethe und seinem Gang bei den Geleisen des Frankfurter Bahnhofs schrieb. Das zu zitieren als „Realität“ kostete Raddatz den Posten.
Was ihn zutiefst verletzt hat. Das sei eine „lässliche Sünde“ gewesen, schrieb er immer wieder und noch Jahre später; andere hätten viel schlimmere Schlampereien oder Missgriffe zu verantworten gehabt ohne Sanktionen. Da mag er recht haben, zumal er selber, wie er schreibt, Opfer solcher Fehlbehauptungen wurde – etwa im „Spiegel“, den und dessen Herausgeber Augstein er aus tiefstem Herzen verachtete. Aber das Beispiel zeigt auch, wie wenig er imstande ist, einen Fehler einfach einzugestehen. Auch dass er von der „Zeit“ als Autor weiter beschäftigt und letztendlich von dem so geschmähten Bucerius reichlich dafür entlöhnt wurde, das vermag er nicht anzuerkennen. Er gibt noch Jahre später den Gekränkten.
Sieht man von diesen persönlichen Schwächen ab – die allerdings einen guten Teil der Tagebücher füllen – und interessiert man sich für das Geistesleben und den intellektuellen Gesellschaftsklatsch der Bundesrepublik jener Jahre, dann kann man das Buch an vielen „Stellen“ sogar mit Vergnügen lesen. Allein schon, weil Figuren wie Raddatz so rar geworden sind, diese Verbindung von Dandy, scharfem Intellekt, politischem Kopf und glänzender Feder.
Fritz J. Raddatz: Tagebücher 1982 – 2001. Rowohlt 2010, 939 Seiten.