Man sollte anordnen, dass an gewissen Samstagen in den Verkehrsnachrichten auch ein Bericht über die Zufahrt nach Riehen gesendet wird. Dann nämlich, wenn die Fondation Beyeler zur Vernissage lädt. Die schmale Dorfstrasse ist total verstopft - bis tief nach Basel hinein. Die Leute möchten direkt vor der Fondation aussteigen. Doch sie finden keinen Parkplatz, denn das Parkhaus, das gleich gegenüber liegt, ist schnell voll.
Drei Mal herrscht dieses Chaos: Am Mittag kommen die ganz Privilegierten zum Mittagessen, um vier Uhr jene des Fondationsklubs, und um sechs die normal Privilegierten. Dann bricht alles zusammen.
Wie am Morgenstraich
Diesmal war es besonders schlimm, denn die "Surrealisten in Paris" interessierten besonders viele. Zudem war wegen des schönen Altsommerwetters ein Apero im herrlichen Park zu erwarten.
Drinnen sind die rund 290 Kunstwerke kaum zu sehen. Man bewegt sich vorsichtig, um sie nicht zu streifen, denn die Menge gleicht der am Morgenstraich. Die Fondation Beyeler bringt es immer wieder fertig, populäre Ausstellungen zu organisieren, ohne sich beim Publikumsgeschmack anzubiedern.
Bei dieser Ausstellung kommt noch dazu: Sie ist schön, spielerisch, vielseitig (Bilder, Plastiken, Fotos, Filme, Collagen, Manuskripte etc.), sie sprüht vor Phantasie, und man begegnet viel Vertrautem. Mancher Basler wurde schon als Kind im Kunstmuseum an Dalis Brennender Giraffe vorbeigeschleust und konnte mit dieser märchenhaften Welt so viel mehr anfangen als mit jener Picassos oder Klees.
Attraktiv ist auch, dass diesmal zwei Ausstellungsteile personalisiert sind. Ein Raum zeigt Peggy Guggenheims Beitrag zum Surrealismus. Sie hat selbst Surrealismus gesammelt und war mit einem seiner wichtigsten Vertreter, Max Ernst, kurz verheiratet. Ausgestellt sind neben Stücken ihrer Sammlung die Ohrringe, die Alexander Calder und Yves Tanguy für sie kreiert haben. Guggenheim nannte sie "die absolut kleinsten Werke Tanguys". Der Harmonie willen pflegte sie je einen Ohrring am Ohr zu tragen.
Der Raum daneben zeigt die Sammlung von Simone Breton, der ersten Frau des Vordenkers, Papstes und strengen Chefs der Surrealisten: André Breton. Sie lebte den frühen Surrealismus auch als Protokollarin des "Bureau central de recherches surréalistes". Umringt an der Schreibmaschine wurde sie von der rein männlichen und offenbar sehr fordernden "Macho-Gemeinde", wie sie ein Kunsthistoriker bezeichnete.
Als Simone Kahn, Tochter von elsässischen Juden in Peru geboren, kam sie nach Paris, um an der Sorbonne Literatur zu studieren. Dort begegnete sie dem jungen Literaten André Breton. "Die Frau, die lieber schnell fuhr als gut kochte", bezauberte mit ihrer garçonnehaften Schönheit und scharfem Verstand auch den Poeten Louis Aragon. Für die Surrealisten blieb sie aber unterstützende Helferin.
Die Welt umkrempeln - mit Hilfe von Bildern
Was die Surrealisten wollten, ist im 1. Manifest des Surrealimus 1924 von André Breton klar gesagt: "Ich glaube an die künftige Auflösung dieser scheinbar so gegensätzlichen Zustände von Traum und Wirklichkeit in einer Art absoluter Realität, wenn man so sagen kann, Surrealität."
Er meinte damit aber nicht nur eine neue Kunstrichtung, sondern eine gesellschaftliche Revolution. Seine Gruppe wollte mit Hilfe von Bildern und Texten die Welt umkrempeln. Ihr Ziel war es, aus dem Traumhaften und Unbewussten zu schöpfen und, wie Sigmund Freud, Teile des Seelischen hervorzubringen. Denn, so Breton 1928, "das Auge lebt im Urzustand". Dem schlossen sich viele an, unter anderen Man Ray, Max Ernst, Jean Arp, Salvador Dali, Joan Miro, René Magritte, Yves Tanguy, Pablo Picasso und die Schweizerin Meret Oppenheim, die Muse Man Rays. Ihr Pelzarmreif ist in der Ausstellung zu sehen. Er riss Picasso im Pariser Café Dôme zu inspirierenden Äusserungen hin, die dann in der berühmten Pelztasse mündeten.
Sie alle dachten wie Breton: "Der Surrealismus beruht auf dem Glauben an die Allgewalt des Traumes und an das von aller Zweckhaftigkeit gelöste Spiel des Denkens. Er will alle anderen psychischen Mechanismen endgültig überwinden und ihren Platz bei der Lösung der wichtigsten Lebensprobleme einnehmen."
Dies ist dem Surrealismus nicht gelungen. Der völlige Neuanfang im Denken und Fühlen gelang nicht.
"Das logische Denken ist fehl am Platz"
Breton hatte im 2. Manifest von 1929 den Grundsatz formuliert, dass es einen geistigen Standort gäbe, in dem sich alle Gegensätze auflösten. Die Gegensätze von Traum und Wirklichkeit, von Vergangenheit und Zukunft, von Tag und Nacht liessen sich miteinander verweben. Doch all dies liess sich nicht belegen.
Insofern ist der Surrealismus, philosophisch gesehen, gescheitert. Doch welch wunderbare Kunstwerke hat er auf seinem Weg hervorgebracht.
"Damit ein Kunstwerk wahrhaft unsterblich ist, muss es ganz die Grenzen des Menschlichen verlassen: Der gesunde Menschenverstand und das logische Denken sind fehl am Platz", sagte Giorgio de Chirico, eines der grossen Vorbilder der Surrealisten. In diesem Geist sollte man diese herrliche Ausstellung besuchen.