Bei La Heutte im Bieler Jura gibt es ein Klettergebiet, das Le Paradis heisst. Gestern Morgen lag das Tobel friedlich in der Morgensonne, man hörte nur heiteres Vogelgezwitscher. Weit und breit kein Mensch. Doch dann kommt unser Aufstieg zu den Felsen unerwartet zum Halt: eine Absperrung mitten im Wald. Auf Schildern teilt uns die Municipalité in einwandfreier Amtssprache mit, das ganze Gebiet sei geschlossen «jusqu’à nouvel avis suite au COVID-19».
Seilschaften beim Sportklettern
Nun war uns zwar bekannt, dass der Bundesrat Ansammlungen von mehr als fünf Personen bei Androhung einer Ordnungsstrafe untersagt hat. Dass aber auch das Betreten von Wald und Felsen verboten sein sollte, hatten wir bislang nicht vernommen. In Klettergebieten kann man zwar an sonnigen Tagen im Sommer schon hier und da mehrere Seilschaften antreffen, aber wohlgemerkt: Seilschaften. Diese bestehen beim Sportklettern in der Regel aus zwei Personen. Geführte Seilschaften mit fünf Personen habe ich in 50 Jahren alpinistischer Aktivität bisher nur auf Gletscherwanderungen gesehen. Im Wald von Le Paradis wurde aber bisher keine Gletscherbildung festgestellt.
Dort ist wohl selbst an einem Sonntag bei schönstem Kletterwetter nicht ein Bruchteil der Leute anzutreffen, die ich derzeit in der Nähe meiner Zürcher Wohnung jeden Morgen sehe: Gruppen von Menschen, Cervelat bratend, Ball spielend auf den Wiesen im Hürstholz. Nicht zu reden von den Biker- und Joggergruppen am Greifensee, am Türlersee oder wo auch immer im Grünen. Und das ist auch gut so.
Denn für die Gesundheit ist es sicher besser, wenn die Leute sich bewegen und hinausgehen in die Natur. Das wird uns jedenfalls seit eh und je von Ärztinnen, Gesundheitsbehörden und Krankenkassen gepredigt. Bislang wurde man als Schädling an der Volksgesundheit kritisiert, wenn man nicht ein paar tausend Schritte am Tag getan hatte.
Heitere Blüten
Dann kam die Corona-Krise, und in manchen Amtsstuben sprossen heitere Blüten der Bürokratie. Die Vorsichtsmassnahmen im Bereich Sport waren von Anfang pauschal und wenig durchdacht.
Dass Fussballstadien geschlossen wurden, ist verständlich. Gleichzeitig wurden aber Sportarten verboten, die wie Tennis oder Golf im Freien stattfinden können und wenig Körperkontakt aufweisen. Dringend abgeraten wurde von Alpinismus und besonders von Skitouren. Bei dem Verbot von Alpinismus und besonders von Skitouren berief man sich teilweise auf absurde Argumente. So hörte ich in einer SRF-Radiosendung, es könnte z. B. jemand in eine Gletscherspalte fallen und dadurch würden Rettungsequipen gebunden und Spitalbetten beansprucht, die für Corona-Patienten freizuhalten seien. Ich kenne die Statistik nicht, vermute aber, dass die Zahl der Unfälle bei Skitouren im Promillebereich liegt.
„Chli bireweich“
VBS-Chefin Viola Amherd versprach gestern auf einer Pressekonferenz, ab 1. Mai könnten Sportarten mit wenig Körperkontakt wieder ausgeübt werden. Es hat lange gedauert, bis die Behörden merkten, was da falsch gelaufen war. Eine Task-Force des Bundesrates, die untersuchen soll, wie es weitergeht mit dem Sport in der Corona-Krise, hat erst Ende letzter Woche ihre Arbeit aufgenommen. Auf die Frage einer Journalistin, welche Sportarten konkret wieder erlaubt würden, antwortete Amherd: Rugby und American Football sicher nicht.
Und gestern Morgen in Le Paradis? Mein Kletterpartner evaluierte die Absperrung genauso wie ich mit dem Ergebnis: „chli bireweich“. Folglich gingen wir getrost weiter und kletterten einen wunderbaren Kalksteingrat namens Arête du Faucon. In friedlicher Stille im Sonnenschein. Und in der leisen Hoffnung, dass Sportklettern ab 1. Mai nicht mehr bestraft werden möge. Auf Rugby und American Football wollen wir dann auch gern verzichten.