Beherzt spielen Volksmusiker auf, singen mit seelentiefer Inbrunst vom harten Alltag, von wehmütiger Liebe, direkt der Kamera zugewandt. Man sieht zudem Leute mit Mikrophonen und Tonband-Geräten. Was wie eine Dokumentation über eine ethnographische Feldstudie anmutet, ist der Prolog zum verwunschen schönen Spielfilm „Cold War“ von Paweł Pawlikowski.
Polnische Provinz, 1949. Seit den Schrecknissen des Zweiten Weltkriegs sind vier Jahre vergangen, die Wunden noch längst nicht vernarbt. Zumal die Hitler-Herrschaft durch eine neue abgelöst worden ist: den totalitären Kommunismus russischer Prägung unter der Fuchtel des unberechenbaren Diktators Joseph Stalin; die „bleierne Zeit“ geht in der neu geschaffenen Volksrepublik Polen weiter.
Aus propagandistischen Gründen wollen die Machthaber das Image ihres Landes aufpeppen, indem sie die „Volkskultur“ nach aussen stärken. Also werden Sachverständige ausgesandt, um Musiker, Sänger und Tänzer zu rekrutieren. Auf einem verwahrlosten Herrschaftsgut wird sodann ein Camp eingerichtet und eine folkloristische Tournee-Truppe zusammengestellt. Sie soll in der Heimat, in sozialistischen Bruderländern wie der Deutschen Demokratischen Republik (DDR), aber auch in westlichen Metropolen wie Paris auf schmissige Art für die Errungenschaften des real existierenden Sozialismus werben und den Genossen Stalin lobpreisen.
Der Träumer und die Frau mit Geheimnis
Der Plot von „Cold War“ fokussiert auf die bewegende und bewegte Liaison des Pianisten und künstlerischen Leiters Wiktor mit der viel jüngeren, erdigen Zula. Sie ist ein stimmgewaltiges Naturtalent mit stupendem Selbstbewusstsein und viel Chuzpe; aus ihrem Mund klingt sogar die knarrende sozialistische Kampflied-Hymne, die „Internationale“, wie eine Arie.
Wiktor schlägt Zula umgehend als Frontfrau vor und kürt sie zur Geliebten. Das entgeht dem habichtartigen Kultur-Cheffunktionär Kaczmarek nicht, der bei den zentralen Entscheiden das Sagen hat. Auch er ist von Zulas Reizen angetan und verfügt über intime Kenntnisse ihres Vorlebens. Das verschafft ihm eine Machposition, die er gnadenlos ausnutzt.
Im Schüttelbecher der Gefühle
Das Beziehungsdrama „Cold War“ ist nun lanciert, angesiedelt in einem politisch-ideologischen Klima, wo das klassenkämpferische Gemeinwohl über dem Privaten steht. Und für individuelle Lebens- und Liebesfreiheit kaum Raum bleibt. In einer Handvoll subtil verdichteten Episoden wird Pawlikowski zum Chronisten einer Amour fou in den Zeitläufen des Kalten Krieges zwischen Ost und West.
Das Unterhaltungs-Kollektiv – es ist dem 1948 gegründeten polnischen Mazowsze-Ensemble nachempfunden, das bis heute unterwegs ist – erlebt eine umjubelte Feuertaufe in Warschau. Dann reüssiert es in Ostberlin, wo in den Jahren vor dem abschottenden Mauerbau 1961 der sogenannte „Eiserne Vorhang“ zum Westen noch durchlässig ist. Und wo sich für Wiktor und Zula die Frage nach bedingungsloser Treue zur sozialistischen Heimat oder der Flucht ins freiheitliche West-Exil stellt.
Dokumentarisch und fiktional
Eine Frage, mit der auch Regisseur Paweł Pawlikowski von Kindsbeinen an konfrontiert wurde. 1957 in Warschau geboren, verliess er mit seiner Mama als Vierzehnjähriger Polen, lebte in Grossbritannien, Deutschland und Italien. 1977 studierte Pawlikowski in London und Oxford Philosophie. In den späten 1980er-Jahren realisierte er etwa für die BBC Dokumentarfilme, gewann etliche Preise, darunter den renommierten Emmy-Award.
Seit 1998 dreht Pawlikowski vielbeachtete Spielfilme wie die Coming-of-Age-Story „My Summer of Love“ oder „The Woman in The Fifth“ mit den Stars Ethan Hawke und Kristin Scott Thomas. Für „Ida“, die Sinnsuche einer polnischen Novizin in den frühen 1960er-Jahren, wurde er 2015 mit dem Oscar für den besten nichtenglischsprachigen Film geehrt. „Cold War“ wiederum erhielt 2018 am Filmfestival von Cannes den Regie-Preis. Die Inspirationsquelle für dieses Opus war übrigens die komplexe Partnerschaft von Pawlikowskis Eltern: Ihnen hat er den Film gewidmet und sie sind auch die Namensgeber der Protagonisten Wiktor und Zula.
Die „Cold War“-Story erstreckt sich über eine Zeitspanne von 15 Jahren und spielt an internationalen Stationen, wo es zu überraschenden, wegweisenden Begegnungen von Zula und Wiktor kommt: Zweimal in der vom Existenzialismus durchtränkten Bohème-Szenerie in Paris, aber auch im mediterranen Split in der Sozialistischen Republik Kroatien, die Mitte der 1950er-Jahre weltoffener war als andere Länder im Ostblock. Das anrührende Finale des Films ist dann wieder in Polen verortet.
Von Bach bis Bill Haley
Paweł Pawlikowskis Film besticht durch formale und narrative Eleganz. Sie ergibt sich aus der stimmigen Verschmelzung zweier gleichwertig harmonisch eingesetzten Stilelemente: Einmal die Schwarzweiss-Visualisierung im nahezu quadratischen, sogenannten „Academy-Format“, zum andern ein stimmungsvoll choreographiertes Musik- und Gestaltungskonzept. Ausgehend von der archaischen Kraft der Volksmusik bringt Pawlikowski Auszüge aus Johann Sebastian Bachs „Goldberg-Variationen“ zu Gehör, aber auch jazzbasierte Ohrwürmer der US-Komponisten Ira und George Gershwin oder Cole Porter sowie zum Ende hin den fetzigen Sound des Rock’n’Roll-Pioniers Bill Haley und Schlagermusik mit südländischem Timbre.
„Cold War“ weitet den Blick auf das nach wie vor spannende zeitgeschichtliche Phänomen des Kalten Kriegs mit seinem Kernkonflikt Sozialismus versus Kapitalismus. Ausgehend vom Zweiten Weltkrieg bis zur Schnittstelle der sich anbahnenden revolutionsähnlichen Umwälzungen in der westlichen Gesellschaft, die in den späteren 1960er-Jahren Konturen annahm.
Tour de Force in Sachen Liebe
Darin eingebettet aber ist das Duo Wiktor und Zula, quasi im Schüttelbecher der Gefühle: Freigeister sind sie beide, ziehen sich magnetisch an und stossen sich wieder ab. Verhaken sich im Widerstreit von entfesselter Erotik, paralysierender Verweigerung, bis haarscharf an die Schmerzgrenze zum Destruktiven, Selbstzerstörerischen.
Nein, mit der „Leichtigkeit des Seins“ hält es Paweł Pawlikowski gewiss nicht. Aber dass man als Zuschauer beim Zelebrieren von so viel Weltschmerz nicht resigniert, ist Pawlikowskis filmkompositorischer Meisterschaft geschuldet: Dieser Künstler ist ein sensitiver Geschichts- und Geschichten-Erzähler und ebenso ein begnadeter Schauspieler-Dirigent. Die ganze Besetzung ist untadelig und mit Joanna Kulig und Tomasz Kot präsentiert er Solisten, denen man diese Tour de Force in Sachen Liebe jederzeit abnimmt.
Prinzip Hoffnung am Glimmen halten
Beim Nachdenken über Paweł Pawlikowskis Film ist man ans Sichten von Fotos erinnert, die man wie zufällig aus einem wiederentdeckten Album zieht. Dann betrachtet, kommentiert, neu an- und zuordnet. Und man wird Paweł Pawlikowski als lebenserfahrenen Verführer erkennen, der bei aller Tristesse, die seine Liebestragödie umflort, eine von Empathie genährte Kreativität einzubringen weiss und so das Prinzip Hoffnung am Glimmen hält; das macht „Cold War“ zur cineastischen, magischen Delikatesse.
„Cold War“ läuft aktuell in den Deutschschweizer Kinos