Besetzern der Erdölhäfen in der Cyrenaika ist es gelungen, gegen den Willen der libyschen Regierung Erdöl auf eigene Faust zu exportieren. Dies hat zum Sturz des libyschen Ministerpräsidenten geführt. Militäraktionen sind angedroht.
Dem Chaos entgegen
Rebellengruppen, die seit dem vergangenen Juli die wichtigsten VerVerladehäfen in den östlichen Landesteilen Libyens besetzt halten, ist es gelungen, einen Tanker mit Erdöl zu beladen. Der Tanker konnte am frühen Morgen des 11. März den Hafen von Sidra verlassen und das offene Meer erreichen.
Diese Ereignisse stellen einen weiteren Schritt ins Chaos für Libyen dar. Wenn andere Rebellengruppen, wie man erwarten muss, ebenfalls versuchen, sich des Erdölreichtums Libyens zu bemächtigen, entgleitet der Regierung das wichtigste Machtinstrument, über das sie zur Zeit noch verfügt, die Oberhoheit über die Finanzen ihres Landes.
Ehemalige Erdölwächter
Die Rebellen unter einem gewissen Ibrahim Jathran halten seit Juli die drei wichtigsten VerVerladehäfen des cyrenaikischen Landesteiles von Libyen besetzt. Jathran war Chef der cyrenaikischen Abteilung der sogenannten "Petroleum Facilities Guards" (Wachen des Erdölwesens). Diese Wächter wurden nach dem Sturz Ghaddafis provisorisch eingesetzt, um die Erdölförderung möglichst rasch wieder in Gang zu bringen. Die Wächter sollten durch reguläre Einheiten abgelöst werden, als der Staat damit begann, seine eigene Polizei wieder einzurichten.
Sie sahen sich als künftige Arbeitslose und schritten daher zur Besetzung der Erdölquellen und Verladehäfen, soweit sie diese in ihre Gewalt bringen konnten. Es gab Vermittlungsversuche zwischen ihnen und der Regierung, die aber nichts fruchteten. Im Verlauf der Monate fassten die Wächter den Plan, Erdöl auf eigene Rechnung zu verkaufen. Mehrmals konnte die Regierung dieses Vorhaben verhindern. Doch diesmal ist es den Besetzern gelungen.
Schattenfirma unter nordkoreanischer Flagge
Der Tanker heisst "Morning Glory" und führt die Flagge von Nord Korea. Seine wirklichen Besitzer oder Mieter halten sich verborgen. Ein Gerücht will von einer saudischen Firma wissen. Die Jathran Gruppe erklärt, sie habe eine eigene Ölgesellschaft gegründet. Diese führe Buch über das von ihr verkaufte Erdöl. Jathran fordert die Bildung einer "unabhängigen" Kommission, welche die drei Regionen Libyens repräsentieren soll, Tripolitanien, Fezzan und Cyrenaika. Sie soll festlegen, wieviel Erdöleinnahmen einer jeden Region zustehen und dabei dafür sorgen, dass die Cyrenaika am meisten erhält. Jathran versucht so, die Gunst der Bevölkerung der Cyrenaika (Hauptstadt Benghazi) für sich zu gewinnen.
Libysche Ungleichgewichte
Die Cyrenaika als Region produziert das meiste Erdöl Libyens. Aber unter Ghaddafi wurde die Provinz zu Gunsten von Tripolitanien und der Stadt Sirte (Heimat Ghaddafis) vernachlässigt. Viele Bürger der Cyrenaika möchten dies nun korrigieren. Es besteht eine Ungleichheit in der Grenzziehung der drei Landesteile. Die Provinz "Cyrenaika", im Osten Libyens, erstreckt sich südlich über die ganze Sahara bis an die Grenze von Tchad. Auf der westlichen Seite Libyens müssen sich die beiden Landesteile, Tripolitanien im Norden und Fezzan im Süden, in die westliche Hälfte Libyens teilen.
Das Erdöl des Westens wird grossenteils im Fezzan gefördert, dann aber nach Norden durch Tripolitanien zum Mittelmeer transportiert. Das Erdöl "der Cyrenaika" wird tief in der Wüste, jedoch stets auf "cyrenaikischem" Gebiet gefördert und dann durch die Cyrenaika hindurch nach Norden bis ans Mittelmeer gepumpt. Der grösste der "cyrenaikischen" Verladehäfen ist Sidra, von wo nun die "Morning Glory" mit ihrer Ladung entwichen ist.
Die willkürliche Festlegung der regionalen Grenzen führt dazu, dass weder Tripolitanien noch der Fezzan damit einverstanden sein werden, dass - wie viele der Bewohner der Cyrenaika-Provinz fordern - eine jede Region Libyens über das Erdöl verfügen soll, das in ihr gefördert wird. Die drei Regionen Libyens besassen zwischen 1951 und 1963, das heisst bevor die Erdölförderung begann, Autonomie.
Kriegsdrohungen, ernst zu nehmen?
Die Regierung Libyens hat damit gedroht, den Tanker zu bombardieren, wenn er aus Sidra auslaufe. Sie hatte dann der "libyschen Kriegsflotte" den Befehl erteilt, sich des Tankers zu bemächtigen und ihn nach Tripolis zu geleiten. Sie hatte auch am 10.März - offensichtlich vorschnell - erklärt, die Flotte habe das Kommando über den Tanker übernommen, dieser warte 20 Kilometer von Sidra entfernt in den Küstengewässern darauf, am nächsten Morgen nach Tripolis geleitet zu werden. Die Rebellengruppe in Sidra dementierte dies über eine in ihrem Besitz befindliche Fernsehstation und erklärte: "Die Regierung lügt wie gewöhnlich. Der Tanker liegt in Sidra unter unserer Kontrolle"
Es erwies sich, dass die Aussagen der Rebellen zutrafen. Der Tanker befand sich im Hafen von Sidra. Am 11. März, nachts um drei Uhr, lief er aus und gewann die hohe See. Wie die Rebellen einem Journalisten von BBC vor Ort erklärten, sei dies unter Geleit von fünf bewaffenten Booten der Rebellen geschehen. Offenbar haben diese auch ihre "Kriegsflotte".
Blamage der Regierung
Als es Tag wurde, mussten die Regierungssprecher einräumen, dass der Tanker entschwunden war. Sie schoben die Verantwortung auf das schlechte Wetter. Sie sagten, dieses habe die "Flotte" gezwungen, nah an der Küste zu bleiben und den Tanker entwischen zu lassen. - Die "Flotte" dürfte bloss aus einigen bewaffneten Küstenbooten bestehen.
Die Angelegenheit hatte ein Nachspiel im Parlament von Tripolis. Dieses sprach dem Ministerpräsidenten Ali Zeidan sein Misstrauen aus, mit 124 gegen 56 Stimmen. Auch andere etwas abweichende Zahlen wurden genannt. Als provisorischer Ministerpräsident wurde der Verteidigungsminister Abdullah ath-Thinni eingesetzt. In der Vertrauensdebatte klagte Zeidan, die Streitkräfte gehorchten nicht der Regierung.
Marsch auf die Erdölhäfen?
Das Parlament beschloss auch, die cyrenaikischen Erdölhäfen nötigenfalls mit Gewalt "zu befreien". Der Parlamentspräsident gab Befehl, die "libyschen Truppen" hätten dies innerhalb von acht Tagen zu bewerkstelligen. Da es allerdings nur allererste Ansätze zu einer staatlichen Armee gibt, die zudem der Feuerkraft der Milizen weit unterlegen ist, sollten die Milizen von Misrata sollten "gemeinsam mit der Armee" diesen Feldzug durchführen.
Misrata ist heute eine inoffizielle Stadtrepublik mit potenten Milizen unter ihren eigenen Anführern und mit eigenen Waffenlagern, die gelegentlich, wenn es ihren Zwecken entspricht, mit ihren Waffen die Regierung unterstützen. Manchmal stellen sie sich auch gegen sie. Weil Misrata in Tripolitanien liegt, hat die Stadt ein Interesse daran, dass das Erdöleinkommen nicht so aufgeteilt wird, wie es die Hafenbesetzer aus der Cyrenaika fordern, nämlich zum Vorteil des östlichen Landesteiles. In ihrem Interesse liegt, dass die Erdöleinnahmen weiterhin zentral verwaltet und von der Zentrale verteilt werden.
Konfrontation, zunächst mit Worten
Jathran hat seinerseits gewarnt, wenn die Regierung versuche, der Erdölhäfen der Cyrenaika habhaft zu werden, werde er Widerstand leisten, und dann begänne ein Bürgerkrieg. Ein gewisser Abd-Rabbo Abrassi, der sich Ministerpräsident der Cyrenaika nennt, liess verlauten, die Hafenbesetzer hätten Truppen "zu Wasser und zu Lande" nach dem Zentrum von Libyen entsandt, um einem Angriff aus Tripolitanien entgegenzutreten. Einen solchen, den man dann einen Ölkrieg nennen müsste, möchten natürlich alle Libyer vermeiden.
Falls es Tripolis gelänge, eine stark überlegene Streitmacht nach der Cyrenaika zu senden, wäre denkbar, dass die Hafenbesetzer nachgäben, ohne einen Kampf zu wagen. Doch wenn die angekündigte Streitmacht sich als schwach erweisen sollte, oder nicht einmal einsetzbar wäre, würde die faktische Loslösung der Cyrenaika von Tripolis immer mehr an Dynamik gewinnen. Jathran und Abrassi würden vermutlich versuchen, ihre Pläne für die Cyrenaika durchzusetzen und im gleichen Zug eine oder gar die herrschende Kraft in Ost-Libyen zu werden.
Viele konkurrierende Milizen
Ihre Milizen sind jedoch keineswegs die einzigen, die es in der Provinz Cyrenaika gibt. Einen mächtigen Gegenspieler dürften die islamistischen Kämpfer darstellen, die die Stadt Derna, östlich von Benghazi, zum Zentrum haben. Aber es gibt Dutzende wenn nicht Hunderte verschiedenster Milizen. Sie schliessen Bündnisse untereinander und brechen sie wieder, je nach dem Gutdünken ihrer Anführer. Manchmal verständigen sie sich auch mit dem Staat. Die Stammesloyalitäten wirken im Sinn des Zusammenhaltes bestimmter Gruppen.Es gibt auch die übergeordneten gemeinsamen Interessen der Bewohner der Cyrenaika Provinz, in erster Linie das Erdöl.
In den südlichen Sahara Teilen des Cyrenaika Gebietes leben neben Arabern auch ethnische Minderheiten von Berbern und Toubou. Sie haben ebenfalls ihren Anspruch angemeldet, mitzureden und beteiligt zu werden. Um diesen Anspruch zu unterstreichen, haben manche ihrer Milizen Erdölquellen besetzt, die in oder nahe bei den von ihnen bewohnten Wüstengebieten liegen. All dies wird es Jathran und Abrassi nicht leicht machen, ihre Pläne für die Cyrenaika innerhalb des Cyrenaika Gebietes durchzusetzen. Gleichzeitig werden sie natürlich auch auf grossen äusseren Widerstand in Tripolitanien und im Fezzan stossen.
Ungeduld und Enttäuschung der Bürger
Die grosse Mehrheit der Libyer, die nicht zu den bewaffneten Milizen gehört, fordert die Rückkehr zur Normalität. Sie ist mit der Regierung unzufrieden, weil sie es nicht fertig brachte, Ruhe und Ordnung zu garantieren und mehr Arbeitsplätze in Libyen zu schaffen. Dies hatten die meisten Syrer für die Zeit nach dem Sturz Ghaddafis als mindestes erwartet. Zu ihren Forderungen gehörte auch eine neue Ordnung, welche die Ungleichheiten zwischen den Provinzen ausgleichen sollte.
Stattdessen sind nun schon drei Jahre vergangen, ohne dass diese Minimalziele auch nur annähernd erreicht worden wären. Der Unmut äussert sich in Demonstrationen gegen die Politiker und das Parlament. Dieses wurde kürzlich von Unzufriedenen gestürmt und geplündert. Die Abgeordneten tagen seither in einem Luxushotel der Hauptstadt. Aber die Demonstranten in Tripolis forderten die sofortige Auflösung des Parlamentes. Daraufhin versprachen ihnen die Politiker baldige Neuwahlen.
Es kam auch zu Demonstrationen der Bürger gegen die Milizen. Diese Demonstrationen erwiesen sich als gefährlicher. Dabei gab es Todesopfer unter den Demonstranten, als die Milizen das Feuer eröffneten.
Wahlen für eine Verfassungsversammlung
Zuerst sollte jedoch eigentlich eine endültige Verfassung für Libyen ausgearbeitet werden. Das Land wird bisher unter einer provisorischen Verfassungserklärung aus der ersten Zeit nach dem Sturz Ghaddafis regiert.
In der vergangenen Woche haben die Libyer eine 70-köpfige Verfassungsversammlung gewählt, die, falls sie wirklich zusammentritt, beginnen soll, die Verfassung zu schreiben. Die Wahlen wurden dadurch gestört, dass die Minderheiten der Berber und Toubou verlangten, sie müssten durch mehr Repräsentanten vertreten sein als bloss durch die jeweilen einen, die vorgesehen waren. Die Resultate dieser Wahlen sind noch nicht bekannt.
Flottierende Parlamentsmehrheiten
Das bisherige Parlament war weitgehend aus unabhängigen Kandidaten zusammengesetzt, die sich zu losen Wahlbündnissen zusammengeschlossen hatten. Im Parlament bildeten sich daraufhin immer wechselnde Zweckkoalitionen je nachdem, über welche Belange abgestimmt wurde. Nur die Islamisten besassen einen festen Stamm von Vertretern, der allerdings nur eine Minderheit gegenüber den Unabhängigen bildete. Es kam angesichts des politischen Gewichtes der Milizen auch dazu, dass gewisse Gruppen von Parlamentariern Aktionsbündnisse mit bestimmten Milizen eingingen, um ihre Interessen voranzubringen.
Die Milizen könnten dazu dienen, auf die nicht mit ihnen verbündeten Parlamentarier Druck auszuüben, sogar wenn diese die Parlamentsmehrheit bildeten. Dabei konnten auch Geldsummen in dieser oder in jener Richtung fliessen. Durch solche Spiele wurde natürlich die Transparenz des parlamentarischen Geschehens getrübt und der latent immer vorhandene Korruptionsverdacht bei der Bevölkerung geschürt. Die Milizführer ihrerseits versuchen die Missstimmung der Bevölkerung für sich auszunützen.
Kommt schliesslich ein Starker Mann?
Vorläufig gibt es in Libyen zu viele Starke Männer, so dass die Bevölkerung sich nicht für einen von ihnen entscheiden und von ihm die Heilung aller Übelstände erwarten könnte, wie es zur Zeit mit as-Sissi in Ägypten geschieht. Doch wenn sich je ein herausragender Starker Mann abzeichnen sollte, wäre sehr wohl zu erwarten, dass grosse Teile der von der bisherigen "Demokratie" enttäuschten libyschen Bürger ihm zujubeln würden. Nicht sehr anders als es im Fall von Ghaddafi war, als dieser 1969 als junger Offizier die Macht übernahm.
Wenn sich jedoch keiner der vielen Starken Männer im Lande durchsetzen kann, muss man befürchten, dass Libyen als Staat zerbricht und das Land sich in von den unterschiedlichen Milizen beherrschte Teilgebiete aufspaltet.
Viel Geld versickert
Noch verfügt die Zentralregierung über Geldreserven, die sie einsetzt, um einen Schein von Kontrolle über das Land zu wahren, indem sie alle seine Beamten bezahlt. Das Parlament hat sogar beschlossen, dass alle Beamtengehälter um 20 Prozent erhöht werden sollen, um die Staatsangestellten bei der Stange zu halten. Die Ölförderung ist jedoch soweit zurückgegangen, dass diese Gelder aus den Reserven und aus der Rendite der staatlichen Geldanlagen genommen werden müssen. Schätzungen besagen, es könnte vielleicht noch sechs Monate lang so weiter gehen.
Die Gelder gehen jedoch unvermeidlich zu ende, wenn das Erdöl nicht fliesst. Libyen förderte und verkaufte im vergangenen Jahr 1,5 Millionen Barrel im Tag. Im vergangenen Monat war der Betrag auf 100´000 Barrel gesunken. Zur Zeit ist er wieder etwas gestiegen, auf 263´000, weil es der Regierung gelungen ist, mit einigen Besetzern von Erdölvorkommen im tiefen Süden des Landes übereinzukommen und dieses Erdöl über tripolitanische Häfen zu exportieren. Doch der Coup, der den Besetzern von Sidra gelungen ist, wird natürlich alle anderen Interessenten und Rivalen dazu motivieren, etwas Vergleichbares in die Wege zu leiten.