El Comandante konnte in den vergangenen Jahren schalten und walten, wie es ihm beliebte. Dank der Kurzsichtigkeit der Opposition: Sie hatte 2005 die Parlamentswahl boykottiert und sich damit selbst politisch ins Abseits manövriert. Der ehemalige Fallschirmoberst Chávez, der Venezuela seit elf Jahren regiert, sicherte sich die hundertprozentige Kontrolle über die Legislative und baute seine Machtbasis weiter aus. Jetzt ist es seinen politischen Gegnern gelungen, das mutwillig preisgegebene Terrain mit vereinten Kräften zurück zu gewinnen. Die Allianz der „Demokratischen Einheit“, der sich mehr als 20 Oppositionsgruppierungen angeschlossen hatten, um die Hegemonie der Chávistas in der Nationalversammlung zu brechen, gewann am Sonntag bei der Parlamentswahl mindestens 61 der 165 Mandate. Die Sozialistische Einheitspartei von Chávez wird in der Nationalversammlung mindestens 90 Abgeordnete stellen. Sie verfehlte damit die Zweidrittelmehrheit, die der Präsident anstrebte, um seinen „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ auch künftig ohne die geringste Rücksicht auf die Opposition vorantreiben zu können.
Heilsbringer für die einen – Diktator für die anderen
Wirklich stoppen lassen wird sich Chávez dennoch kaum. Sein Handlungsspielraum im Parlament ist zwar kleiner geworden. Er verfügt aber weiterhin über eine solide Basis in der Legislative und kontrolliert auch die anderen staatlichen Institutionen sowie Venezuelas wichtigste Einnahmequelle: die Erlöse aus den Erdölexporten. Darüber hinaus dürfte er davon profitieren, dass die Opposition keineswegs homogen ist. Seine Gegner sind sich einig, dass Chávez lieber heute als morgen entmachtet werden müsste; ihre Vorstellungen, wie ein Venezuela ohne Chávez aussehen soll, gehen aber teilweise weit auseinander. Der charismatische Linkspopulist, der polarisiert wie kein anderer südamerikanischer Staatschef, propagiert eine vom kubanischen Modell inspirierte sozialistische Gesellschaftsordnung mit Verstaatlichungen ganzer Industriezweige und umfangreichen Sozialprogrammen. Er kommt damit vor allem bei den Armen gut an, seine Anhänger sehen in ihm den unerschrockenen Kämpfer wider die Oligarchie und für Gerechtigkeit, Solidarität, Brüderlichkeit und Freiheit. In den Augen seiner Kritiker hingegen entwickelt er sich immer stärker zu einem absoluten Herrscher.
Chávez verfügt tatsächlich über einen ausgeprägten Machttrieb und ein enormes Sendungsbewusstsein. Er ist absolut intolerant gegenüber jenen, die seiner nach dem südamerikanischen Unabhängigkeitskämpfer Simón Bolívar (1783 bis 1830) benannten „Bolivarischen Revolution“ nichts abgewinnen können, beschimpft Andersdenkende als Vaterlandsverräter und steigert sich zusehends in seine Rolle als unentbehrlicher Heilsbringer für ganz Lateinamerika hinein. Das macht ihn aber noch nicht zum Diktator. Einmal abgesehen davon, dass mehrere Wahlsiege ihn demokratisch legitimieren: Unter Chávez entstand in Venezuela ein breiter Freiraum für ungezählte Aktivitäten von unten, mit der Einführung von Volksabstimmungen und Bürgerräten wurden die basisdemokratischen Rechte ausgeweitet. Mehr und mehr machte er allerdings auch die Bürgerräte zu Instrumenten seiner Revolution. Chávez, kritisiert die Historikerin Margarita López Maya, habe sich von einer partizipativen Demokratie abgewandt und poche nun auf einen autoritären und militärischen Sozialismus.
Massiver Popularitätsverlust
Die pensionierte Uni-Professorin gehört zur ständig grösser werdenden Gruppe von ehemaligen Chávez-Anhängern, die zu ihm auf Distanz gegangen sind, weil sie mit der Zentralisierung der Macht in seiner Person nicht einverstanden sind. Laut jüngsten Meinungsumfragen stehen heute weniger als 40 Prozent der Venezolaner hinter dem Präsidenten. Bei einem Grossteil der Bevölkerung dürfte in erster Linie die tiefe Wirtschaftskrise Grund für die wachsende Unzufriedenheit sein. Venezuela steckt schon im zweiten Jahr in einer Rezession, und es deutet nichts auf einen baldigen Aufschwung hin. Das Bruttoinlandprodukt ist in den ersten sechs Monaten des laufenden Jahres um 3,5 Prozent gesunken. Die Inflationsrate beträgt 20 Prozent und wird wahrscheinlich bis Ende Jahr auf mehr als 30 Prozent klettern. Offiziell sind elf Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung arbeitslos, die tatsächliche Zahl ist jedoch wesentlich höher. Eine Reihe von Korruptionsskandalen, in die Parteigänger des Präsidenten verwickelt waren, die zunehmende Kriminalität und die Ineffizienz des öffentlichen Sektors haben ebenfalls zur starken Popularitätseinbusse beigetragen.
Chávez hat die Parlamentswahl wie jeden Urnengang in seinem Land zu einem Referendum für oder wider ihn umfunktioniert. Er hat einmal mehr gesiegt, aber nicht so deutlich, wie er und seine Anhänger gehofft hatten. Und dies, obschon das Wahlsystem die Regierungspartei begünstigte. Seine Beliebtheit wird nach diesem Erfolg nicht automatisch wieder steigen, und die Präsidentenwahl 2012 hat er noch längst nicht gewonnen. Chávez verfügte bisher dank der Erdölausfuhren über genügend Geld, um mit zahlreichen Sozialprojekten die Not kurzfristig etwas zu lindern. Er versäumte es jedoch, im Kampf gegen die Armut nachhaltige Strategien zu entwickeln. Seine Sozialpolitik steht und fällt mit dem Öl. Wenn die Erlöse sinken, werden sich viele seiner so genannten „Missionen“ nicht mehr finanzieren lassen. Gelingt es Chávez bis dann nicht, dauerhafte Reformen in die Wege zu leiten, könnte ihm das gleiche Schicksal widerfahren wie seinem grossen Vorbild Simón Bolívar, der mit seinen Visionen an der politischen und sozialen Wirklichkeit gescheitert ist.