Die OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, früher KSZE oder kurz ‘Helsinki’) hat ein Problem. Im zentralen Teil, den Rechten des Individuums, hat sie bedeutend mehr Konkurrenz als in den 70-er und 80-er Jahren des letzten Jahrhunderts, als ‘Helsinki’ mit zur grossen europäischen Zeitenwende 1990 beitrug.
Die EU, der Europarat, zahlreiche NGOs (Nicht-Regierungsorganisationen) und, wie in der Ukraine aktuell, nationale Bürgergesellschaften, bilden heute in Europa solide Barrieren gegen autoritäre Politiker und totalitäre Tendenzen.
Die Schweiz – von Anfang an dabei
Die Schweiz hat sich - als grosse Ausnahme vom aussenpolitischen Stillesitzen nach dem 2. Weltkrieg - seit Beginn des Helsinki-Prozesses als Vorkämpferin und Vordenkerin profiliert. Als erstes Mitglied wurde ihr, - auch dafür - bereits ein zweites Mal das Präsidium der OSZE-Ministerkonferenz übertragen.
Im Jahr 2015 wird Serbien der Vorsitz übertragen. Angesichts der serbischen Menschenrechtsbilanz wird Belgrad allerdings ein "Götti" zur Seite gestellt. Und dieser "Götti" ist die Schweiz. Ein solcher "Tandem-Vorsitz" ist ein Primeur und ein Bekenntnis für die schweizerische OSZE-Politik.
Entsprechend hoch sind die Erwartungen an die Schweiz. Man ist überzeugt, dass es unserer Diplomatie gelingten wird, mit genügend Mitteln die schwächelnde OSZE wieder auf eine erfolgreiche Bahn zu bringen - ein Bahn, die speziell auf sie zugeschnitten ist.
Botschafterin Heidi Grau, Chefin des OSZE-Vorsitzstabes im schweizerischen Aussenministerium EDA, umriss in Zürich diese anspruchsvolle Aufgabe anlässlich eines kürzlichen Seminars des Zentrums für Sicherheitsstudien (CSS) der ETH.
Fortschritte sind möglich
Sie zeigte sich insbesondere optimistisch, dass Versöhnung und Zusammenarbeit im Westbalkan, also im Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens, weiter vorangetrieben werden können. Da ja der Kosovo noch kein universell anerkannter Staat ist, hat Pristina keinen Einsitz in internationalen Organisationen, so auch nicht in der OSZE. Seinem internationalen Hauptkontrahenten Serbien könnten die notwendigen Konzessionen im beschriebenen OSZE-Verbund leichter fallen als im bilateralen Verkehr.
Auch was die im Aufgabenkatalog der OSZE verankerte Bekämpfung von transnationalen Bedrohungen wie Terrorismus und Cyberkriminalität anbelangt, glaubt Grau, dass konkrete Fortschritte möglich sein sollten. Damit würde wiederum für das am kürzlichen Ministertreffen in Kiew lancierte Programm ‘Helsinki plus 40’ (2015: 40 Jahre nach der Unterzeichnung der Helsinki-Schlussakte) eine Basis geschaffen.
Neue Bedeutung für die OSZE
Die aktuellen Ereignisse in der Ukraine bieten Anschauung für die eine der zwei grossen aktuellen Herausforderungen an die OSZE. Auf der einen Seite besteht heute ein - durch die OSZE-Prinzipien legitimiertes - Verlangen nach persönlicher Freiheit und gerechterer Verteilung materiellen Fortschritts. Auf der anderen Seite drohen im Osten Europas weiterhin autoritäres Machgehabe und gewaltsame Unterdrückung. Hinter der harten Haltung der ukrainischen Staatsspitze gegen grosse Teile des eigenen Volkes sehen ja zahlreiche internationale Beobachter immer stärkeren postsowjetischen Druck von Präsident Putin. Eine OSZE ohne Russland ist aber nicht möglich, eine OSZE, die völlig von Russland blockiert wird, ist aber nicht nützlich.
Botschafterin Grau sieht denn auch hier eine grosse Aufgabe des schweizerischen Vorsitzes. In geduldiger Diplomatie, aber ohne Prinzipien zu ritzen, muss Moskau dazu gebracht werden, die von russischer Seite speziell ungeliebte Organisation zu begreifen, und zwar in seinem eigenen Interesse. Der Journalist und CSS-Mitarbeiter Christian Nünlist, welcher das Seminar mit einem historischen Überblick einleitete, sieht interessanterweise hier primär eine Chance. Wegen, nicht trotz solchem Rückfall in die europäische Geschichte vor 1990, gewinne die OSZE heute wieder einen Teil der Bedeutung von damals.
In Asien sinkt das Ansehen Europas
Die zweite aktuelle Herausfoderung der OSZE liegt anderswo, ist aber womöglich noch grösser. ‘Helsinki’ ist Kind einer Zeit, als der Schwerpunkt aller internationaler Politik noch im Nordatlantik, in Europa und den USA lag. Heute hat sich dieser in den asiatisch-pazifischen Grossraum verlagert, wo die USA, nicht aber Europa weiter eine Hauptrolle spielen. Das Ansehen von Europa in Asien, und damit auch von ‘Helsinki’, das dort als ein europäisches Konstrukt wahrgenommen wird, ist weiter im Abnehmen begriffen. So gesehen muss die OSZE unbedingt ihre europäischen Hausaufgaben - im Balkan, im Kaukasus, beim Schutz von Minderheiten, bei der Garantie von Sicherheit und ganz speziell bei der Verbesserung der Lebensbedingungen der Einzelnen - lösen, um in globaler Perspektive als glaubwürdig und nützlich zu erscheinen.
So sind beide Hauptaufgaben von Doppelpräsident Burkhalter für 2014 zutiefst europäisch. Unter seinem Vorsitz geht es national darum, europhobe Initiativen und Tendenzen zu schwächen. International kann die Schweiz, für einmal, mit einer erfolgreichen OSZE-Präsidentschaft auch eine europapolitische Grosstat vollbringen.