Vor achtzig Jahren erlebte das italienische Städtchen am Lago Maggiore die Tragödie einer nazi-faschistischen Säuberungsaktion. Manche sprachen von einem Wunder. – Unser Gastautor erinnert sich wegen familiärer Bezüge zum Geschehen.
Der Germanist und Anglist Roland Zanni hat Cannobio, den Geburtsort seines Urgrossvaters, oft besucht und sich immer für die Geschichte der einheimischen Partisanen im Zweiten Weltkrieg interessiert. Höchstwahrscheinlich waren auch Verwandte des Verfassers am Kampf um die Befreiung Cannobios beteiligt.
Verlässt man das am westlichen Ufer des Lago Maggiore gelegene italienische Städtchen Cannobio in südlicher Richtung auf der nach Cannero und Verbano führenden Strada Statale 34, erreicht man nach kurzer Distanz eine auf der rechten Strassenseite neben einem Parkplatz gelegene Gedenkstätte, ein Monument, das an die Gefallenen des Ersten und Zweiten Weltkriegs erinnern soll («Caddero i figli che Cannobio onora»). Auf einem rechteckigen, grabhügelähnlichen Steinsockel erhebt sich die bronzene Statue eines behelmten Soldaten, der mit seiner rechten Hand die Flagge Italiens, die Tricolore, fest umfasst und über einen stillen, kaum besuchten Parco della Memoria Wache zu halten scheint.
Nicht weit von diesem Denkmal entfernt trifft man in einer Grünanlage auf ein etwa fünf Meter hohes Ehrenmal, eine Ehrenbezeugung der Stadt Cannobio an die Partisanen, die sich ab September 1943 als Widerstandsbewegung gegen die nazi-faschistische Unterdrückung erhoben, als Resistenza in den gebirgigen Regionen des Piemont operierten und ein grosses Gebiet um Domodossola, das Ossola-Tal, von den Nazis befreiten, um im September 1944 die Partisanenrepublik Ossola zu gründen.
Der obere Teil der Gedenkstätte zeigt in Form eines Flachreliefs einen nackten, allein von seinem Freiheitswillen beseelten Partisanen, der einen geflügelten Löwen, der für den Hochmut der nazi-faschistischen Armee steht, niederstreckt. Die Darstellung ruft mit ihrer Symbolkraft eine unerhörte Begebenheit wach, die sich vor etwas mehr als achtzig Jahren in Cannobio, damals vom deutschen Zollgrenzschutz besetzt, zugetragen hat. Es handelt sich um ein menschliches Drama, das den Tausenden von Touristen, die jedes Jahr im Sommer das hübsche Städtchen Cannobio mit seinem berühmten Mercato am See besuchen, kaum bekannt ist. Erminio Ferrari schreibt darüber in einem Buch (La Liberazione. Cannobio agosto-settembre 1944, Edizione Tararà 2006) und lässt Augenzeugen zu Wort kommen.
Am Samstagabend des 26. August 1944 brach eine aus vier Männern bestehende Partisanengruppe von einer Alphütte im Valle Cannobina nach Cannobio auf, um entweder – hier sind sich die Augenzeugen nicht sicher – deutsche Soldaten in einen Hinterhalt zu locken und gefangen zu nehmen für einen späteren Austausch gegen Zivilpersonen, die von den Deutschen in Geiselhaft genommen worden waren, oder um sich mit zwei Maschinengewehren, die sie bei einem befreundeten Cannobiese versteckt hatten, auszurüsten.
Jedenfalls bewegten sich die vier Partisanen barfüssig, um Lärm zu vermeiden, Richtung Cannobio-Zentrum. Angekommen bei den «Quattro Strade», stiessen sie plötzlich auf eine deutsche Patrouille des Zollgrenzschutzes, die sich auf Ronde befand. Dann ging alles sehr schnell. Einer der Partisanen sprang auf die deutsche Streife zu, befahl auf Italienisch «Mani in alto!» und feuerte den ersten Schuss ab. Es folgte ein Schusswechsel, in dem drei Deutsche getötet und einer verletzt wurde. Zwei Kugeln trafen das Bein eines Partisanen, der trotz seiner Verletzung zusammen mit den drei anderen anschliessend in den südwestlichen Ortsteil Traffiume fliehen konnte. Von dort aus fuhr ein Aufständischer der Partisanenbrigade «Perotti» den Angeschossenen zunächst mit dem Auto nach Socraggio und versteckte ihn in einer Alphütte. Am folgenden Tag trug man ihn auf einer Bahre in das höher gelegene Bergdorf Olzeno. Ein Arzt verpasste ihm eine Tetanusspritze. Später brachten ihn Zivilisten nach Domodossola, wo er operiert wurde.
Der Zusammenstoss bei den «Quattro Strade», insbesondere die Tötung der drei deutschen Soldaten, führte zu einer schrecklichen, denkwürdigen Säuberungs- und Strafmassnahme, zum sog. «Rastrellamento». Das deutsche Kommando von Cannobio alarmierte noch in der gleichen Nacht die Vorgesetzten der italienischen Besatzungsmacht unter Feldmarschall Albert Kesselring, der für sein gnadenloses, unmenschliches Vorgehen im Falle von Angriffen durch Partisanen bekannt war und in jedem Fall die unverzügliche Bestrafung über die sofortige Meldung eines Vorfalls stellte, dies ohne Ansehen von Person und Status.
Am Sonntagmorgen um sieben Uhr legte ein Schnellboot mit einem improvisierten Strafexpeditionscorps von fünfzig deutschen Soldaten und italienischen Faschisten im Hafen von Cannobio an. Die Truppe stand unter der Leitung des SS-Hauptsturmführers Hans Clemens, bekannt unter dem Spitznamen «Tiger von Rom und Como». Kaum an Land, befahl er, das ganze Gebiet vom Hafen bis zu den «Quattro Strade» durchzukämmen. Die Männer drangen in jedes Haus des Borgo ein, nahmen mit vorgehaltener Waffe wahllos Menschen in Geiselhaft und zwangen sie, sich zum Hauptquartier des Zollgrenzschutzes, auf die Terrasse des «Albergo Cannobio», zu begeben und sich dort in Reih und Glied aufzustellen. Die Soldaten machten nicht einmal Halt vor der Kirche, sondern nötigten sowohl den Priester als auch die Besucher der gerade stattfindenden Messe, die Kirche zu verlassen.
Während alle Häuser, Höfe, Gärten und sogar Hühnerställe in der Umgebung der «Quattro Strade» durchsucht wurden, erhielt der Bürgermeister Reschigna den Befehl, in der Sägerei Brocca drei Holzgalgen zimmern zu lassen. Zugleich führte man einen Schmied, der sich unter den Geiseln befand, zurück in seine Werkstatt, denn er musste für die Befestigungsringe der Henkerseile sorgen. Anschliessend wurden auf der Piazza vor dem Albergo Cannobio die drei Galgen errichtet. Der deutsche Kommandant forderte Reschigna auf, vierzig Geiseln zur Erschiessung zu bestimmen und drei Männer zu bezeichnen, die aufgehängt werden sollten. Reschigna beteuerte darauf die Unschuld aller Cannobianer und flehte den Kommandanten an, von seiner grausamen Repressalie abzusehen. Zitternd und unter Tränen zeigte er sich bereit, sein eigenes Leben für die drei zu strangulierenden Einwohner herzugeben und eine Million Lire für die Familien der getöteten Deutschen zu spenden.
Vielleicht war es der Opferbereitschaft des Bürgermeisters und auch den Überredungskünsten des Geistlichen von Cannobio zu verdanken, vielleicht aber auch der Aussage des bei den «Quattro Strade» verwundeten deutschen Soldaten, der zugab, keinen Einwohner des Dorfes zu kennen, auch niemanden beschuldigte, vielmehr Partisanen hinter der Aktion vermutete, dass am 27. August 1944 kein Cannobiese am Galgen hingerichtet oder erschossen wurde.
Die Nazis und Faschisten wollten jedoch angesichts der drei toten deutschen Soldaten nicht einfach unverrichteter Dinge abziehen, die drei Galgen forderten ihren Tribut. So verfügte der deutsche Kommandant, dass 55 Männer, angeführt vom Bürgermeister und sechs deutschen Soldaten, als Geiseln per Schiff über den See nach Luino transportiert wurden. 14 Männer steckte man in Luino ins Gefängnis und führte sie eine Woche später nach Cannobio zurück. Die anderen brachte man auf Lastwagen nach Milano ins San-Vittore-Gefängnis, das als Sammellager für die Deportationen nach Deutschland diente. Zwei Cannobianer konnten erfolgreich fliehen, während andere in den deutschen Konzentrationslagern umkamen oder einige Mitte September 1944 mit Partisanen gegen gefangene Fallschirmjäger der Fallschirmjägerbrigade «Fulgore» ausgetauscht wurden. Sechs Männer, die Zeugen des Dramas vor dem Hotel Cannobio wurden, kehrten nie mehr nach Cannobio zurück: Aldo Carmine, Eugenio Giana, Giovanni Mozzati, Giovanni Travella, Giacomo Zanni und Giacomo Ferrari.
Ein Jahr nach der blutigen Intervention bei den «Quattro Strade» brachte man an der Mauer der Via Guglielmo Marconi eine Gedenktafel an, die das tragische Ereignis vom Sonntag des 27. August 1944 auf etwas seltsam heroisierende Weise als grosses Wunder interpretiert, weil kein Cannobiese durch Stangulierung an einem der drei Galgen geopfert werden musste – obwohl für das Mirakel jedoch die Deportation von 55 Geiseln in die deutschen Konzentrationslager nötig gewesen sei. Der Text spricht von der Tötung dreier «deutscher Provokateure» und von den unwissenden, unschuldig der Säuberungsaktion ausgesetzten Menschen von Cannobio. Die Partisanen finden keine Erwähnung.
Die in den Bergen, Tälern und Wäldern oberhalb des Lago Maggiore organisierten Widerstandskämpfer der Resistenza hielten sich unmittelbar nach der Schiesserei bei den «Quattro Strade» und den Repressalien durch die Deutschen ruhig, da eine grössere, sorgfältig geplante militärische Aktion unmittelbar bevorstand: Am 2. September 1944 eroberten und befreiten die Partisanen Cannobio. Die Einnahme des Städtchens war sozusagen der Startschuss für weitere militärischen Erfolge der Partisanen, die am 10. September 1944 zur Gründung der Reppublica dell’ Ossola führte. Nach dem militärstrategisch beispielhaft organisierten Partisanenkampf um Cannobio war es jedoch von besonderer Tragik, dass es den nazi-faschistischen Truppen gelang, Cannobio nach wenigen Tagen zurückzuerobern.