Jahresende, Neuanfang, die Medien voll von Titeln und Artikeln zum Krieg. Mehr als hunderttausend Soldaten hat die Grossmacht in der Grenzregion schon zusammengezogen, der Konflikt kann jeden Tag ausbrechen.
Wovon ist da die Rede? Von Russlands Vorbereitungen auf die Attacke gegen die Ukraine? Nein, es geht um die Jahreswende 2002/2003, die Grossmacht heisst USA, das Angriffsziel Irak. Zwanzig Jahre ist das her. George W. Bush versprach einen sehr kurzen Waffengang, der britische Premier, Tony Blair, leistete ihm Sukkurs und versprach, mehr als 60’000 Briten ins Zweistromland zu entsenden, um – ja weshalb denn eigentlich?
US-Präsident Bush hatte Monate zuvor eine Rede über die «Achse des Bösen» gehalten. Darin warf Bush dem irakischen Diktator vor, er besitze oder produziere Massenvernichtungswaffen (chemische, biologische, atomare) und bedrohe damit die ganze Welt.
«Unsere Soldaten werden in Bagdad mit Rosen empfangen»
Iraks Alleinherrscher sah sich genötigt, die Inspekteure der Internationalen Atomenergie-Agentur ins Land zu lassen. Sie stellten fest, dass sie nichts Greifbares feststellen konnten, d. h., dass sie nirgendwo auf die von George W. Bush beschworenen Waffen stiessen.
Als das Massenvernichtungs-Argument sich nicht mehr als überzeugend erwies, erhob Washington den Vorwurf einer Verbindung zwischen Iraks Regime und der Terrororganisation al-Qaida. Danach tauchte die These auf, Irak habe aus Niger Uran in der Absicht erworben, Atomwaffen zu produzieren. Die These erwies sich als Fälschung von seiten des britischen Geheimdienstes. Daraufhin erklärte die US-Regierung, Saddam Hussein müsse entfernt werden, weil er sein Volk unterdrücke und weil nur ohne Saddam Irak zur Demokratie werden könne. Und, dies sagte US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, das Volk Iraks lechze förmlich nach Demokratie, und sei die Diktatur im Zweistromland beseitigt, werde das Land zu einer Musterdemokratie, einem Vorbild für den ganzen Nahen und Mittleren Osten. «Unsere Soldaten werden in Bagdad mit Rosen empfangen», sagte er voraus.
Auch die Ukraine
Die Bush-Administration tat ihr Möglichstes, um von der Uno ein Mandat für den Krieg zu erhalten – sie scheiterte im Sicherheitsrat an den Vetomächten Frankreich, Russland und China und ausserdem am politischen Widerstand Deutschlands. George W. Bush liess sich nicht beirren und schmiedete eine «Allianz der Willigen», womit er meinte: einzelne Staaten, die sich auf besondere Weise mit den Vereinigten Staaten verbunden fühlten. Konservative Regierungen (beispielsweise Spanien, das damals von der Volkspartei unter Aznar regiert wurde) und Länder im östlichen Teil Europas, die Amerika als erstrangige Schutzmacht gegen ein als bedrohlich empfundenes Russland betrachteten, zeigten sich bereit, am Feldzug im «Orient» mitzumachen.
Auch die Ukraine solidarisierte sich mit den USA und entsandte 1650 Soldaten – eine Entscheidung, die sich noch jetzt, zwanzig Jahre später, auf die Politik und die Stimmungslage in der irakischen Bevölkerung auswirkt. «Wer einmal auf dich schiesst, den vergisst du nicht», besagt ein geflügeltes Wort in Bagdad. Dementsprechend verhält sich die irakische Regierung, wenn es zu Abstimmungen in der Uno kommt, immer neutral zum Konflikt.
Gescheiterter Staat
Der von George W. Bush und Tony Blair (respektlos oft als «Bushs Pudel» bezeichnet) entfesselte Krieg nahm seinen katastrophalen Lauf. Er forderte 190’000 Menschenleben und kostete die USA 2’200 Milliarden Dollar. Irak wurde nicht zu der von Donald Rumsfeld beschworenen Musterdemokratie, sondern zu einem gescheiterten Staat.
Das Land hat, nach Saudiarabien und Venezuela, zwar die weltweit grössten Ressourcen an Erdöl, aber noch jetzt, zwanzig Jahre nach dem Krieg Bushs und seines «Pudels», lebt ein Viertel der Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Auf der globalen Korruptions-Skala befindet sich Irak auf Platz 157 (von 180 gewerteten Ländern) und im Index der Pressefreiheit auf Rang 172. Die irakische Armee (sie erhielt von den USA in der Zeit nach dem Krieg Hilfe in Milliardenhöhe) ist nicht in der Lage, die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten – sie ist abhängig von pro-iranischen Milizen. Die Zahl der betreffenden Para-Soldaten wird auf etwa 100’000 geschätzt. Bezahlt werden sie wohl mehrheitlich aus einem «Kässeli», das sich in Teheran befindet. In der irakischen Bevölkerung (auch bei der schiitischen Mehrheit) sind sie unbeliebt, aber die Regierung in Bagdad integrierte dennoch einen Grossteil von ihnen in die eigenen Streit- oder Friedenskräfte. Weil sie, wie erwähnt, sich nicht in der Lage sah, im eigenen Haus für Ordnung zu sorgen.
Nährboden für den «Islamischen Staat»
Doch die Folgen der US/britischen Intervention sind noch viel weit tragender. Paul Bremer, von George W. Bush als so genannter Zivilverwalter für Irak nach dem Krieg von 2003 mit weitgehenden Vollmachten ausgestatten, hatte «die» Idee für das Land: Weg mit allen, die jemals mit dem Saddam-Regime zusammen gearbeitet haben! Er verfügte die Entlassung von Hunderttausenden – Postbeamte, Angestellte im öffentlichen Dienst, Mitarbeiter staatlicher Betriebe, Militärs. Also alle, die jemals der Regierungspartei beigetreten waren, egal, ob sie das nun aus ideologischer Überzeugung getan hatten oder aus Opportunismus (weil es ausserhalb der Partei schlicht keine Möglichkeit gab, einen Job zu ergattern).
Nun hatte das Land schlagartig ein riesiges Arbeitslosenheer – und als rund zehn Jahre später, also 2012/2013, Aktivisten aus dem Umkreis der Religions-Terroristen des «Islamischen Staats» auf den Plan traten, fanden diese im frustrierten Arbeitslosenheer der Iraker einen grossartigen Nährboden. Männer, die ein Jahrzehnt lang kaum mehr das Kleingeld gehabt hatten, sich einen Kaffee zu leisten, erhielten das Angebot, für umgerechnet mehr als tausend Dollar pro Monat beschäftigt zu werden. Viele akzeptierten das, auch wenn sie (wahrscheinlich) der Ideologie des «Islamischen Staats» generell nichts abgewinnen konnten. So breitete sich der IS in Irak und von da auch nach Syrien aus. Und bedrohte auch den östlichen Nachbarn, Iran.
Iranische «Verteidigungslinie»
Mit schwerwiegenden Folgen. Die Präsenz des IS in Irak bot dem Regime in Teheran den Vorwand, zu «seinem eigenen Schutz» Para-Militärs ins Nachbarland zu entsenden – Angehörige von Milizen einerseits, Mitglieder der Pasdaran-Speerspitze, al-Quds-Brigaden genannt, anderseits. Und da diese Einheiten schon mal in Irak waren und dort, echt oder angeblich, die Terroristen des Islamischen Staats bekämpften, fiel es der Regierung Irans bald relativ leicht zu begründen, dass diese «Verteidigungslinie» auch bis nach Syrien ausgedehnt werden müsse.
Kurz: die US-amerikanischen Fehl-Entscheidungen rund um den von Bush und Blair vom Zaun gebrochenen Krieg von 2003 provozierten die jetzt, zwanzig Jahre danach, so labile Situation in der ganzen mittelöstlichen Region.
Grundstrukturen zerstört
Zieht die internationale Politik aus all dem irgendwelche Lehren? Sie versucht es, etwas polemisch ausgedrückt, mit Pflästerchen. In Jordanien fand kurz vor Weihnachten die zweite Runde der «Baghdad Conference» statt, mit sehr prominenter Beteiligung. Der EU-Aussenbeauftragte Josep Borrell war dabei, auch Frankreichs Präsident Macron, und, klar, die «Granden» aus der Region, inklusive des neuen irakischen Premiers, Muhammed Shia’a al Sudani. Macron fand die eher unverbindlichen Worte: «Der Irak ist angesichts der vergangenen Jahrzehnte wahrscheinlich eines der Hauptopfer regionaler Destabilisierung», sagte er. Ähnlich unverbindlich blieben die Reden der regionalen Politiker, niemand wurde konkreter.
Was nur hätten sie substantiell wirklich sagen können? Irak braucht ja «eigentlich» keine Hilfe von aussen, schon gar kein Geld, das wäre ja im Zweistromland zur Genüge vorhanden, die Regierenden sind nur nicht in der Lage, es gerecht zu verteilen und Strukturen zu schaffen, die in eine prosperierende Zukunft führen würden. Weil durch den Krieg von 2003, vom Zaun gebrochen aufgrund von Ideologie, Verblendung und Hybris, in diesem Land nicht nur die sichtbaren Grundstrukturen, sondern auch die gesellschaftlichen, zerstört worden sind.