Die Verurteilung Berlusconis hat seine Partei, den Popolo della Libertà (PdL), in eine unkontrollierte Eruption versetzt. Manche ihrer Spitzenpolitiker haben die Bodenhaftung verloren. Ein Entrüstungssturm fegt durch die Partei.
Die Minister und Parlamentarier seiner Partei drohen zu demissionieren. Staatspräsident Giorgio Napolitano wird aufgefordert, den Richterspruch des höchsten italienischen Gerichts, des Kassationshofes, zu annullieren und Berlusconi zu begnadigen. „Wir sind am Rande eines Umsturz“, kommentiert Stefano Fassina, ein sozialdemokratischer Spitzenpolitiker.
Sandro Bondi, einflussreicher Senator der Berlusconi-Partei, drohte: „Entweder schafft es die Politik, Lösungen zu finden (...), oder Italien riskiert wirklich eine Form des Bürgerkriegs mit ungewissen Folgen für alle.“
Staatspräsident Napolitano reagiert wutentbrannt: Er bezeichnet Bondis Drohungen als „verantwortungslose Worte“. Bondi erklärt darauf, er lasse sich von Napolitano nicht den Mund stopfen. Der linksliberalen Zeitung „La Repubblica“ sagte er: „Ich stehe zu allem, was ich gesagt habe. Der Brandstifter bin nicht ich, sondern jene, die Berlusconi verurteilt haben“.
Nicht gerade Demo-Wetter
Für Sonntagabend hat die Partei zu einer riesigen Pro-Berlusconi-Demonstration in Rom aufgerufen. 500 Autobusse karrten Berlusconi-Anhänger in die Hauptstadt. Der Sonntag war wahrscheinlich mit 41 Grad in Rom der heisseste Tag des Jahres - nicht gerade Demo-Wetter.
Die Manifestation stand unter dem Motto „Libertà e democrazia. Tutti per Silvio“. Die meisten Demonstranten kamen aus dem Süden, aus Apulien, Lazio und der Campagna. Dabei waren die meisten nationalen und viele regionale PdL-Parlamentarier.
"Wir sind keine Umstürzler"
Insgesamt nahmen knapp 20‘000 Berlusconisti an der Demonstration in Rom teil – nicht gerade eine Menge. Sie versammelten sich vor dem Palazzo Grazioli im Zentrum von Rom, dort, wo sich Berlusconi zusammen mit seiner Verlobten und ihrem weissen Schosshündchen Dudù 50 Stunden lang verschanzt hatte und den Richterspruch abwartete. Die Menge zog dann Richtung Piazza Venezia.
Berlusconi selbst kam von seiner Villa Arcore in Mailand angereist. Er gab sich zahm. "Wir sind keine Umstürzler, aber ich bin unschuldig". Offenbar will er Staatspräsident Napolitano milde stimmen und eine Begnadigung erreichen. Berlusconi sagte, er wolle die Regierung nicht stürzen. Sie müsse weiterarbeiten und Reformen vorantreiben. Er will vermeiden, als Initiator einer neuen Regierungskrise dazustehen.
Dann griff er den Richterstand an. "Die Magistratur ist keine Staatsgewalt. Es steht nirgends in der Verfassung, dass sie souverän ist". ("Non è un potere dello Stato, non c'è scritto sulla Costituzione che ha sovranità".)
Berlusconi trat ganz in schwarz auf. Nur eingefleischte linke Berlusconi-Gegner dachten da an die Schwarzhemden und Mussolinis Marsch auf Rom im Jahre 1922.
Im Internet lancierten die Berlusconi-Anhänger eine Petition. Eine Gruppe namens „Cittadini per la libertà“ rief die Italiener auf, online ihre Sympathie für ihr Idol zu bekunden. Die Petitionäre verlangten seine sofortige Begnadigung. „Vogliamo la grazia per Silvio“.
Berlusconi tut das, was er am besten kann: Er präsentiert sich als Märtyrer, als ewig Verfolgter. Er, der zwanzig Jahre hart für das Wohl seines Landes gekämpft habe, er, der alles gegeben habe – und nun dies. Sogar der Pass wurde ihm am Samstag abgenommen. Das empfindet er als besonders erniedrigend.
Natürlich fehlt die Leier von der kommunistischen Justiz nicht. Im Mai hatte er noch gesagt, er glaube an einen Freispruch, denn die Richter des Kassationsgerichtes seien keine „roten Roben“. Jetzt nach der Verurteilung sind sie es plötzlich doch: Das Urteil sei ein rein politisches Urteil, erklärt der PdL. Die Richter stünden im Solde der kommunistischen Linken.
"Anschlag auf die Demokratie"
„Il Giornale“, die Zeitung von Berlusconis Bruder, hat eine eigentliche Treibjagd auf die Richter eröffnet. Im Schussfeld liegt vor allem Antonio Esposito, der 75-jährige Präsident des Kassationsgerichts. Er hatte die Kammer präsidiert, die Berlusconi jetzt zu vier Jahren Haft verurteilte (wobei ihm drei Jahre erlassen werden).
Das Verdikt sei ein „Anschlag auf die Demokratie“, ein „Anschlag auf die Verfassung“, sagt die PdL. „Berlusconi ist der Anführer der grössten italienischen Partei. Zehn Millionen haben ihn gewählt. Seine Verurteilung ist eine Verhöhnung des Volkswillens“.
Renato Brunetta, der Fraktionschef des PdL im Senat sagte: „Man kann doch nicht glauben, den Führer der grössten italienischen Partei seiner Freiheit berauben zu können, seiner politischen Freiheit, das passt nicht zur Demokratie.“
"La legge è uguale per tutti"
Sicher ist, dass der 88-jährige Staatspräsident Napolitano Berlusconi unter keinen Umständen begnadigen kann. Täte er es, wäre dies ein wirklicher Anschlag auf die Verfassung. In jedem italienischen Gericht prangen gross die Lettern: La legge è uguale per tutti. Eine Begnadigung würde bedeuten, dass der milliardenschwere Alpha-Rüde nicht wie andere behandelt wird. Zudem kann wohl niemand begnadigt werden, der noch in weitere Gerichtsverfahren verwickelt ist. In 18 Prozessen war und ist Berlusconi in den letzten 24 Jahren involviert. Neben dem Ruby-Prozess droht ihm auch eine Verteilung im Verfahren über die Bestechung und den Kauf von Parlamentariern.
Die Frage ist jetzt, wie lange der Wut-Ausbruch des Berlusconi-Lagers dauern wird. Kommt die Partei bald wieder zur Vernunft? Die PdL-Minister im Kabinett von Ministerpräsident Letta waren am Sonntag der Manifestation in Rom ferngeblieben. Ist das ein Zeichen, dass sie kein Öl ins Feuer giessen möchten?
"Als Märtyrer gewinnt er Stimmen"
Italien wird zurzeit von einer Grossen Koaltion des Linkslagers, der Berlusconi-Partei und Mario Montis Bürgerbewegung regiert. Sollten die Minister von Berlusconis Partei tatsächlich demissionieren, so könnte die Regierung stürzen. Zwar wäre theoretisch eine Koaltion mit der „5 Sterne-Bewegung“ von Beppe Grillo möglich. Doch das brächte Italien wohl auch nicht weiter. Wahrscheinlicher wären dann Neuwahlen. Dieses Szenario hat Berlusconi offenbar schon lange im Hinterkopf.
Seine Märtyrer-Rolle gefällt vielen Italienern. Gibt es Neuwahlen, so könnte sie die Berlusconi-Partei gewinnen. „Als Märtyrer legt er zu“, sagt der Meinungsforscher Nicola Piepoli. Auf die Frage, ob Berlusconi politisch tot sei, antwortet er: „Nooooooo, was sagen Sie denn. Im Gegenteil“. Fänden jetzt Neuwahlen statt, würde das Berlusconi-Lager laut einer ersten Meinungsumfrage nach dem Urteil 33,7 Prozent der Stimmen erreichen. Das Linkslager käme auf 32,5 Prozent.
Doch Berlusconi ist noch nicht Ministerpräsident. Zuerst muss er ein Jahr lang seinen Hausarrest absitzen. Dazu kommt, dass sich das Appellationsgericht wahrscheinlich für ein mehrjähriges Amtsverbot Berlusconis aussprechen wird.
Ministerpräsident Enrico Letta ist offenbar auf alles gefasst. Berlusconis Delikt könnte die Regierung stürzen, sagt er. Zwar ist Lettas Regierung laut einer Meinungsumfrage von Nicola Piepoli „die beliebteste seit je“. Doch „wenn die Grenzen überschritten werden, dann gehe ich“, sagt er. „Grenzen überschreiten“ - dazu gehören der Druck auf den Staatspräsidenten und der Versuch, die Gesetze zu beugen.
Sind die Italiener dümmer als andere?
Italien ist ein lahmgelegtes Land. Lahmgelegt vor allem wegen Berlusconi und seinen persönlichen Interessen. Wirtschaftlich ist kein Aufschwung in Sicht. Fiat-Chef Marchionne sagte letzte Woche: „In Italien kann man nicht mehr produzieren“.
Natürlich ist die Linke zerstritten und hat wenig Visionen. Natürlich auch steht Mario Montis Bürgerbewegung vor dem Zusammenbruch. Und ebenso klar ist, dass die Sterne von Beppe Grillos „5 Sterne-Bewegung“ längst verblasst sind. Doch auch die Rechte hat keine Visionen und nichts erreicht. Dennoch: Dass Berlusconi wieder Oberwasser hat, ist für zivilisierte Betrachter ein unerklärliches italienisches Phänomen. Skandale, Bunga Bunga, Prozesse und kein Ende, Lügen, eine katastrophale Regierungsbilanz – und wieder schwingt er obenauf.
Ein linker Politologe wagt am Sonntag in Rom die schreckliche Frage: „Sind wir Italiener eigentlich dümmer als andere?“ Er lächelt dabei und trinkt seinen Espresso.
Dann weist er darauf hin, dass zwei Drittel seines Volkes seit 20 Jahren unter Berlusconi leiden. "Wir haben gute, ehrliche Leute. Sie verzweifeln immer mehr."