Unter dem Titel "Leidenschaft Buch" stellen Journal21-Autoren in loser Folge besondere, aussergewöhnliche Buchhandlungen vor.
„Ist da jemand?“ frage ich. Ich sehe niemanden. Ich stehe zwischen Türmen alter Bücher, zwei, drei Meter hoch. Das Atelier wirkt unergründlich, geheimnisvoll.
Ein Hauch St. Germain-des-Prés. Kulisse für Schwarz-weiss-Filme der Vierzigerjahre. Doch wir sind in keiner Pariser Librairies. Wir sind in der Wintethurer Altstadt,
Bastionen von Büchern, scheinbar ungeordnet: Wälle von Büchern, Bücher aller Art, vom Trivialsten zum Erlesensten. Wieso faszinieren alte Bücher?
Bücher haben einen Geruch, man kann Bücher einatmen. Es riecht nach altem Papier, nach Karton, nach Leder und Pergament, nach alter Druckerschwärze. Alte Druckerschwärze riecht anders als die neue. Man sollte einen Film hier drehen.
Keine toten Bücher
Buch-Antiquariate sind immer geheimnisvoll. Im Gegensatz zu neuen Buchhandlungen, diesen riesigen, anonymen Warenhäusern. Dort findet man zwar alles – doch die Romantik ist weg.
Neue Bücher sind tot. Leblos stehen sie in den Regalen der Buchhandlungen, meist eingeschweisst, unberührt. Bücher müssen erst erweckt werden. Erst wenn sie gelesen werden, beginnen sie zu leben. Dann bewirken sie etwas. Im Antiquariat gibt es keine toten Bücher. Alle hier wurden einst gelesen, alle haben jemanden begleitet, haben erfreut, unterhalten, erzürnt, beeinflusst. Haben vielleicht Leben verändert.
20'000 Bücher
Und wieder fragt man: „Ist da jemand?“
Doch, da ist ja jemand. Hinten links, neben einer Barrikade aus Büchern, entdeckt man einen Mann am Schreibtisch. Brille, Zigarette, Dreitagebart. Freundlich fragt er: „Kann ich ihnen helfen?“
Über 20‘000 Bücher türmen sich hier, sagt er uns später. Ob er noch den Überblick über seine Schätze hat? „Doch, doch“, antwortet er.
Der Mann mit Brille und Zigarette heisst Ulrich Harsch. 1973 begann er hier, in der Rathauspassage in der Winterthurer Altstadt, Bücher zu verkaufen. Hier bei einem Buchhändler namens Albert Wiener.
Der Jude im Spanischen Bürgerkrieg
Wiener war ein in Zürich geborener Jude. Er war einer von 800 schweizerischen Freiwilligen, die zwischen 1936 und 1939 in Spanien gegen Franco kämpften. Nach verlorener Schlacht kehrte er in die Schweiz zurück. Er liebte Bücher. In Zürich gab es genug Buchhandlungen, so ging er nach Winterthur. In der Rathauspassage zwischen Marktgasse und Stadthausstrasse eröffnete er nach Kriegsende sein Antiquariat. Später erweiterte er es um eine Galerie für zeitgenössische Kunst.
„Er zahlte mir nicht viel, aber er liess mir viele Freiheiten“, erinnert sich heute Ulrich Harsch an seinen früheren Arbeitgeber. „Er verlangte vor allem zwei Dinge von mir: freundlich sein und – mir die Haare nicht länger wachsen lassen.“
Tausend Bücher aufs Mal
Kurz darauf, im Oktober 1973, stirbt Albert Wiener. Harsch führt jetzt das Antiquariat zunächst mit einer Kollegin, dann mit dem Sohn von Albert Wiener. 1986 übernimmt er den Laden als alleiniger Geschäftsführer.
Wie kommt er zu seinen Büchern? „Oft bietet man mir ganze Nachlässe an, tausend Bücher aufs Mal. Ich begutachte sie, wähle aus und mache ein Angebot.“ Kürzlich wurde ihm eine wertvolle Kunstbibliothek angetragen. „Meistens nehme ich etwa einen Drittel der angebotenen Bücher. Oft weiss ich schon, wer sich von meiner Stammkundschaft dafür interessieren könnte.“
Wer sich Zeit nimmt, entdeckt Phantastisches. Viele Schätze schlummern hier. Dazu gehört eine von Zwingli verfasste Reformationsschrift aus dem Jahr 1522. Preis: etwa 4‘000 Franken. Ein mit Lithografien von Matisse illustriertes Gedicht kostet etwa 1‘200 Franken. Eine Memorabilia Tigurina aus dem Jahr 1742 ist wohl nicht mehr zu retten.
Man sammelt keine Bücher mehr
Die Zeiten haben sich geändert. „Immer weniger Leute haben eine emotionale Beziehung zu einem Buch“, sagt Harsch. Früher standen die Bücher stolz im Gestell, sie gehörten zu uns wie Familienangehörige. Das ist vorbei.
E-Books und Grossverteiler machen allen Buchhandlungen zu schaffen. Bilden da Antiquariate nicht eine Ausnahme? Gibt es nicht noch Leute, die für teure, vergriffene Werke bereit sind, viel Geld auszugeben? Leute, die Bücher sammlen wie Kunstschätze, wie Bilder? Bücher als Statussymbol, vielleicht sogar als Kapitalanlage?
„Nein“, sagt Harsch, „wir leiden wie die andern Buchhandlungen. Die Leute, die bereit sind, für teure, vielleicht vergriffene hochkarätige Werke Geld auszugeben, sterben weg.“ Und: „Man sammelt nicht mehr Bücher wie früher“.
Die Vergangenheit interessiert nicht mehr
Zwanzig bis dreissig Prozent der Kunden, die seinen Laden aufsuchen, kommen immer wieder. Doch diese Stammkundschaft nimmt eher ab. „Der Mittelbau der Kundschaft bricht weg.“
„Auch als Zeitdokument geht das Buch verloren“, sagt Harsch. „Die jungen Leute schauen weniger zurück, als wir es taten. Die Vergangenheit interessiert sie nicht“. Auch die Arbeiterliteratur verkauft sich nicht mehr. Alte Bücher sind der geistige Unterbau unserer heutigen Gesellschaft; offenbar interessiert man sich immer weniger dafür.
Früher verdienten Antiquariate auch Geld mit alten kostbaren Zeitschriften. Heute werden die meisten Zeitschriften digitalisiert und man kann sie im Netz abrufen. Ganze Bibliotheken, Hundertausende wertvollster Nachschlagewerke stehen heute im Internet.
"Lassen sie mir die Telefonnummer"
„Alles ist aufwendiger geworden, für einen Franken arbeite ich heute härter als früher“. Man feilscht auch mehr als früher. „Das geht zwar noch nicht zu wie auf dem Basar, doch immer wieder versuchen Leute, ein paar Franken herunterzudrücken“.
„Bei mir landen viele ältere Leute, die in den Buchhandlungen auflaufen.“ Während unseres Gesprächs betritt eine ältere Frau den Laden. Sie sucht ein Buch, das sie in andern Buchhandlungen nicht findet. Ulrich Harsch schreibt Autorin und Titel auf. „Lassen sie mir die Telefonnummer hier, ich rufe sie an, sobald ich das Buch gefunden habe“. Glücklich verlässt die Frau den Laden; man kümmert sich um sie. Zu seinen Kunden gehören immer mehr auch ältere Leute, die kein Internet haben. Leute, die Zeit haben und auf ein Buch warten können. „Wenn Bücher greifbar sind, besorge ich sie“.
Auch wenn die goldenen Zeiten vorbei sind: Es gibt sie noch, die Bücher-Freaks, jene, die etwas Besonderes suchen. Jene, die stundenlang im Laden stehen und blättern und blättern. Manchmal suchen sie Beratung, Anregung, Hinweise. Es entwickeln sich Gespräche, man taucht in die Vergangenheit, altes Wissen wird lebendig. Ulrich Harsch kennt sie fast alle – all die Autoren, die sich hier präsentieren: Autoren, die längst tot sind und deren Namen junge Buchhändler nicht mehr kennen.
Harsch lebt für das Buch. Und er lebt auf inmitten all seiner Schätze. Als ob Tausende Autoren in seinem kleinen Laden versammelt wären und den Mann mit dem Dreitagebart im Auge hätten.
"Es wird schwierig"
„Früher habe ich einen halben Tag gelesen und einen halben Tag gearbeitet“, erzählt er. „Jetzt arbeite ich den ganzen Tag und lese die ganze Nacht“. Natürlich hat er eine emotionale Beziehung zu Büchern. „Bücher sind wie Altwohnungen“, sagt er, „sie haben eine Geschichte, sie sind voller Leben“.
„Ich stelle mir vor: Wer hat dieses Buch gelesen, wer war diese Person, wie hat sie gelebt?“ Liegt auch darin die Faszination alter Bücher?
Und wie entwickelt sich das Geschäft? „Es wird schwierig, sehr schwierig“.