Der «Tages-Anzeiger» hat dieser Tage einen Artikel mit dem Titel «In der Schweiz bröckelt die Unterstützung für die Ukraine» veröffentlicht. Der Text stützt sich auf die bestellte Umfrage eines Meinungsforschungsinstituts. Die publizierten Daten und deren Interpretation geben aber zu erheblichen Zweifeln an der Aussagekraft des Artikels und seiner Titel-Schlagzeile Anlass. Das kommt auch in den zahlreichen Leser-Kommentaren deutlich zum Ausdruck.
Die vom «Tages-Anzeiger» bestellte Umfrage ist vom Meinungsforschungsinstitut Link vom 17. Bis 21. November durchgeführt worden. Befragt wurden gemäss diesen Angaben 1200 Personen im Alter zwischen 15 und 79 Jahren, die in der Schweiz wohnhaft sind. Zugenommen hat laut Umfrage der Anteil jener Personen, die eine neutrale Haltung unseres Landes gegenüber Russland und der Ukraine befürworten. In der jüngsten Umfrage haben diese Frage 64 Prozent der Interviewten mit Ja oder eher Ja beantwortet. Im Juni waren es erst 57 Prozent. Entsprechend hat sich auch die Zustimmung zur Übernahme der EU-Sanktionen gegen Russland verändert. Im März waren es noch 65 Prozent, die den Sanktionsentscheid des Bundesrates befürworteten. Heute sind es noch 54 Prozent.
«Kriegsmüdigkeit» in der Schweiz?
Die Vertreterin des Umfrageinstituts interpretiere diese rückgängige Zustimmung mit einer «gewissen Kriegsmüdigkeit» in der Schweiz, heisst es im Tagi-Artikel. «Kriegsmüdigkeit» ist in diesem Zusammenhang eine seltsame Formulierung. Die Schweiz ist ja nicht im militärischen Sinne am Ukraine-Krieg beteiligt. Und es ist offenbar eher die Angst vor einer Verschlechterung der Wirtschaftslage und einer Verteuerung der Energiekosten, die den Leuten Angst macht und damit die Zustimmung zu den Russland-Sanktionen sinken lässt. Immerhin wird diese Zustimmung gemäss Umfrage immer noch deutlich von mehr als der Hälfte der Bevölkerung getragen.
Besonders fragwürdig wird die Titelzeile von der «bröckelnden Unterstützung» für die Ukraine indessen beim Thema Solidarität gegenüber den Ukraine-Flüchtlingen. Zwar wird erwähnt, dass inzwischen über 67’000 ukrainische Flüchtlinge in der Schweiz leben und unterstützt werden. Das sind erheblich mehr als noch im vergangenen Juni. Trotzdem ist laut Umfrage die Zustimmung in der Bevölkerung mit 78 Prozent für diese Flüchtlingspolitik noch sehr hoch. Bei der letzten Umfrage vor einem halben Jahr lag diese Zahl aber um 4 Prozent höher. Ob man tatsächlich von einer «bröckelnden Unterstützung» sprechen kann, scheint kaum gerechtfertigt, wenn trotz wachsender Flüchtlingszahlen weiterhin mehr als drei Viertel der Schweizer die Aufnahme von Menschen aus der vom Krieg heimgesuchten Ukraine befürworten.
Der Verdacht liegt deshalb nahe, dass dem «Tages-Anzeiger» mehr daran lag, seine bestellte «Exklusiv»-Umfrage mit einer einseitigen Schlagzeile zu vermarkten, als darum, die nicht eindeutigen Ergebnisse der Befragung mit einer differenzierten Titel-Formulierung zum Ausdruck zu bringen. Eine alte Versuchung, seit es Journalismus und öffentliche Medien gibt.
Zu den Fragwürdigkeiten dieser Umfrage-Aufbereitung gehört übrigens auch die politische Einteilung der Befragten in rechts, links und Mitte. Erwartungsgemäss liegt die Zustimmung zur Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge im rechten Spektrum niedriger, als im linken Lager oder in der politischen Mitte. Doch wie diese Zuordnung definiert wird und wer die Einteilung der Interviewten nach Parteien vorgenommen hat, darüber fehlt im «Tagi»-Artikel jeder Hinweis.
Online-Kommentare zeigen eine andere Tendenz
In den online veröffentlichten Leser-Kommentaren kommt solche Skepsis gegenüber dem tendenziösen Drall des Artikels und noch mehr gegenüber den Gegnern einer klaren Solidarisierung mit der angegriffenen Ukraine übrigens erfreulich lebhaft zum Ausdruck. Die grosse Mehrheit der Leser, die zu diesem Betrag im «Tages-Anzeiger» Stellung beziehen oder dies mit «Likes» oder «Dislikes» signalisieren, befürwortet offenkundig eine entschiedene und fortgesetzte Unterstützung der Schweiz für die Ukraine.
In einem der über 230 Kommentare heisst es, die präsentierte Meinungsumfrage sei schliesslich nur eine Momentaufnahme, «schlagzeilengerecht aufbereitet. Die nächste Umfrage wird wieder anders ausfallen». Ein anderer Leser schreibt: «Uns kostet ja die sogenannte Kriegsmüdigkeit nichts. Wir können uns leisten, nach acht Monaten Krieg in der Ukraine dies nicht mehr so wichtig zu finden. Wir müssen ja nicht in Kälte, Dunkelheit und ohne Trinkwasser leben. Wir haben jetzt wichtigere Themen wie Black Friday, die WM in Katar, die uns brennend interessieren.»
Ein weiterer Online-Kommentator erklärt zur Meinungsumfrage: «Das ist beschämend. Der Krieg gegen die ukrainische Zivilbevölkerung wird immer schlimmer, in Kiew haben momentan 80 Prozent kein Strom und Wasser, und hier bröckelt die Solidarität?» Dazu 240 Likes und 29 Dislikes.
Wer diese letztere Meinung teilt und überzeugt davon ist, dass die von Putins Russland ruchlos angegriffene Ukraine mehr denn ja auch aus der Schweiz unterstützt werden muss, kann dies mit praktizierter Solidarität bekunden. Dazu zählt der Einsatz für die Unterbringung von Flüchtlingen und die finanzielle Unterstützung von Organisationen, die dringend benötigte Hilfsgüter in die Ukraine liefern. Eine dieser Organisationen findet man auf der Website www.1019.ch. Es handelt sich um eine von einer Studentenvereinigung in Zürich betriebene Initiative, die in Zusammenarbeit mit anderen Organisationen direkte Hilfstransporte in die Ukraine betreibt. Auf der Website wird übersichtlich darüber informiert, wie viele Lastwagen mit welchen Hilfsgütern in den vergangenen Monaten bereits in die Ukraine gefahren sind und wie viel gespendet worden ist. Gefragt sind zurzeit besonders Generatoren für die schwer beschädigte Stromversorgung in der Ukraine.