Ein Grossprojekt: Nicht weniger als 22 singende und schauspielernde Protagonisten stehen im Finale auf der kleinen Bühne des intimen Stadttheaters Solothurn. Und in Biel, der zweiten Spielstätte des Städtebundtheaters Biel Solothurn, ist die Bühne auch nicht breiter. Ein derartig gross besetztes, durch internationale Aufführungen bestens bekanntes Stück zu inszenieren, ist nicht nur ein Wagnis künstlerischer, sondern auch finanzieller Art. Dass das Grossprojekt in Angriff genommen werden konnte, ist der Schauspielleiterin und Regisseurin Katharina Rupp sowie dem Engagement des Vereins der Freunde des Stadttheaters Solothurn zu verdanken.
Solothurn als Theaterstadt
Die Freude der Solothurner an ihrem Zweisparten-Theater - übrigens dem ältesten Stadttheater der Schweiz – wurde an diesem schwülheissen Eröffnungstag schon spürbar, wenn man vom Bahnhof über die alte Brücke in die Altstadt hinüber flanierte. Überall wehten Theaterfahnen, und vor dem Theatereingang war ein roter Teppich ausgerollt. Er führte hinüber in einen kleinen Park, in dem seit dem Morgen das Theater-Eröffnungsfest seinen Lauf nahm. Dort konnte man auch die durchwegs bemerkenswerten Stimmen des Opernensembles bewundern, das sich auf einer kleinen Bühne dem Publikum vorstellte. Es wurde sofort klar, was die Ensemble-Politik des Hauses will: ein Sprungbrett sein für echte, junge Talente, das den Vergleich mit dem Nachwuchs weit grösserer Häuser nicht zu scheuen braucht.
Aber zurück zur Premiere des Schauspielensembles: Im schwarzen, mit kleinstem Aufwand immer neue Szenerien ermöglichenden, variablen Bühnenbild von Cornelia Brunn, das Brechts Hinweis auf ein Haifischbecken durchaus gerecht wurde, tummelten sich lustvoll überwiegend junge Schauspieler. Sie wurden von Katharina Rupp und in der durchdachten Choreographie von Teresa Rotemberg einfallsreich, mit Tempo und Witz geführt. Grossen Anteil am homogenen Eindruck der Aufführung hatte das kleine, solistisch hervorragend besetzte Orchester oder besser gesagt, die Band, unter der nervigen, konzentrierten Leitung von Andres Joho.
Weg über den Galgen
Die Hauptrollen waren – ausser jener der grossartigen Margit Maria Bauer als Polly - mit Schauspielern etwas älteren Kalibers hervorragend besetzt: Allen voran Günter Baumann als Macheath, genannt Mackie Messer, ein gnadenloser Hedonist und Sexist in Geschäftsmann-Verkleidung, sowie sein Kontrahent Mario Gremlich als Bettlerkönig Jonathan Jeremiah Peachum, der die Angehörigen seiner Firma „Bettlers Freund“ eiskalt ausbeutet und im übrigen mit seiner Frau (Barbara Grimm in der hinreissenden Studie einer versoffenen Prinzipalin) sich darin einig ist, dass die gemeinsame Tochter Polly als Alterskapital anzusehen und daher von Mackie Messer wieder zurückzuholen ist. Auch wenn der Weg dazu über den Galgen führt.
Die moritatenhafte Story konzipierte Bertold Brecht 1928 nach einem Singspiel aus dem frühen 18. Jahrhundert. John Gays „The Beggars Opera“, uraufgeführt 1729 in London, legte mit seinem Grosserfolg schon vor, was der Brecht’schen Version mit der Musik des zwei Jahre jüngeren Kurt Weill genau zweihundert Jahre später auch blühen sollte: Das scharf die mitleidlosen Gesellschaftsstrukturen knapp vor der Weltwirtschaftskrise anklagende Stück, das auch dem Bankenwesen immer wieder Prankenhiebe austeilt, wurde zum Welterfolg.
Der Räuber als bürgerliche Erscheinung
Das Publikum überhörte die Kritik, delektierte sich an den eingängigen Songs und vereinnahmte das Stück als amüsantes musikalisches Lustspiel. Weills Musik, vor allem der Mackie Messer-Song, ist inzwischen zum Allgemeingut geworden. Des Bettlerkönigs Peachams höhnisches „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral“ wird auch heute noch – oder vielleicht gerade heute – als schon fast selbstverständliche Entschuldigung für Verbrechen an der Menschlichkeit eingestuft. Brecht aber führte seinen Räuber Macheath bewusst als bürgerliche Erscheinung vor und sagte dazu: „Die Vorliebe des Bürgertums für Räuber erklärt sich aus dem Irrtum: ein Räuber sei kein Bürger. Dieser Irrtum hat als Vater einen anderen Irrtum: ein Bürger sei kein Räuber.“
In Solothurn wurde die Räuberstory mit dem unerwarteten Happy End jedenfalls stürmisch gefeiert. Vielleicht auch, weil die Inszenierung auf alle von Brecht eigentlich geforderten Verfremdungseffekte verzichtete und die Moritat aus vollem Herzen und mit grosser Leidenschaft das Bürgertum im Publikum vorführte. Warum sollte sich auch Solothurn anders verhalten als die übrige Welt? Die Aufführung jedenfalls hat ihren Applaus mehr als verdient und würde jedem grossen Haus gut anstehen.
Die Bieler Premiere der „Dreigroschenoper - ein Stück mit Musik“ ist am 16.9. 2011. Es gibt Gastspiele von Frauenfeld bis Fribourg.
„Antigona“ in Biel
Die Bieler Theatersaison wird übrigens am 10.9. 2011 mit einer Trouvaille eröffnet. Die Oper „Antigona“ aus dem Jahre 1773 des zu Unrecht bei uns übergangenen böhmischen Komponisten Josef Myslivecek, der im 18. Jahrhundert einer der höchstdotierten Opernkomponisten Italiens gewesen war, erlebt hier – und ab 24.9. auch in Solothurn - ihre schweizerische Erstaufführung. Es tut sich was in der Provinz...
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