Der Grenzstreifen zwischen den USA und Mexiko ist etwa 3’600 Kilometer lang. Zumeist führt er durch wüstenähnliches Gelände. Der Fotograf Francesco Anselmi hat sich während der Trump-Ära auf mehreren Reisen intensiv mit der Landschaft und den darin lebenden Menschen auseinandergesetzt. Mit seinem Fotoessay möchte der Fotograf die Betrachter zu eigenen Einsichten anregen.
Die Bilder, die Francesco Anselmi vom Grenzgebiet der USA und Mexiko aufgenommen hat, sind unspektakulär. Er zeigt menschenleere Landschaften, und wenn Menschen darin vorkommen, scheinen sie sich in der Weite geradezu zu verlieren. Oder verlieren sie sich in der Trostlosigkeit, die von der Kargheit ausgeht? Und in ihren Umfriedungen und Wohnungen scheinen sie von einer bleiernen Stille umfangen zu sein.
Viermal, von 2017 bis 2019, ist Francesco Anselmi in dieses Grenzgebiet gereist. Das erste Mal im Auftrag der Zeitschrift «L’Espresso». Anselmi ist ein international hoch geschätzter Fotograf. Die Liste seiner Preise, Ausstellungen und Publikationen beeindruckt. Seine Schwarzweissbilder wirken so prosaisch, dass man dahinter zunächst keinen Fotografen eines solchen Ranges vermutet. In formaler Hinsicht sind sie absolut konventionell und erinnern an keiner Stelle an Bilder eines Walker Evans oder Robert Frank, die Jahrzehnte vorher für die Schattenseiten Amerikas einen eigenen expressiven Stil entwickelt hatten.
Je länger man diese Bilder betrachtet, desto dringlicher stellt sich die Frage, ob die stilistische Zurückhaltung nicht die einzig angemessene Form ist, um der Eigentümlichkeit der Grenzregion und dem Leben darin gerecht zu werden. Denn die Landschaft ist in ihrer Kargheit trist und das Leben in ihr in jeder Weise anspruchslos.
Die Kirchen allerdings scheinen sich aus dieser Tristesse herauszuheben. Jedenfalls deuten die Abbildungen darauf hin, dass sie sorgfältig in Stand gehalten werden, und die Bevölkerung der Südstaaten Amerikas ist für ihre religiöse Inbrunst bekannt. Davon wünschte man sich auch einige Bilder.
Ein Foto zeigt den Aufbruch von Teenagern zu einer Art Schönheitswettbewerb. Die Baracke, aus der sie strömen und insbesondere das Kleid des Mädchens im Vordergrund bilden einen starken Kontrast. Allein die Tatsache, dass sie sich darin zurechtgemacht haben, zeigt ihren Widerstand gegen die Tristesse ihres Alltags. Dagegen scheinen auf den meisten Bildern die Menschen mit ihrer Umgebung eine Einheit zu bilden: Deren Kargheit ist auch ihre. Und alles ist auf Abwehr gerichtet: die abweisende Natur und die Menschen mit ihren Waffen, mit denen sie geradezu verheiratet zu sein scheinen.
Geradezu skurril wirkt eine alte Dame auf ihrem Sofa, Katze auf dem Schoss, rechts und links zwei Gewehre. Sie ist, wie die Bildlegende verrät, die Gründerin und Leiterin einer bewaffneten Bürgerwehr. Auch andere Bilder verraten, dass der «Schutz» der Grenze nicht allein Sache der dafür zuständigen Polizei ist, sondern dass sich die Bürger dazu aufgerufen fühlen. Allerdings zeigt ein Foto, dass es auch Protest gegen die Grenzbefestigungen gibt.
Unwillkürlich fragt man sich, wie lange die alte Dame in dieser Weise auf ihrem Sofa sitzt. Die Abwehr von Eindringlingen scheint zu einem Habitus geworden zu sein, ganz so, wie auch die Landschaft in erster Linie abweisend ist. Und über allem liegt eine merkwürdige Bewegungslosigkeit – als sei in dieser Gegend alles so gelähmt, dass es eigentlich keinen Grenzzaun bräuchte.
Diese Ödnis kann beim Betrachter der Bilder ein Grauen erzeugen. Die Bewohner dieser Region sind frei, aber zugleich an die Ödnis gefesselt. Sie haben sich dort eingerichtet, und vielleicht ist die Weite auch ein Teil des amerikanischen Traums, aber nicht jeder wird ihn träumen wollen.
Francesco Anselmi: Borderlands. Herausgegeben von Renata Ferri. Text von Francisco Cantú. 136 Seiten, 61 Duplexabbildungen, Kehrer Verlag 2024, 44 Euro