„Vom Messer in das Messer ist die Laufbahn.“ Dieser Satz stammt nicht aus einer der diversen Bearbeitungen der antiken Orestie, sondern aus Shakespeares Drama Macbeth. Genau genommen aus der Bearbeitung von Heiner Müller von 1972. Und so wie dieser das Shakespear’sche Originaldrama bearbeitet und damit ausgebaut, grausamer und noch unerbittlicher – sprich zeitgenössischer – gemacht hat als den Originaltext, so verfuhren die nachgeborenen antiken und modernen Autoren mit den Ver- und Bearbeitungen der Orestie des Dichters Aischylos, welche 458 vor Christi in Athen uraufgeführt worden war.
Die bis heute bekanntesten Bearbeitungen des Stoffes stammen von Sophokles und, nach diesem, von Hugo von Hofmansthal, letztere wiederum vertont durch Richard Strauss. Noch näher an uns Heutigen liegt die beklemmende, psychologisierende Fassung des Themas in „Trauer muss Elektra tragen“ von Eugene O’Neill, welche in Amerika spielt. Als jüngstes einschlägiges Werk von Weltgeltung ist „Die Fliegen“ des antikisch unerbittlichen Paul Sartre zu nennen. Die Uraufführungen der erwähnten Werke stammen von 413 v. Chr., 1903, 1909, 1931 und 1943. Welch eine Zeitspanne für ein ununterbrochen aktuell gebliebenes Thema! Das Thema auch eines Generationen übergreifenden Fluches (der „Atridenfluch“), der alle Mitglieder einer Familie ins Verderben stürzt. Die immer währende, niemals verzeihende Rache bis zum endgültigen Untergang – auch heute noch allzu präsent in vielen Familiengenealogien.
Kinds-, Vater- oder Muttermord
Was wiegt schwerer? Des Griechen-Heeres Anführer und König Agamemnons Entschluss, seine eigene Tochter Iphigenie zu opfern, um von den Göttern günstige Winde für den Kriegszug nach Troja zu erflehen, oder die Rache von Iphigenies Mutter, seiner Gattin Klytämnestra, ihn nach seiner Heimkehr in Mykene dafür zu töten? Oder die Tat der Geschwister Orest und Elektra, welche Jahre später den Vatermord sühnen, Orest zum Muttermord treiben und ihn damit den Erinnyen, den Rachegöttinnen ausliefern?
Vaterkomplex und Mutterhass
Elektra, eines der vier Kinder des Agamemnon und der Kytämnestra, ist besessen vom Verlangen, den Vatermord zu rächen. Ein ausgeprägter Vaterkomplex und die damit verbundene Rivalisierung mit der Mutter – ein archaisches Beziehungsmuster, von dem sich alle Autoren und seit Sigmund Freud auch viele Psychologen faszinieren liessen. Elektra kennt nur noch eine Daseinsform: Das Beil zu hüten, mit dem Agamemnon erschlagen wurde, ihren Hass aufrechtzuerhalten und auf den Tag zu warten, an dem „das Kind“, der Bruder Orest, erwachsen geworden ist und als Rächer zurückkehrt.
Bis an die Grenzen der Harmonik
Richard Strauss, der die Uraufführung des Hofmannsthalschen Stücks 1903 in Dresden gesehen hatte, bat den Dichter zuerst um einen ganz anderen, eher in der Renaissance oder der Französischen Revolution angesiedelten Stoff. Da Hofmannsthal aber auf Elektra als Libretto beharrte, gab Strauss nach. Er schuf mit dem Einakter einen geradezu rauschhaften, von Dissonanzen zerrissenen Aufschrei, Musik, die in den Wahnsinn treibt, und, laut Strauss, wie bei seiner vorangegangenen Oper „Salome“, „... bis an die Grenzen der Harmonik, der psychischen Polyphonie und Aufnahmefähigkeit heutiger Ohren“ geht.
Ekstase und Rausch
Von diesem ekstatischen Aspekt her legt der Basler Musikdirektor Erik Nielsen mit dem erweiterten Sinfonieorchester Basel die gesamte Interpretation an und verlangt damit nicht wenig von allen Beteiligten. Der als Dreh- und Höhepunkt der Oper angelegte Aufschrei Elektras, als sie den Bruder wiedererkennt, jagt Schauer über den Rücken; ebenso der die Oper eröffnende, äusserst düstere, sogenannte „Elektra-Akkord“ auf den Namen Agamemnon, den man kompositionsgeschichtlich einordnen könnte nach Mozarts Komtur- und Wagners Tristan-Akkord. Leider jedoch hält Nielsen diese hochdramatische Stimmung auch in leiseren, intensiven Passagen aufrecht, vor allem in den heller gestimmten der Schwester Chrysothemis, sodass viele Feinstabstufungen der Orchesterpartitur fast untergehen. Elektras rauschhafter Hass als Grundstimmung deckt alles andere zu.
Aufsehen erregende Solisten
Aber, ist man versucht zu denken, das macht fast gar nichts. Denn die Gesangspartien sind in Basel so grossartig besetzt, dass man zwischendurch sogar vergisst, den Orchesterklang detailliert mithören zu wollen. Da ist die in aller Zierlichkeit und Jugendlichkeit erstaunlich stimmgewaltige Amerikanerin Rachel Nicholls als Elektra, die nicht nur musikalisch, sondern auch szenisch zu faszinieren weiss. Neben ihr brilliert die Finnin Pauliina Linnosaari als „Lichtgestalt“ Chrysothemis mit einer hinreissend schönen und hervorragend geführten Stimme von grosser Durchschlagskraft. Die Kölnerin Ursula Hesse von den Steinen ergänzt das weibliche Dreigestirn dieser Oper als attraktive, von Alpträumen zerrissene und um die Gunst ihrer Tochter Elektra glaubwürdig bettelnde Königin Klytämnestra. Auch alle kleineren Männer- und Frauenrollen sind durchwegs gut besetzt.
Konsequente Inszenierung
Mit Ausnahme der Basler Neueinstudierung der musikalischen Besetzung wurde diese Produktion von der Opera Vlaanderen und dem renommierten Aalto-Theater in Essen übernommen. Die Inszenierung von David Bösch im einfachen, dunkel-blutroten Bühnenbild von Meentje Nielsen ist konsequent auf psychologisierende Personenführung angelegt. Der Regisseur unterstreicht einerseits die musikalischen Vorgaben, lässt aber den Protagonisten genügend Raum für deren Figurenentwicklung, der das Publikum mit angehaltenem Atem folgte. Das Basler Premierenpublikum dankte es mit nicht enden wollendem Applaus.