Auf der einen Seite des Rheins in Basel der Novartis Campus, ein Cluster der Life Sciences, auf dem gegenüberliegenden Ufer der Holzpark mit dem Feuerschiff Gannet als Kulturzentrum: zwei unterschiedliche Arten der Erhaltung und Entfaltung von Leben.
Im Kreuzgang des Basler Münsters hängt die Grabtafel von Isaak Iselin (1728–1782), «Rathsschreiber von Basel, Stifter der Gesellschaft des Guten und Gemeinnützigen», bekannt unter dem Namen «GGG». Das Familienwappen der Iselins zieren drei Rosen. Iselin studierte Philosophie und Jurisprudenz und wäre gerne in Basel Professor geworden, doch blieb ihm diese Ehre zeitlebens versagt.
Zum Trost für alle, denen es ebenso gegangen ist, sei gesagt, dass Isaak Iselins Nachruhm mit Sicherheit denjenigen all der Professoren, die ihn damals nicht als Kollegen zu akzeptieren bereit waren, bei weitem übersteigt und bis in die Gegenwart reicht. Die 1777 gegründete GGG ist in Basels Kulturlandschaft eine gewichtige Institution. Das Ziel der Gesellschaft wird in den Gründungsstatuten so umschrieben: «Die Beförderung, die Aufmunterung und die Ausbreitung alles dessen, was gut, was löblich, was gemeinnützig ist, was die Glückseligkeit des Bürgers und des Menschen überhaupt erhöhen und vermehren kann, hat ein Recht auf Aufmerksamkeit der Gesellschaft.»
Iselin war auch Mitbegründer der Helvetischen Gesellschaft und präsidierte diese 1764. Zudem initiierte er – als Philosoph ohne professorales Gewicht! – im deutschsprachigen Raum eine neue Art der Auseinandersetzung mit der Geschichte, die sogenannte «Geschichtsphilosophie».
Es gehört zu den geheimnisvollen Zufällen des Lebens, dass der Name der untersten Rheinbrücke Basels, der Dreirosenbrücke, ihren Namen dem Familienwappen der Familie Iselin verdankt. Er erinnert an das Landgut «Zu den drei Rosen», das die Familie Iselin einst ausserhalb der Stadt, am Kleinbasler Rheinufer auf halbem Weg nach Kleinhünigen, besass. Isaak Iselin war ein kultureller Brückenbauer, und gleichermassen dient auch die Dreirosenbrücke heute nicht nur dem Austausch von Menschen und Waren, sondern auch von kulturellen Werten und Traditionen. Lassen Sie sich, liebe Leserin, lieber Leser, zur Illustration dieser Feststellung auf einen Spaziergang durch Basel mitnehmen.
Kürzlich habe ich zusammen mit Freunden, welche sich seit mehr als drei Jahrzehnten einmal im Jahr irgendwo in der Schweiz oder im nahen Ausland für einige Tage treffen, den verschiedenen Kulturen in Basel und seiner Regio nachgespürt (1). Wir begannen unsere Tour an der Schifflände und gingen von dort – am Haus von Johann Peter Hebel vorbei – durch die St. Johann Vorstadt zum St. Johann Tor und hinunter zum Rheinufer. Vor uns wölbte sich ein massiges, zweistöckiges Bauwerk über den Rhein, die heutige Dreirosenbrücke. Auf dem unteren Stockwerk verbindet die Autobahn A3 die Schweiz mit Frankreich. Rheinaufwärts mildert eine Schallschutzwand den Lärm, doch nicht so rheinabwärts, so dass uns, nachdem wir die Brücke unterquert hatten, das Getöse des Verkehrs wie eine Herde brüllender Stiere in den Nacken fuhr.
In meiner Basler Jugendzeit war das noch sehr anders, ja geradezu idyllisch gewesen. Die erste Dreirosenbrücke, eine elegante Stahlkonstruktion von 225 Meter Länge mit zwei Stützpfeilern, wurde 1934 eröffnet. Ich erinnere mich an gemütliche Velofahrten über die in den 1950er-Jahren ausserhalb der Stosszeiten wenig befahrene Brücke. Sechzig Jahre später geschah mit der Brücke, was Hochwässer des Rheins vermutlich nicht geschafft hätten, sie wurde von der sintflutartigen Zunahme des Verkehrs gleichsam weggespült und durch einen zweistöckigen Bau ersetzt. Die Fertigstellung der neuen Dreirosenbrücke dauerte 13 Jahre. Seit 2007 ist sie vollständig im Betrieb und bietet neben dem Tram und dem innerstädtischen Individualverkehr in der unteren Ebene Platz für die Autobahn.
Könnten unsere Augen auch immateriellen Verkehr sehen, so würden sie noch eine dritte Brückenebene entdecken, welche – Isaak Iselin freut sich – die verschiedenen Kulturen verbindet, die die Stadt Basel prägen, so einerseits die Forschung zur Verbesserung des physischen Wohlergehens des Menschen und andererseits die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Prozessen, welche im weitesten Sinne Gegenstand der Kunst ist.
Auf der Flucht vor den brüllenden Stieren stiessen wir am Quai des verschwundenen Hafens St. Johann, kurz vor der Grenze zum französischen Huningue, auf die Terrasse des Restaurants Basso. Von dort führt ein Weg hinauf zum Novartis Campus, der von Novartis zwischen 2005 und 2015 im Dreieck zwischen Rhein, Voltastrasse und ehemaliger Hüningerstrasse nach einem von Vittorio Lampugnani (ETH Zürich) entworfenen städtebaulichen Konzept für die biomedizinische Forschung gebaut worden ist.
Verschiedene berühmte Architekten, darunter (natürlich) die Basler Herzog & de Meuron, David Chipperfield, Eduardo Souto de Moura und Yoshio Taniguchi, haben in das von Lampugnani entworfene klassische rechteckige Strassenmuster ihre Gebäude gesetzt, so dass man sich auf der als Allee gestalteten einstigen Fabrikstrasse tatsächlich in einer klassischen Stadt mit einladenden Innenhöfen wähnt, in denen man sich – zumindest während der warmen Jahreszeit – gerne für Gespräche über die Fachgrenzen hinaus niederlässt.
Keine Regel ohne Ausnahme: Frank Gehrys Gebäude, in dem die Personalabteilung untergebracht ist, revoltiert als Einziges gegen den rechten Winkel und setzt einen architektonischen Kontrapunkt, welcher Lampugnanis Konzept nicht aufhebt, sondern verstärkt.
Seit Oktober 2022 ist der Novartis Campus an Werktagen zwischen 7 und 19 Uhr für die Allgemeinheit zugänglich. Am besten beginnt man den Rundgang im 2022 eröffneten Novartis Pavillon, ein als Torus – oder Donut, falls Sie sich das besser vorstellen können – gestalteter einzigartiger Ausstellungsbau, in welchem Vergangenheit und Zukunft des Gesundheitswesens umfassend thematisiert werden.
Der Novartis Campus ist Ausdruck einer bestimmten Unternehmungskultur, welche auf der Überzeugung basiert, eine urbane Umgebung würde die Begegnung zwischen Menschen und deren Kreativität fördern. Interessanterweise hat sich einige Kilometer flussaufwärts, auf der andern Seite des Rheins, mit den markanten Roche-Hochhäusern – auch sie von Herzog & de Meuron entworfen – eine andere Vorstellung des Begegnungsraums manifestiert. (2) Es wird spannend sein zu beobachten, wie sich diese architektonischen Visionen bewähren werden.
Doch in unserem Programm geht es heute nicht um den Kontrast zwischen Forschung in der Stadt oder im Hochhaus, sondern um denjenigen zwischen Forschung und Gesellschaft. Und diesen finden wir in besonderer Ausprägung dem Novartis Park gegenüber, am rechtsufrigen Klybeckquai, wo einst die Öltanks von Migrol standen und vor zehn Jahren die Stadt Basel das ehemalige Hafengelände für eine Zwischennutzung ausgeschrieben hatte.
Auf dem Weg dorthin hätte sich eigentlich die Iselin’sche Dreirosen- bzw. Kulturbrücke angeboten, aber ganz in der Nähe gibt es eine weit romantischere Flussquerung, die Ueli Fähre. Die Zeit ans andere Ufer reichte gerade, um mit «em Fährima» über die Einzigartigkeiten von Kanal- und Flussschifffahrten zu plaudern – wir beide hatten einst auf einer Linssen Yacht Europas Wasserstrassen befahren –, und schon war die Fahrt vorbei und wir gingen auf dem Quai rheinabwärts zum Holzpark.
Wie (zwischen-)nutzt man ein kiesbedecktes Gelände von einer Hektare ohne Strom, Wasser und Kanalisation? – Katja (Pflegefachfrau, Kulturveranstalterin, sprachgewandte Moderatorin (3) ) und Tom (Elektriker, Tontechniker, Kulturveranstalter) überzeugten die Stadt, sie wüssten es, erhielten den Zuschlag, fanden Seelenverwandte, begannen 2014 mit dem Ausheben von Gräben für die Ver- und Entsorgung des Geländes, bauten aus Holz provisorische Veranstaltungs- und Verpflegungsstätten (den Hafechäs zum Beispiel, in dem es im Winter Fondue gibt), überzeugten durch ihren schier unerschöpflichen Enthusiasmus andere, mit eigenen Projekten aufs Gelände zu kommen, waren manchmal erschöpft und verzweifelt, gaben aber nie auf, auch wenn die benachbarten Geländebesetzerchaoten immer wieder neu Geschaffenes zerstörten, bis sie sich schliesslich mit den vermeintlichen Konkurrenten abfanden.
Doch ein Problem blieb: Wie sollte man in den provisorischen Holzbauten (laute) Veranstaltungen organisieren, ohne mit der Wohnbevölkerung jenseits des Hafenbahnhofs in Konflikt zu geraten? – Im September 2019 hörten Katja und Tom von einem 1954 gebauten irischen Leuchtturmschiff, das ausser Dienst gesetzt worden war und zum Verkauf stand: die Gannet. – Es war wie eine Erlösung: Konzerte in einem Schiffsbauch – damit werden alle Lärmprobleme gelöst sein!
Wie es dieses Schiff nach Basel und schliesslich auf das Gelände des Holzparks schaffte, erzählt ein kurzes Video, das ich allen wärmstens empfehlen kann. Dort werden Sie zum Beispiel erfahren, dass die Gannet mit ihren 600 Tonnen Gewicht – beim Kauf hatte man sie auf weniger als 200 Tonnen geschätzt – das schwerste Objekt ist, das je in Europa von einem einzigen Pneukran gehoben worden ist.
Später sassen wir mit Katja und Tom beim Nachtessen auf dem Deck der Gannet und liessen uns von ihren Geschichten über immer wieder neue Abenteuer auf ihrer Reise durch die vergangenen zehn Jahre überraschen. Und plötzlich wurde uns bewusst: Novartis Campus und Holzpark sind wie die zwei Seiten einer Münze – besser: eines Goldstückes. Hier die Forschung auf der Suche nach dem gesicherten Wissen über das Leben – dort die kreative Fantasie auf der Suche nach dem Wesen des Menschen, hier das Gestaltungskonzept von Vittorio Lampugnani – dort das scheinbar chaotisch-ungeplante Entstehen einer eigenen Ordnung, hier die ökonomischen Ressourcen eines Weltkonzerns, dort die seelischen Ressourcen von »Mittellosen», welche während zehn Jahren auf Lohn verzichten, um ihre Idee zu verwirklichen.
Wie heisst es in Isaak Iselins Zweckartikel der GGG: «Die Beförderung, die Aufmunterung und die Ausbreitung alles dessen, (…) was die Glückseligkeit des Bürgers und des Menschen überhaupt erhöhen und vermehren kann …» Ein Besuch diesseits und jenseits des Rheins lohnt sich!
(1) Darüber mehr im Beitrag «Der Traum vom eigenen Himmel», 25. August 2020
(2) Siehe auch den J21-Beitrag «Ein bisschen Basel in Zürich» vom 22. März 2023
(3) Im Buch von Lukas Schmutz «Basel, unterwegs» führt uns Katja Reichenstein auf einer Stadtwanderung von der Falknerstrasse in den Holzpark.