Die promovierte Physikerin und Umweltspezialistin studierte in Berkeley und war Expertin bei der Uno für Klimafragen. Sie steht links, ist Jüdin und war Gouverneurin der Neun-Millionen-Metropole Mexiko-Stadt. Bald wird sie wohl – als erste Frau – an der Spitze des einstigen Aztekenreichs stehen.
Der linke mexikanische Präsident Andrés Manuel López Obrador (genannt «AMLO») stand dem drittgrössten lateinamerikanischen Land sechs Jahre lang vor. Er, «der tropische Messias», wie er wegen seiner Versprechen genannt wurde, muss im Sommer zurücktreten. Eine zweimalige Amtszeit erlaubt die mexikanische Verfassung nicht. López Obrador ist Gründer der sozialdemokratischen «Morena»-Partei. Morena steht für «Movimiento Regeneración Nacional»: Bewegung nationaler Erneuerung.
Die 61-jährige Claudia Sheinbaum Pardo, eine enge Vertraute des abtretenden Präsidenten, könnte bald AMLO beerben. Wenn nicht alles täuscht, wird sie im Sommer zur mexikanischen Präsidentin gewählt werden. Sie wäre dann die erste Frau an der Spitze des mexikanischen Riesenreichs zwischen Atlantik und Pazifik.
Fast uneinholbar vor der rechten Konkurrentin
Die Wahlen finden am 2. Juni statt. Doch bereits vier Monate vorher steht das Ergebnis fast schon fest. Laut jüngsten Meinungsumfragen liegt Claudia Sheinbaum nahezu uneinholbar vor ihrer rechtsgerichteten Konkurrentin.
Sheinbaum ist Kandidatin einer Dreier-Koalition, die sich aus der «Morena», der «Arbeiterpartei» (Partido del Trabajo) und der Grünen «Ökologischen Partei» (Partido Verde Ecologista) zusammensetzt.
Eigentlich sollte der Wahlkampf jetzt im Februar beginnen, doch da die Würfel fast schon gefallen sind, kommt keine richtige Wahlkampfstimmung auf.
Sheinbaums Gegenkandidatin ist die Senatorin und Millionärin Xóchitl Gálvez Ruiz vom rechtsgerichteten Oppositionsbündnis «Frente Amplio por México». Sie, eine Computeringenieurin und Unternehmerin, war bisher weitgehend unbekannt. Ausgerechnet der linke Präsident López Obrador hatte sie bekannt gemacht, indem er sie in seinen täglichen Medienkonferenzen ständig angriff.
Portiert wurde sie von einem Dreierbündnis, das aus der abgewirtschafteten 70 Jahre lang herrschenden PRI-Partei (Partei der institutionalisierten Revolution), der sehr konservativen PAN-Partei (Partei der Nationalen Aktion) und der gemässigt linken PRD (Partei der demokratischen Revolution) besteht.
Laut einer Meinungsumfrage von Anfang dieser Woche führt Sheinbaum vor Gálvez mit bis zu 30 Prozent Vorsprung.
Die Morena-Partei war vor 13 Jahren von López Obrador gegründet worden. Die neue Bewegung startete unter dem Slogan «Zusammen schreiben wir Geschichte». Morena schüttelte die mexikanische Parteienlandschaft nachhaltig durch. Damit ging eine siebzigjährige Vorherrschaft der beiden traditionellen Parteien PRI und PAN zu Ende.
Inhaltlich die Nase vorn
Sheinbaums Handicap ist, dass sie oft sehr akademisch wirkt, manche sagen: spröde. Dies im Gegensatz zu ihrer volkstümlich wirkenden Gegenkandidatin Gálvez Ruiz. Doch inhaltlich hat Sheinbaum die Nase vorn. Sie baut auf den Erfolgen des bisherigen Präsidenten AMLO auf und verspricht eine Weiterführung seiner Reformen. Im Gegensatz dazu begnügt sich die rechtsgerichtete Gegenkandidatin mit Gemeinplätzen und wüsten Angriffen. Sie nannte ihre Gegnerin kürzlich «Fucking Claudia», was selbst in Mexiko mit seinen rauen Gepflogenheiten nicht gut ankam.
Gestärkt wurde Sheinbaum auch, weil sich ihr bisheriger Konkurrent, der frühere Aussenminister Marcelo Ebrard, auf ihre Seite geschlagen hatte. Ebrard hatte parteiintern lange gegen Sheinbaum gekämpft und wäre selbst gern Präsident geworden.
Das Rechtsbündnis scheint sich mit einer Niederlage am 2. Juni bereits abgefunden zu haben. Bei einer Veranstaltung vor zwei Wochen in der mexikanischen Stadt Guanajuato waren die Präsidenten der Bündnisparteien PRI und PRD schon gar nicht mehr gekommen. Die Opposition hofft, im Parlament, im Kongress, Sitze dazuzugewinnen, um das Regierungsbündnis daran zu hindern, eine Mehrheit zu erreichen, die es ihm ermöglichen würde, Verfassungsänderungen durchzusetzen.
Jüdische Eltern
Sheinbaum wurde in Mexiko geboren. Die aschkenasischen Eltern ihres Vaters wanderten in den Zwanzigerjahren aus Litauen nach Mexiko ein. Die sephardischen Eltern ihrer Mutter kamen auf der Flucht vor dem Holocaust in den Vierzigerjahren von Bulgarien nach Mexiko. Ihr Vater ist Chemieingenieur, ihre Mutter Biologin und emeritierte Professorin.
Sheinbaum war 2018 zur Regierungspräsidentin von Mexiko-Stadt gewählt worden. Das Amt entspricht etwa dem einer Super-Bürgermeisterin oder einer Gouverneurin. Zum ersten Mal wurde die Hauptstadt von einer Frau regiert. Auch AMLO war Gouverneur von Mexiko-Stadt. Das Amt scheint ein Sprungbrett für das Staatspräsidium zu sein.
Sheinbaum wird es nicht einfach haben, in die grossen Fussstapfen ihres Vorgängers zu treten. López Obrador hatte die Politik sechs Jahre lang auf charismatische Art dominiert und viel erreicht. Trotz seines autoritären Regierungsstils sind seine Sympathiewerte im Volk sehr hoch. Das liegt auch darin, dass er sich glaubwürdig für die Armen und die Unterprivilegierten stark gemacht hat.
So ist unter López Obrador die Armutsrate im Land stark gesunken. Zwischen 2020 und 2022 haben fast neun Millionen Menschen die Armut überwunden. Das gab «Coneval» bekannt, der «Nationale Rat für die Bewertung der Sozialpolitik». Doch noch immer leben fast 47 Millionen Mexikaner und Mexikanerinnen unter der Armutsgrenze, das sind 36 Prozent der Bevölkerung. 2020 waren es noch 44 Prozent. Grund für den Rückgang sind landesweite und kommunale Sozialprogramme sowie eine Erhöhung des Mindestlohns. Jetzt soll auch die Grundrente um fast einen Viertel erhöht werden. 7 Prozent der Bevölkerung gelten noch immer als «extrem arm».
Trotz Erfolgen hinterlässt AMLO seiner Nachfolgerin viele Baustellen. Mexiko gilt in Lateinamerika noch immer als das fünftärmste Land – nach Honduras, Guatemala, Nicaragua und Kolumbien. Die Sozialprogramme müssen weiterentwickelt werden – doch dafür fehlt das Geld. Auch der Aufbau eines landesweiten Gesundheitssystems stösst an Grenzen. Der Zugang zum Gesundheitswesen hat sich in den letzten Jahren verschlechtert. 39 Prozent der Bevölkerung haben noch immer keinen oder nur mangelhaften Zugang zu gesundheitlichen Dienstleistungen.
Zu leiden hat Mexiko auch unter den Flüchtlingsströmen, die von Südamerika via den Darién-Dschungel über Zentralamerika nach Mexiko kommen und an der US-Grenze gestoppt werden.
Drogenkriminalität
Arg zu schaffen macht dem halbtropischen Land auch der Klimawandel. AMLO hatte zudem den Universitäten und der Forschung den Hahn zugedreht, was zu Protesten und zu einer Abwanderung von «Brain» geführt hat. Das will Sheinbaum rückgängig machen.
Und natürlich gehört die Drogenkriminalität zu den grössten Problemen. Viele lateinamerikanische Staaten – vor allem Kolumbien, Peru, Ecuador und Mexiko – werden immer mehr von Drogenkriegen gegeisselt. Bisher ist es Mexiko nicht gelungen, diese Kriminalität einzudämmen. Immer wieder kommt es zu blutigen Zusammenstössen rivalisierender Kartelle. Mehr und mehr sind auch Jugendbanden aktiv. Raubüberfällen, Entführungen, Diebstählen und Gewalt gegen Frauen sind an der Tagesordnung. Pro Jahr werden in Mexiko weit über 20’000 Menschen ermordet. Viele Kommentatoren bezweifeln, ob die neue Präsidentin das Problem bald in den Griff bekommen kann.
Obwohl sie nicht das Charisma ihres Vorgängers hat, ist Sheinbaum in weiten Teilen der Bevölkerung beliebt. Als letztes Jahr bekannt wurde, dass sie Grossmutter wird, erhielt sie über die sozialen Medien in kürzester Zeit Zehntausende Glückwünsche.