Die Pekinger Sommer sind heiss, sehr heiss und schwül. Kein Wunder deshalb, dass bereits kurz nach Machtantritt die kommunistische Nomenklatura Erleichterung in kühler Brise suchte und sie in Beidaihe, 300 Kilometer östlich von Peking an der Bohai-Bucht am ostchinesischen Meer auch fand. So traf und trifft sich meist im Juli oder August die oberste Führungsetage der Volksrepublik, um sich über die künftige Wirtschafts-, Sozial- und Aussenpolitik einig zu werden.
Mao lässig
Doch so locker wie einst geht es, wenigstens was die Medien angeht, nicht mehr zu und her. Mao versammelte seine Getreuen erstmals 1954 in Beidaihe und machte das ehemalige Fischerdorf zur Sommerhauptstadt Chinas. Der „Grosse Steuermann“ schrieb, inspiriert vom zehn Kilometer langen Strand mit dem feinen Sand und den Schatten spendenden Pinien- und Zedernwäldern ein Gedicht. Insgesamt verbrachte Mao den Sommer elfmal in Beidaihe. Er liess sich dabei gerne lässig im Bademantel am Strand ablichten.
In Beidaihe ersann Mao die erste Verfassung der Volksrepublik, und an dem für die Elite reservierten anderthalb Kilometer langen Weststrand dachte er wohl auch über den „Grossen Sprung nach vorne“ nach mit dem Ziel, den Westen ein- und zu überholen. Das Resultat war eine Katastrophe mit der grössten Hungersnot der Geschichte. Zwischen 30 und 45 Millionen Chinesinnen und Chinesen verloren ihr Leben.
Bridge und Badehose
Auch der grosse Revolutionär und Reform-Übervater Deng Xiaoping liebte im Sommer Beidaihe. Die Staatsmedien lichteten ihn in Badehose beim Schwimmen in der Bohai-Bucht ab oder noch lieber beim Bridge-Spielen. Schliesslich war Deng Präsident der chinesischen Bridge-Gesellschaft. Aber es war Deng, der bis zu seinem Tode als Vizepremier und als Chef der allmächtigen Militärkommission quasi „hinter dem Vorhang“ entschied, welchen Weg China einschlagen sollte.
Heute unter der Ägide von Xi Jinping, dem stärksten Parteichefs seit Deng, ist Beidaihe wieder ein fester Punkt in der Polit-Agenda Chinas. Undenkbar freilich ist, dass man Staats-, Partei- und Militärchef Xi wie einst Mao im Bademantel am Strand auf den Titelseiten der Staats- und Parteimedien abgelichtet bewundern kann. Und noch viel weniger so wie einst Deng Xiaoping in Badehosen.
Villen, Sanatorien, Ferienheime
Das Fischerdorf Beidaihe wurde bereits am Ende des 19. Jahrhunderts von Ausländern und den chinesischen Eliten zur Sommerfrische genutzt. Englische Eisenbahn-Ingenieure und deutsche Geschäftsleute sowie Diplomaten bauten sich komfortable Villen. Nach Gründung der Volksrepublik 1949 richteten Fabriken für ihre Arbeiter und Ministerien für ihre Angestellten Sanatorien und Ferienheime ein. Ausländische Diplomaten mieteten sich im Gästehaus der Regierung ein.
George H.W.Bush, nachmaliger US-Präsident, erinnert sich noch heute gerne an seine Sommerfrische, als er 1974/75 Chef des US-Verbindungsbüros in Peking war. Der Sommer-Gipfel war beliebt, doch während den chaotischen Tagen der „Grossen Proletarischen Kulturrevolution“ (1966-76) hatte offenbar niemand Lust zum Schwimmen. Im Jahre 2003 fiel das Konklave der Spitzen-Parteileute nochmals aus, weil Parteichef Hu Jintao und Premier Wen Jiabao Bescheidenheit gegenüber den Volksmassen markieren wollten. Doch die Konsens-Diskussionen wurden kurz danach im informellen Rahmen von Beidaihe wieder aufgenommen.
Klarer Kopf
Die Beidaihe-Zusammenkunft wird nie öffentlich im Voraus angekündigt. Plötzlich erhöhte Militär- und Polizeipräsenz deuten jeweils darauf hin, dass in den strengstens bewachten und abgeschirmten Villen und Nobelquartieren am Weststrand etwas vor sich geht. Den Normal-Urlauber kümmert das wenig. Als Ihr Korrespondent 1986 erstmals im Sommer in Beidaihe war, antwortete ein Kellner in einem aus der Kolonialzeit stammenden deutschen Kaffeehaus auf die Frage, was denn hier los sei: „Wer von der Grosskopfete hier ist, sagt uns niemand. Aber wir fragen selbstverständlich auch nicht danach.“
Nur soviel ist seit Jahrzehnten gewiss, die oberste Parteiführung ist präsent, einige ältere verdiente hohe Parteikader, sowie je nach Bedarf Minister, Ökonomen und Experten. Eine Liste der Anwesenden wurde seit dem ersten Treffen vor über fünfzig Jahren nie veröffentlicht. In einem Kommentar der „Global Times“, einem Ableger des Parteisprachrohrs „Renmin Ribao“ (Volkszeitung), hiess es vor einem Jahr vieldeutig, dass in Beidaihe KP-Führer weg von der Pekinger Sommerhitze mit „klarem Kopf über die Aufgaben der Zukunft entscheiden“. Die Global Times zitiert auch Zhang Xixian, Professor der Zentralen Parteischule, mit den Worten: „Es ist eine informelle Zusammenkunft, wo Führer einen kurzen Urlaub machen und gleichzeitig einen Konsens über den künftigen Entwicklungsweg des Landes finden.“
Blackbox der chinesischen Politik
Ebenso geheim wie das Procedere ist die Agenda. China ist heute zwar weit transparenter als vor dreissig, geschweige denn vor fünfzig Jahren. Das Beidaihe-Powwow bleibt jedoch die ultimative Blackbox der chinesischen Politik. Sinophile, Experten, Pundits aller Schattierungen und Journalisten – Ihr Korrespondent eingeschlossen – können deshalb um so frischer drauflos spekulieren, wer wo wie und warum etwas gesagt, entschieden oder sich durchgesetzt hat.
Im vergangenen Jahr standen beispielshalber der 13. Fünfjahresplan (2016-2020), der Kampf gegen Korruption oder das Verhältnis zu den USA und Japan zur Diskussion. In diesem Jahr geht es vor allem um weitere Reformschritte, zumal bei ineffizienten Staatsbetrieben mit Überkapazitäten. Das ist ein heikles Thema, denn solche Reformen werden zu Massenentlassungen führen. Das wiederum bedroht die Stabilität. Die allmächtige Kommunistische Partei versucht hier gemäss der 2007 definierten Parteilinie, „Harmonie“ zu finden. Instabilität und Chaos (Luan) nämlich hat schon zu Kaiserszeiten nicht selten das „Mandat des Himmels“, also die Macht gekostet.
Inspektionsreisen
Wie die stets gut unterrichtete Hongkonger Tageszeitung „South China Morning Post“ berichtet, sind im Vorfeld des Sommer-Gipfels vier der sieben Mitglieder des Ständigen Politbüro-Ausschusses – dem obersten Machtorgan Chinas – zu Inspektionstouren gefahren, um in mehreren Provinzen die ökonomische und soziale Befindlichkeit zu eruieren.
Die Geschwindigkeit der Entwicklung driftet nämlich in verschieden Provinzen weit auseinander. Es gibt Provinzen wie Liaoning im nordost-chinesichen Rostgürtel, die sich nahe oder gar bereits in einer Rezession befinden, während im Westen und Südwesten einige ärmere Provinzen dank Infrastruktur-Investitionen noch immer mit zweistelligen Wachstumsraten glänzen. Es ging nach dem Bericht der „South China Morning Post“ bei einer der Inspektionsreisen auch um Ideologisches, nämlich um religiöse Toleranz. Wieviel staatliche Intervention und welche Reformschritte sofort oder vielleicht erst später ergriffen werden sollen, das sind die Themen auf der Beidaihe-Agenda.
Personalien
Natürlich ging und geht es in Beidaihe ebenfalls stets um Personalien. Diesmal dürfte bereits der Parteitag vom kommenden Jahr ein ziemlich wichtiger Diskussionspunkt sein. Parteichef Xi steht 2017 in der Mitte seiner zehnjährigen Amtszeit. Altershalber treten viele ZK- und Politbüromitglieder zurück. Xi wird wohl mit einer klugen Personalpolitik dafür sorgen, dass beim Rücktritt 2022 seine Politik nahtlos weitergeführt wird. Die Chancen stehen gut, denn Xi sitzt – soweit man das von aussen überhaupt beurteilen kann – fest im Sattel.
Für die roten Mandarine der aufstrebenden Grossmacht China stehen natürlich auch aussenpolitische Fragen wieder auf der Beidaihe-Agenda, zumal das Verhältnis zu den USA und Japan, sowie das weitere Vorgehen im Konflikt im Südchinesischen Meer mit Staaten wie Vietnam oder den Philippinen.
Die „Fliege“ Ma
Auch der Kampf gegen Korruption wird in Beidaihe erneut thematisiert. Parteichef Xi hat ja versprochen, „Tiger“ und „Fliegen“ gleichermassen zu treffen. Die grössten Tiger sind lebenslänglich hinter Schloss und Riegel, so der ehemalige Stellvertretende Vorsitzende der Militärkommission General Guo Boxiong oder der ehemalige Sicherheitschef Chinas, Zhou Yongkang, der auch Mitglied des Ständigen Ausschusses des Politbüros war. Aber auch „Fliegen“ trifft es, wie ein Beispiel ausgerechnet aus Beidaihe anschaulich zeigt.
Der 47 Jahre alte Ma Chaoqun war, wie die „Global Times“ farbig berichtet, Chef der Wasserversorgung von Beidaihe. Das erfolgreiche Geschäftsmodell des agilen Managers lässt sich auf folgende Formel verkürzen: Kein Geld, kein Wasser. Alle zahlten. Noch vor vier Jahren wurde der rührige Ma für seine „exzellente Arbeit“ als Modell-Arbeiter belobigt. Vor zwei Jahren war fertig lustig. Wie die „Global Times“ moralisch empört vorrechnet, wurden bei Ma 120 Millionen Yuan (umgerechnet 19 Millionen Franken) in Cash sichergestellt, desgleichen 37 Kilogramm Gold sowie insgesamt 68 Immobilien. Fürwahr, eine potente „Fliege“.
Wer jetzt von chinesischer Politik genug hat, dem sei unter dem Siegel der Verschwiegenheit noch etwas verraten: Beidaihe gilt weltweit unter Ornithologen als Paradies. Dieses chinesische Staatsgeheimnis kann möglicherweise bei der Vogelwarte Sempach verifiziert werden.