Die Zahl der Orchestermusiker, Sänger und Chöre, Akrobaten, Installationen, technoider Figuren und Bühnenbauten sprengt nicht nur das Budget fast aller Opernhäuser der Welt, sondern auch ihre räumlichen Dimensionen. ‚Wie aber kann man ‚Babylon’ aufführen, wenn nicht bombastisch?’ fragte der Münchner Klarinettist und Komponist Jörg Widmann, den dieses Werk zwei Jahre lang beschäftigte. Und doch denkt er bereits über eine minimalistisch-puristische Inszenierung seiner Musik nach.
Wir trafen Jörg Widmann an seinem Wohnort in Freiburg, wo er Komposition lehrt.
Herr Widmann, Warum wählten Sie das Thema Babylon?
Das Thema Babylon fasziniert mich seit langem. Der Wunsch es zu bearbeiten kam bereits nach der Beendigung meiner 1. Oper ‚Das Gesicht im Spiegel’, in der es ums menschliche Klonen geht in der Kultur der Banker und Börsianer in einer moderne Metropole. Ich dachte nun an ein Stück über unsere Zeit ohne die tagespolitische Aktualität und wollte dabei ganz weit zurück gehen um von Jörg Widmann und Peter Sloterdijk etwas Ursprüngliches über uns zu erfahren. Eine Inspiration waren dabei die heutige Megacities, die sich auf der ganzen Welt immer mehr ausbreiten.
Ich habe einen Monat in Dubai verbracht; ein befremdliches Erlebnis. Da steht der wohl zweitgrösster Turm der Welt. Wo man auch steht, kann ihn nicht verpassen. Da kommt uns doch der Gedanken an einen Turm wie in Babylon. Auch behaupte ich, dass wir in einer babylonischen Welt leben mit dem allgegenwärtigen Internet, der Vielfalt von Fernsehkanälen und der ‚babylonischen’ Vielsprachigkeit; Es ist Vielfalt im Schönsten und gefährlichsten Sinne.
Ich wollte aber auch über das biblische Babylon etwas schreiben, denn ich fragte mich: Kann das Image einer Stadt wirklich so schlecht sein? Historisch ist es durchgehend negativ; man spricht von der ‚Hure Babylon’. Ein alttestamentarischer Gott musste da Strafen reinhauen. Sind wir heute nicht auch manchmal dazu geneigt das Prinzip Grossstadt in Bausch und Bogen zu verdammen ?
Wird denn die Spiegelung unserer Welt umso deutlicher wenn sie sich in einer anderen Zeit als der unseren spiegelt?
Ich glaube ja. Es setzt allerdings die Transferbereitschaft des Publikums voraus. Was ist bei den babylonischen Vorgängen an Urmenschlichem dabei? Worum ging schon damals bei der jüdischen Frage? Was ist Exil? Was ist Fremdsein in einer anderen Kultur? Letztere eine Frage, die sich heute noch stärker stellt ,weil es viel mehr Migration gibt als zu allen Zeiten; auch provoziert durch die modernen Verkehrsmittel. Die Probleme haben sich bei uns vielleicht potenziert, doch die Urkonflikte sind gleich geblieben.
Nehmen wir die Opferungsszene in dieser Oper, wo das ganze Babylonische Volk dabei steht und jemanden wirklich sterben sehen will. Wie ist das heute ? Auch wir wollen am TV jemanden auf dem elektrischen Stuhl sterben sehen oder die Steinigungen in Afghanistan möglichst live mitverfolgen. Also da sind wir in der westlichen Welt gar nicht weit vom Verlangen der Babylonier entfernt. Wir denken so aufgeklärt und zivilisiert zu sein, doch in diesen entscheidenden Momenten bricht das Archaische sich wieder Bahn in uns. Insofern glaube ich schon, dass es ein deutlicher Spiegel unserer Zeit ist
Nur des Negativen?
Nein, denn die Urfrage, die sich uns stellte war: Woher kommt denn diese Lebensfreude der Babylonier? Die Babylonien waren sich durchaus des Dunklen und Bösen im Leben bewusst. Und doch genossen sie das Lebendigsein; doch in Eigenverantwortung. Sie glaubten: wir müssen schauen, dass wir untereinander klarkommen bevor wir alles an die Götter oben delegieren. Babylonier fragen auf dem Höhepunkt der Flut, wo waren die Götter? Sie sassen auf den Felsen und zitterten. Heute denken wir nach Fukushima und New Orleans: wie konnten Gott oder die Götter dies zulassen?
Wie sind Sie auf Peter Sloterdijk , den deutschen Starphilosophen, als Librettisten gekommen?
Bei einer Zugfahrt kam mir der Gedanke; warum sollte ich nicht mit jemandem zusammen arbeiten, dessen Bücher ich am liebsten lese? Jemand, der eine Sprachmacht besitzt, assoziatives Denken pflegt und nicht nur ein akademisches, ein hegelianisches Denken besitzt. Peter Sloterdijk kann man ausserdem einen Brocken hinwerfen und sein Denken, seine Assoziationen, gehen sofort los.
Ausserdem habe ich bei den Salzburger Festspielen erlebt wie physisch er auf Musik, auch auf meine, reagiert. Er reagierte körperlich so stark wie andere bei einem Popkonzert. Leute im Publikum sind ob seinen heftigen Reaktionen direkt erschrocken. Sloterdijk versteht auch etwas von Musik und hat spannende Essays über Musik und deren Rezeption geschrieben
Doch Librettoschreiben ist eine eigene Kunst, ein spezielles Handwerk
Ich folgte da meinem Instinkt. Wir haben uns zusammengesetzt und über das Thema gesprochen und ich war mir sofort sicher, dass das gut geht. Das Vertonen von Sprache hat mir noch nie so eine Freude gemacht wie hier und war noch nie so existentiell. Ein hoher Ton herrscht in diesem Stück und auch in diesem Libretto. Ein Pathos, das manche befremdet hat. Doch beim Thema Babylon ging es nicht anders.
Wie gestaltete sich konkret Ihre Zusammenarbeit mit Peter Sloterdijk?
Da war die geographische Nähe gut. Ich wohne in Freiburg, er in Karlsruhe Das ist nur eine Stunde Fahrt im ICE. Da gab es Gedankenstränge, die gingen entweder bei ihm oder bei mir nicht weiter. Also haben wir uns getroffen, diskutiert, und die Gedanken weiter gesponnen. Heraus kamen auch ganz konkrete Vorstellungen, zum Beispiel wie Gänge von Figuren auf der Bühne zu sein hatten. Oder wo ich nun einen Text brauchte, der exakt 20 Sekunden lang ist. Wir haben uns gegenseitig inspiriert. Ich habe viele Elemente ins Libretto eingebracht und genauso hat Sloterdijk hatte viele Ideen für die Musik gehabt. Viel Musik wurde schon bei der Arbeit am Libretto in ihm hervorgerufen, und er hat sie mir konkret ausgeführt.
In ihrer Musik zur Oper zitieren Sie oft. Wie Mahler es gemacht hat
Ja, denn mit Mahler geht die Moderne los, nicht erst mit Berg und Schönberg. Sie finden die ganze Vielfalt der modernen Welt in dieser Musik. Einen österreichischen Ländler, den Valse Musette, Mozart, die Moderne... Doch das Wichtigste ist, was hält diese Musik und damit unsere Welt zusammen? Und dieser Frage habe ich mich in meiner zweijährigen Arbeit gestellt.
Wie kam es zur Zusammenarbeit mit katalanischen Künstlertruppe La Fura dels Baus, die unter Leitung von Carlus Padrissa für ‚Babylon’ furiose Bildfolgen Post-Fellinesker Phantasie und technik-affines Hochgeschwindigkeitstheater geschaffen hat? Auf der Bühne passiert stetig so viel Überraschendes und Erstaunliches, dass man fast vergisst der Musik zuzuhören.
Auch da kamen bei mir wieder die Lust am Risiko und Lust zum Ausprobieren zusammen wie bei Sloterdijk. Ich hatte diese Truppe in einer Stockhausenproduktion in Köln gesehen und war begeistert. Sie hatte moderne Musik in einer Art inszeniert, die mich total überzeugte. Sie haben sich meine Musik angehört. Dann haben wir eine ganze Nacht diskutiert. Es war so ein Austausch, ein Zusammengehen, dass ich wusste, das klappt.
Zum Beispiel wussten sie genau wie ihr Turm von Babel zusammenkrachen muss. Wie sie einem Moment kreieren, in dem vor lauter Euphorie und Glück etwas Einzigartiges geschaffen zu haben etwas Entsetzliches passiert. Wie im Relegationsspiel der Düsseldorfer Fortuna als beim Sieg die Fans zu früh auf das Spielfeld stürmten und damit fast das Spielergebnis ungültig machten .
Das Komponieren dieser Oper hat Sie zwei Jahren lang total eingenommen. Hat es Sie auch musikalisch verändert?
Eine Oper zu schreiben ist immer etwas Existenzielles, ich habe deutlich weniger konzertiert während des Schreibens und mir vom Lehren frei genommen. Doch bei aller Planung macht dieses Komponieren doch so etwas Extremes mit einem Menschen und verändert ihn. Eine Oper vereint die Summe des bisher Gemachten ist aber immer auch ein Ausblick. Hier ging es mir in vermehrtem Masse so. Diese Gleichzeitigkeit und das Übereinander von verschiedenen Musiken, Stilistiken, Genres, das habe ich in diesem Mass noch nie gemacht
Eine babylonische Vielfalt?
Richtig, das gibt es in meinem Werkverzeichnis glaube ich schon, aber bisher eher getrennt. So habe ich ein Hörspiel für Kinder gemacht, symphonische Musik für die Berliner Philharmoniker, eine Schauspielmusik zu Euripides oder zu Shakespeare. Sehr Verschiedenes; das bin aber immer ich. Interessanterweise, jetzt wo wir darüber sprechen fällt mir auf, dass als mich Hans Werner Henze als 16-Jährigen bat, eine Musik fürs Schultheater zu schreiben, ich damals schon eine Jazzband gegen ein modernes Musikensemble gesetzt habe. Dass so eine Art Kampf und Streit stattfand. Das Thema dieser verschiedenen Genres scheint mich schon lange zu interessieren.
Pierre Boulez hatte für mich in meinem Leben eine ungeheure Wichtigkeit weil ich bei ihm mein erstes Erlebnis der neuen Musik hatte. Ich habe später auch viel mit ihm als Klarinettist gearbeitet. Boulez aber hing in meiner Jugend gleichberechtigt über meinem Bett als musikalischer Gott neben Miles Davis, einem der ganz Grossen nicht nur Instrumentalisten, sondern auch Komponisten des 20. Jahrhunderts. Der Jazz und die Moderne.; im Miteinander und Gegeneinander.
In ‚Babylon’ habe ich das nun zu einem extremen Punkt geführt. Musikalische Türen sind da aufgestossen worden von denen ich nicht wusste, dass es sie gibt. Und ich habe Neuland betreten, von dem ich vorher nicht wusste, dass es dies gibt und dass ich es betreten darf. Anderseits glaube ich, dass man so ein Stück nur einmal schreiben kann.
Der Premierenabend Ihrer Oper fiel genau auf den Todestag von Hans Werner Henze, einem Ihrer ersten Lehrer? Was haben Sie von ihm mitgenommen?
Er war ein König im Reich der Musik. Als Persönlichkeit aber ungeheuer komplex und schwierig. Er konnte bezaubernd sein, hatte aber tiefe Abgründe in sich, die in seiner Musik auch hörbar sind. Das Denken im Theater, wie Musik dort wirken muss, hätte ich bei niemand anders so lernen können wie bei ihm: Wie konkret er sich die Figuren auf der Bühne vorgestellt hat, wie lang welche Gänge dauern mussten, dass das Timing stimmen muss, und dass man erst eine präzise ‚Minutage’ machen muss, das hat er weiter gegeben. Da war der genuiner Musikdramatiker .
Wie gestaltete sich die Zusammenarbeit mit dem Dirigenten Kent Nagano ? Der bekam von Ihnen immerhin 700 Seiten Partitur?
Es ist ein massloses Stück; Sie haben Recht. Ich brauchte einen Dirigenten der Mass hat und halten kann. Einen, der dieser überbordenden Zahl von Noten gewachsen ist. Man musste Kent Nagano sogar ein grösseres Pult bauen für die riesige Partitur. Wenn er eine Seite davon umwandte gab es immer einen Luftzug in der ersten Reihe. Er hat es phantastisch gemacht. Nagano ist immer dann am besten, wenn er Riesenbesetzungen hat: Schlagzeuger in den Logen, Ferntrompeter, ein Chor tritt auch noch hinter der Bühne auf; totales Theater. Selbstkritisch würde ich heute sagen; es ist ein Bisschen viel von allem auf allen Ebenen. Nagano ist, was das angeht, wunderbar. Der hat diese ungeheure Vielzahl an Noten salopp gesagt ‚gefressen und destilliert’; also in sich aufgenommen. Er ist eher jemand der nüchtern arbeitet, konzentriert, ökonomisch, und dabei sehr wenige Gefühlsäusserungen macht als Mensch wie auch als Dirigent.
Und genau deshalb ist er auch der Richtige für dieses Stück, denn da gibt es ein Übermass an allem. Aber wenn man ein Stück macht über Babylon, dann ist es immer auch ein Stück über Masse, über zu viel. Es braucht Monumentalität. Es gehört zu dem Wesen dieses Stückes. Kent Nagano ist so strukturiert, er bändigte die ungebärdige, ungebändigte Musik. Es war für uns wunderbar, dass es ihn gab. Und er stand am Schluss glücklich am Pult und strahlte ins Orchester hinein.