„Bekanntlich ist das Museum der Obsessionen nicht realisierbar. Es bleibt bei Annäherungen poetisch-didaktischer Art, temporären Ausstellungen: mit Liebe für sich und andere Mitschwingende gemachte Verzauberungen auf Zeit.“
Diese Aussagen Harald Szeemanns (1933–2005) findet sich in seiner Publikation „Zeitlos auf Zeit – Das Museums der Obsessionen“ (1994). Doch was bedeutet „Museum der Obsessionen“ über kryptisches Raunen hinaus? Auskunft gibt nur das Lebenswerk des Ausstellungsmachers und Inhabers der „Agentur für Geistige Gastarbeit“, wie Szeemann seinen Einmannbetrieb nannte – das Lebenswerk jenes Mannes, der als Kunsthalle-Chef in Bern mit Ausstellungen wie „Life in Your Head – When Attitudes become form“ (1969) das Kuratoren-Handwerk revolutionierte und diese Revolution in den Folgejahren weitertrieb: Mit der documenta 5 (1972), mit mancherlei Biennale-Aktivitäten, mit langer Kuratoren-Mitarbeit am Kunsthaus Zürich, in Bordeaux, in Hamburg und anderswo, mit Grossprojekten wie „Junggesellenmaschinen“ (1975), „Die Brüste der Wahrheit“ auf dem Monte Verità (1978), „Der Hang zum Gesamtkunstwerk“ (1983), „Visionäre Schweiz“ (1991). All das ist, je nach Jahrgang des Betrachters, in farbiger Erinnerung geblieben, dazu auch der endlose Disput um den Schweizer Weltausstellungsbeitrag in Sevilla mit Ben Vautiers „La Suisse n’existe pas“ (1992) und ebenso der Pavillon „Geld und Wert“ der Expo 02 in Biel, verantwortet notabene von der Schweizerischen Nationalbank.
Kunsthalle-Jubiläum als Anlass
Die Ausstellung in der Kunsthalle Bern, die dieses Jahr ihr 100-jähriges Bestehen feiert, will dieses „Museum der Obsessionen“ sichtbar machen und so auch ihren vielleicht berühmtesten Direktor feiern. Szeemann zeigte hier ja nicht nur die berühmte „Attitudes“-Ausstellung (gesponsert von der Tabakfirma Philippe Morris), sondern auch sehr viele andere und nicht weniger Aufsehen erregende Ausstellungen. Unter seiner Ägide verpackten zum Beispiel 1968 Christo und Jeanne-Claude die Kunsthalle: Ein widersprüchliches und vielschichtiges kulturpolitisches Statement in den aufrührerischen 1960er Jahren.
„Obsession“ bedeutet „Besetzt-Sein“ und „Zwangshandlung“ und verweist in den Bereich der Psychopathologie. Wenn Harald Szeemann von „Obsessionen“ sprach, dann traf er gleich mehrfach ins Schwarze: Er präsentierte die Künstler seiner Ausstellungen als Getriebene, von ihrer Kunst „Besessene“. Das Wort gilt jedoch sicher auch für ihn selber, für seine eigene Besessenheit, mit der er zu Werke ging. Eine Ausstellung darüber kann, wie er selber sagte, nur Annäherung sein. Der totale Anspruch, der im Wort „Obsession“ anklingt, kann wohl mit Energie angestrebt, aber nie wirklich eingelöst werden. In Analogie dazu konnte es für Szeemann auch das Gesamtkunstwerk nicht geben, sondern nur den „Hang zum Gesamtkunstwerk“, wie er seine ausufernd-phantastische und für sein Denken programmatische Ausstellung nannte.
Gegen Schubladendenken
In „Der Hang zum Gesamtkunstwerk“ hat sich Szeemann persönlich artikuliert – und die Ausstellung vielleicht auch selber als Gesamtkunstwerk verstanden. Hier offenbarte er seine Botschaft und seinen kulturhistorischen Blick: Die Ausstellung riss wie wenig andere Grenzen nieder und öffnete Tore. Sie zeigte grosse Einzelkunstwerke, verwies aber stets auf Verbindungen und Entsprechungen zwischen Oben und Unten, zwischen Akademie und Naivität, zwischen Innen und Aussen, zwischen allen Gattungen und Arten. Sie war ein Plädoyer gegen jedes Schubladendenken und für die Gesamtschau, die den Blick auf Unbekanntes und mitunter auch Verwirrendes lenkte. Es war erfrischend zu erleben, mit welcher Hartnäckigkeit Szeemann auf die Suche ging, und wie er auch sich widersprechende kreative Kräfte unter einem Dach versammelte.
Beispiele sind der Philosoph Johann Georg Sulzer, der Architekt Etienne-Louis Boullée, Richard Wagner, Bayerns König Ludwig II, Henry Dunant (nicht nur Rotkreuz-Gründer, sondern auch Erfinder des Pyrophons), der naive Konstrukteur des „Palais idéal“ Ferdinand Cheval, Adolf Wölfli, der politische Fanatiker und Utopist Gabriele D‘Annunzio, die italienischen Futuristen, Rudolf Steiner, der Licht-Prophet Fidus, der Tänzer Rudolf von Laban, Antonin Artaud, der Sonderling Armand Schulthess, Joseph Beuys, der Schöpfer des „Orgien-Mysterien-Theaters“ Hermann Nitsch – und viele viele andere. Hinter dieser Unternehmung steckte unverkennbar ein wie die Künstler selber getriebener Mann, den nichts davon abhalten konnte, sein Ziel manisch zu verfolgen: Er trug 300 Objekte zusammen – Malereien, Skulpturen, Installationen, Zeichnungen, Fotografien, Architekturmodelle, Partituren, Musikinstrumente, Briefe, überhaupt Dokumente aller Art.
Aus dem Vollen schöpfen
Die Kuratoren der vom Getty Research Institute in Los Angeles betreuten Wanderausstellung konnten im dort domizilierten Szeemann-Archiv aus dem Vollen schöpfen. Das ganze Unternehmen, eine breite und auch farbige Materialiensammlung mit Videos, Modellen, Plakaten, Fotografien, Objekten, ist nicht frei von Personenkult und Bewunderung. Es entführt Besucher, die Szeemann-Ausstellungen gesehen haben, in komplexe Erinnerungsräume. Ob die Ausstellung aber jene Erfahrungsfelder bieten kann, welche die charismatische Persönlichkeit Szeemanns, die mitunter Guru-hafte Züge annahm, auch für Leute ohne eigene Erinnerungen greifbar machen? Was Szeemann in ständiger geistiger Bewegung hielt, was ihn umtrieb, kann in einer Ausstellung über den Ausstellungsmacher kaum wirklich vitale Präsenz gewinnen. Sie bleibt eher eine visuell aufgearbeitet Grundlage für eine wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Phänomen Szeemann – und damit eine Sache für Spezialisten. Ob jedoch dafür die Ausstellung das richtige und vor allem das erschöpfende Medium ist? Publikationen müssen ergänzend weiterhelfen. Da gibt es ja schon längst eine Menge, auch mit Texten Harald Szeemanns, und auch einen stattlichen Katalog zum Berner Unternehmen. Weiterhelfen können sicher auch die zahlreichen Begleitveranstaltungen der Kunsthalle Bern.
„Grossvater. Ein Pionier wie wir“
Zeitgleich mit „Museum der Obsessionen“ ist im dritten Stock des Hauses Gerechtigkeitsgasse 74 in Bern, wo Szeemann während seiner Berner Zeit wohnte, eine Ausstellung rekonstruiert, die Szeemann 1974 in Erinnerung an seinen Grossvater gestaltete. Dieser Coiffeur Etienne Szeemann (1873–1971), ein eigentlicher Haarkünstler, kam aus Ungarn nach Bern. Harald Szeemann breitete damals 1974 all das Erinnerungsgut schön ordentlich aus, das er aus dem Nachlass des Grossvaters zusammentrug: Fotos, persönliche Gegenstände, Möbel, zahlreiche Utensilien aus dem Salon des initiativen Friseurs vor allem. In dieser Rekonstruktion an intimem Original-Ort wird etwas von der Besessenheit spürbar, mit der Harald Szeemann zu Werke ging. Der launisch reimende Titel der Ausstellung: „Grossvater: Ein Pionier wie wir“.
Kunsthalle Bern: Harald Szeemann – Museum der Obsessionen.
Gerechtigkeitsgasse 74, Bern: Grossvater. Ein Pionier wie wir.
Beide bis 2.9. https://kunsthalle-bern.ch/
Die Ausstellungen werden später in Düsseldorf (Kunsthalle), Turin (Castello di Rivoli) und New York (Swiss Institute) gezeigt.