In ihrer Europapolitik und ihrer Neutralitätspolitik trägt die Schweiz schwer an traditionellen, aber unnötigen Erbsünden, wie das Jahr 2022 mit grosser Deutlichkeit gezeigt hat.
Im Aggressionskrieg von Putins Russland gegen die Ukraine kann es für einen demokratischen Rechtsstaat wie die Schweiz keine Neutralität geben. Der entsprechende Grundsatzentscheid der Schweiz, sich (fast) vorbehaltlos den Sanktionen der EU anzuschliessen, war ebenso richtig wie von unseren Grundwerten und Wirtschaftsinteressen her unumgänglich. Anstatt so konsequent weiterzufahren, erfolgten aber aussenpolitische Schritte zurück zu einer Neutralitätspolitik, wie sie im Europa von 2022, wie auch in der Zukunft nicht nur unnötig, sondern für schweizerische Interessen schädlich ist.
Der Ukrainekrieg hat ebenfalls mit aller Deutlichkeit gezeigt, dass Europa, also die EU unter Druck zusammenwächst und dabei nicht nur mit Bezug auf die Ukraine, sondern auch in anderen Schicksalsfragen (Klima, Unternehmensverantwortung) als globales Schwergewicht Wegmarken setzt, welche für alle Länder, und ganz speziell die Schweiz von entscheidender Bedeutung sind. Und trotzdem schlägt der Aussenseiter Helvetien das seit Jahren bestehende Angebot aus, aktiv an solchen Unterfangen teilzunehmen. Immer wieder mit dem Hauptargument der «Fremden Richter».
Erbsünde Neutralität
Neutralität hat in Europa jede Bedeutung verloren. Sie wird in der EU, also bei unseren nächsten Partnern als unnütz, gar feindlich angesehen. So im Fall der schweizerischen Weigerung, einer Munitionsweitergabe von Deutschland an die Ukraine, auch mit Verweis auf die Neutralität, zuzustimmen. Ebenso im humanitären Bereich, bei der Nicht-Aufnahme russischer Kriegsdienstverweigerer oder auch in der Schweiz zu pflegender ukrainischer Wehrpflichtigen. Immer wieder wird ein antiquierter Text vom Beginn des 20.Jahrhunderts angeführt, welche der Schweiz neutralitätsrechtliche Pflichten auferlege.
Dies stimmt nicht. Es besteht keine völkerrechtliche Pflicht, für die Schweiz, im heutigen Europa neutral zu sein. Ausser dem offensichtlich direkt interessierten Russland verlangt niemand von uns, im Ukrainekrieg «neutral» – damit de facto die russische Aggression billigend – zu sein. Die schweizerische Neutralität ist selbstauferlegt, was von uns jederzeit rückgängig gemacht werden kann. Dann nämlich, wenn dieses aussenpolitische Instrument den Interessen der Schweiz nicht mehr dient, oder wie im Fall Ukrainekrieg direkt zuwiderläuft.
Ein Blick in die Zukunft zeigt, dass dies im Falle der nächsten voraussehbaren Krisen von globaler Relevanz – ein Angriff Chinas gegen Taiwan, nordkoreanische Nuklearaggression im Grossraum Indo-Pazifik – ebenso zutreffen würde. Es ist schwer zu verstehen, warum die schweizerische Regierung, auch und gerade mit Blick auf Konflikte der Zukunft, immer wieder einen vermeintlich harten Kern der Neutralität beschwört, der weiterhin gelte. Wir handeln uns damit Probleme ein, welche eine Aussenpolitik, wie sie in der BV (Art. 54, Abs, 2; keine Erwähnung von Neutralität) vorgeschrieben ist, unnötigerweise erschweren wird. Hier sollte unsere Regierung führen und nicht auf eine vermeintliche – durch gutfinanzierte Nationalisten immer wieder beschworene – Volksmeinung verweisen.
Wegmarken der EU
Insgesamt hat die EU die Prüfung Ukrainekrieg bestanden. Die in Frage gestellten Werte und die Notwendigkeit, russischer Aggression frühzeitig zu begegnen, sind höher gewichtet worden als Partikularinteressen, wie deutsche Russlandromantik, französisches Grossmachtgebaren, die gewohnten Rückenschüsse des Rechtsauslegers Viktor Orban und generell drohende Energieknappheit für die eigenen Bevölkerungen. Der profunde Europakenner Simon Kuper fasst dies griffig so zusammen (Übersetzung des Autors): Eine Union, welche ursprünglich geschaffen worden ist, um interne Differenzen zu verwalten, findet nun zusammen, um ihren äusseren Feinden zu begegnen.
Gleichzeitig hat die EU den Schwung der Einigkeit benutzt, um auf ihrem schwierigen Weg zu einem ihrer gebündelten Wirtschaftskraft angemessenen politischen Gewicht voranzukommen. Wegmarken sind eine Energieunion, konkreter werdende Fiskal- und Bankenunion sowie Entscheide – etwa der «Corporate Sustainability Act», eine stärkere Version der eidgenössischen Konzernverantwortungsinitiative mit Schwergewicht auf Klimaverantwortung sowie der «Digital Markets Act» mit allgemein gültigen Standards für online Plattformen –, welche globale Führerschaft in diesen Bereichen beanspruchen.
Erbsünde «Fremde Richter»
Diese Entwicklungen scheinen die offizielle Schweiz kaum zu kümmern, jedenfalls nicht in ihrer Europapolitik. Wir versteifen uns darauf, helvetische Sonderwünsche in unseren künftigen Beziehungen mit der EU festschreiben zu wollen, welche den eben gezeigten Einigungsentwicklungen diametral entgegenlaufen. Und damit im Grundsatz für die EU kaum und immer weniger akzeptierbar sind.
Letztlich steht hinter sowohl der Gewerkschaftsopposition («Lohnschutz») von links als auch der nationalistischen Fundamentalblockade gegen die Übernahme von EU-Recht von rechts die Furcht vor den sogenannten «Fremden Richtern». Dieser Ausdruck, hier bewusst in Anführungszeichen gesetzt, ist grundlegend falsch.
Die Schweiz ist bekanntlich Teil des europäischen Binnenmarktes, was uns grossen Wohlstand gebracht hat. Dessen gesetzliche Ausgestaltung ist das auch in der Schweiz angewandte EU-Recht, das letztlich von einer Instanz rechtlich überwacht wird, dem Europäischen Gerichtshof EuGH. Wer im Binnenmarkt tätig ist und von diesem profitiert, unterliegt naturgemäss der Rechtsprechung des EuGH. Seine Richter sind also keine fremden, sondern auch unsere schweizerischen Richter, wie sie jene von Deutschland oder Griechenland sind. Nationale Ausnahmen vom Grundsatz dieser Gültigkeit sind ausgeschlossen, da sie der Rechtssicherheit im gesamten Binnenmarkt entgegenlaufen. Und damit auch schweizerischen Wirtschaftsinteressen, welche ja zu einem vergleichsweise sehr hohen Grad mit jenen in unseren Nachbarländern verzahnt sind.
Vernünftige Politik, keine Gebete
Laut moderner christlicher Lehre ist die biblische Erbsünde ein veraltetes Konstrukt; entsprechende ständige Gebete sind also nicht mehr nötig. In der schweizerischen Europapolitik wäre es noch viel einfacher, zu einer neuen Auslegung zu kommen. Nötig wäre allein auf die gebetsmühlenartige Wiederholung von, wie gezeigt, veralteten Dogmen wie Neutralität und «Fremde Richter» zu verzichten, um den wirklichen Herausforderungen an die Schweiz des 21. Jahrhunderts im europäischen Rahmen gerecht zu werden.