In der Westschweiz auf kommunaler Ebene längst der Normalfall, in der deutschsprachigen Schweiz ein politisches Tabu: die Mitwirkung von Menschen unterschiedlicher Nationalitäten an der Gestaltung des Gemeinwesens. Vorstösse sind fast immer chancenlos, und eine Diskussion des überfälligen Themas findet kaum statt.
Soll das Bürgerrecht zwingende Voraussetzung sein für die Ausübung von Stimm- und Wahlrechten? Auf nationaler Ebene scheint das ohne grosse Diskussionen überall so gehandhabt zu werden. Anders sieht es auf den unteren Stufen der staatlichen Organisation aus. Insbesondere auf kommunaler Ebene haben sich politische Formen der Beteiligung von Ausländern vielerorts etabliert. Weshalb diese unterschiedliche Handhabung je nach Ebene? Und weshalb die Widerstände der Deutschschweizer gegen das Ausländerstimmrecht in Gemeindeangelegenheiten?
Wahlvolk als nationale Körperschaft
Die Bindung nationaler Stimm- und Wahlrechte an den Besitz der Staatsbürgerschaft des jeweiligen Landes entspricht der Vorstellung des Wahlvolks als einer nationalen Körperschaft: Wer dieser durch das Bürgerrecht konstituierten Korporation angehört, darf und soll mittels Stimmrecht an nationalen Entscheidungen teilnehmen, durch aktives Wahlrecht die Zusammensetzung politischer Gremien mitbestimmen und schliesslich durch passives Wahlrecht auch die Möglichkeit haben, sich selbst in die Institutionen des Staates abordnen zu lassen.
Die Idee der Bürgerschaft als des nationalen Souveräns äussert sich nicht zuletzt darin, dass auch im Ausland lebende Bürgerinnen und Bürger ihre nationalen politischen Rechte weitgehend behalten, obschon sie von Entscheidungen in der Mehrzahl der Fälle kaum betroffen sind und als Nicht-Steuerzahler sich auch nicht an der Finanzierung des staatlichen Handelns beteiligen. Darin zeigt sich, dass nationale politische Rechte nicht vom Grundsatz «Betroffene und Beteiligte entscheiden über ihre gemeinsamen Angelegenheiten» geleitet sind, sondern dass es die Vorstellung einer formellen Zugehörigkeit zum Staat ist, die den Ausschlag gibt. Diesem politischen Prinzip folgen die meisten Staaten, und es steht denn auch praktisch nirgendwo zur Debatte.
Anders sieht es aus bei der politischen Beteiligung von Ausländern unterhalb der nationalen Ebene, vorzugsweise auf derjenigen der Kommunen. Bei Gemeindebehörden und kommunalen Angelegenheiten macht es keinen Sinn, die Ausübung politischer Rechte an das Gemeindebürgerrecht zu binden, und zwar allein schon deshalb, weil dieses lokale Bürgerrecht – es ist als Besonderheit in der Schweiz dem kantonalen und dem nationalen Bürgerrecht vorgelagert – mit dem faktischen Lebensmittelpunkt der Menschen nur noch wenig zu tun hat.
Eine solche Regelung lokaler Stimm- und Wahlrechte wäre heute ein Anachronismus, und man hat diesen denn auch abgeschafft. Allerdings besteht er da, wo es neben den kommunalen Strukturen sogenannte Bürgergemeinden gibt, als dubioses Überbleibsel aus dem Ancien Régime noch immer. Diese Bürgergemeinden, bestehend aus Inhabern des lokalen Bürgerrechts, gewähren etwa dank ihres Grundbesitzes den Mitgliedern gewisse Sonderrechte und materielle Vorteile.
Beteiligung der Betroffenen
Die schweizerische Standardlösung, kommunale politische Rechte nicht mehr ans kommunale, dafür aber ans nationale Bürgerrecht zu koppeln, ist allerdings im Grunde genauso stossend wie die mit guten Gründen längst als überholt betrachteten Bürgergemeinden. Auf Gemeindeebene überzeugt die Bedingung einer formellen Zugehörigkeit nicht, da es hier um konkrete Zugehörigkeit geht: Wer am Ort wohnt, Kinder in die Schule schickt, Steuern zahlt und vielfach auch in der Zivilgesellschaft mitwirkt, soll über die Bestellung der lokalen Behörden und über Sachgeschäfte der Kommune mitentscheiden.
Mehrere Kantone haben ihren Gemeinden die Möglichkeit gegeben, für die politische Mitbestimmung von Ausländern entsprechende Regelungen zu treffen. Auf dieser Grundlage sind in 600 der über 2100 schweizerischen Gemeinden die Ausländerinnen und Ausländer an der lokalen Politik mehr oder weniger integral beteiligt. Auffällig ist, dass fast alle von diesen fortschrittlichen Kommunen in der französischsprachigen Schweiz liegen. Anders gesagt: In der Romandie ist politische Mitwirkung der Ausländer die Regel, während in der Deutschschweiz deren Ausschluss der fast lückenlose Normalfall ist.
Woher dieser Unwille der Deutschschweizer, ihren ausländischen Nachbarn die politische Beteiligung am Wohnort zu ermöglichen? Weshalb die regelmässigen Abfuhren, wenn das Thema – selten genug – es mal wieder bis in die Traktanden einer politischen Entscheidung schafft?
Es scheint, dass in der Deutschschweiz die Gemeindepolitik primär als lokales Kleinformat der kantonalen und nationalen Politik verstanden wird und nicht in erster Linie als politische Organisation des Zusammenlebens am Ort. Das Zweite spräche zweifelsfrei für eine Beteiligung möglichst aller Betroffenen, also auch der in der Gemeinde lebenden Ausländer. Geht man aber von der ersten Sichtweise aus, so wird man nicht nur die Gemeindepolitik gleich wie die kantonale und nationale organisieren wollen, sondern auch Parteiprogramme und allenfalls ideologische Grabenkämpfe in die Gemeindepolitik hineintragen und tendenziell wichtiger nehmen als die konkreten kommunalen Sachgeschäfte.
Es dürfte ziemlich klar sein, dass eine Kommunalpolitik, die sich primär um die Gemeindeangelegenheiten kümmert und dabei möglichst alle Betroffenen aktiv beteiligt, demokratisch sinnvoll ist und sich auf das Zusammenleben am Ort positiv auswirkt. Deshalb sollte das verdrängte und vergessene Thema des Ausländerstimm- und -Wahlrechts auch in der Deutschschweiz endlich politisch deblockiert werden.