Der Historiker und Lehrer Peter Lüthi war nach der Auflösung der Sowjetunion bis zum Ausbruch des Ukraine-Krieges mehrfach in Russland und in der Ukraine als Lehrer und Berater von freien Waldorfschulen tätig. Im vergangenen Jahr hat er sich erneut für drei Wochen in Russland aufgehalten. In diesem Text fasst er Aussagen aus Gesprächen mit Bekannten und zwei diplomatischen Experten über das Leben in den von Russland ab 2014 gelenkten Separatisten-Gebieten im Donbass zusammen.
Es beeindruckt mich, wenn Schweizer Nachrichtenportale nach über zwei Jahren Krieg immer noch den Leser darauf aufmerksam machen, dass «Informationen aus dem Kriegsgebiet nicht unabhängig überprüft werden können», sowohl wenn die Information aus russischer wie wenn sie aus ukrainischer Quelle stammt. Es erinnert mich an die selbstverständliche Formel «Es gilt die Unschuldsvermutung».
Berichte zur «Vorgeschichte» des Ukraine-Krieges
Aber obwohl die nüchterne Warnung korrekt ist, möchte man sich doch ein Urteil bilden und wünscht sich eine Möglichkeit, Nachrichten aus dem Kriegsgebiet «unabhängig zu überprüfen», um nicht dem weitaus häufigsten Kriterium bei der Überprüfung des Wahrheitsgehalts zu folgen: Wahr ist in der Regel, was meine Position bestätigt, d. h. was ihr widerspricht, muss nach intuitiver Logik Fake News sein. So bilden sich die Communities, in denen man sich noch austauscht; mit denen, die gegenteilige Informationen für wahr halten, spricht man kaum.
Sich ein Bild zu machen von den Ereignissen im Donbass ist für uns Schweizer besonders anspruchsvoll, da kaum jemand touristisch, beruflich, wissenschaftlich oder verwandtschaftlich Anlass fand, sich mit den dortigen Verhältnissen vertraut zu machen, so dass er eigene Wahrnehmungen zur vielbeschworenen «Vorgeschichte des Krieges» in die Diskussion einbringen könnte, auf die er sich verlassen kann.
Authentische Quellen jenseits des Internets
Im Folgenden möchte ich deshalb ein paar Augenzeugen zu Wort kommen lassen, deren Erlebnisse ich wenigstens in persönlichen Gesprächen kennen lernen durfte. Ihre Anzahl hat keinen statistischen Wert, ihre Erinnerungen sind nur ein subjektiver Ausschnitt aus der «Wirklichkeit», und trotzdem geben sie mir eine Stütze in meiner Urteilsfähigkeit: Ich kann für ihre Integrität bürgen, und so kann ich die Wahrhaftigkeit ihrer Aussagen einschätzen, im Unterschied zu Augenzeugenberichten im Internet, wo ich nicht ausschliessen kann, dass sie aus einem Kontext herausgeschnitten sind, der den Sinn der Aussage umkehrt. Oder dass das Video technisch bearbeitet und montiert wurde, oder dass die Zeugen bezahlt oder bedroht wurden.
Sogar wenn Zeugenaussagen authentisch vermittelt werden, muss ich vermuten, dass sie nicht veröffentlicht würden, wenn sie nicht zur längst bezogenen Position des bestimmten Mediums passen – weder beim «Spiegel» noch beim «Antispiegel». Das Dilemma der «unabhängigen Überprüfung» ins Groteske getrieben hat die russische Teilnehmerin eines Telegram-Chats, die sich darüber empörte, dass ich den nach Kiew geflohenen Augenzeugen vertraue, wo man doch nur den nach Moskau geflohenen glauben könne.
Auch wenn diese wenigen Zeugen mir keine Berechtigung geben, «die Wahrheit über den Krieg im Donbass» mitzuteilen, wage ich schon mit ihrer Hilfe ein Urteil darüber, wie es nicht war. Die Wahrheit ist offenbar nur sehr differenziert zu beschreiben aufgrund vorurteilsloser Forschung und weiterer Befragungen. Ich möchte aber den Schlussfolgerungen des Lesers aus den Aussagen meiner Zeugen nicht vorgreifen.
Was geschah im Donbass vor und beim Kiewer Machtumsturz von 2014?
Mit Ausnahme der Schweizer mit OSZE-Auftrag handelt es sich um Menschen, die im Osten der Ukraine aufgewachsen sind und bis 2014 oder 2022 dort gelebt haben oder noch dort leben. Die Gespräche wurden Auge in Auge geführt, überwiegend in der Schweiz, einzelne in Kiew. Mit den Personen in diplomatischen Diensten habe ich telefoniert, eine junge Bewohnerin von Donezk zitiere ich aus dem Text, den sie diesen Sommer in einem Journalismus-Kurs meines Freundes in Russland geschrieben hat.
Zwei Hauptfragen sind besonders relevant für eine Beurteilung des Krieges: 1. Was geschah im Donbass beim Umsturz im Frühjahr 2014 als Reaktion auf den Maidan-Protest und den Regierungswechsel in Kiew? 2. Wie lebten die Bewohner des Donbass in den acht Jahren zwischen der Errichtung der «Volksrepubliken» und der russischen Invasion?
Meine Zeuginnen und Zeugen:
- Sergej N. lebte bis 2014 in Donezk, floh dann in die Gegend von Dnipro, arbeitete bis 2022 als selbständiger Lastwagenfahrer und Pastor einer evangelikalen Kirche. Bei Kriegsausbruch arbeitete er in Polen, so dass er mit Frau und Sohn in die Schweiz fliehen konnte.
- Katja aus Donezk wurde nach einem Wirtschaftsstudium Lehrerin in Kiew, floh im März 2022 nach München, dann in die USA und 2024 zurück nach Deutschland.
- Anja, Kindergärtnerin, und Alexander, Politologe, lebten mindestens bis 2022 in Donezk.
- Vitalja, 17 Jahre alt, ist Schülerin in Donezk bis heute.
- Arzu, geboren 2002 und aufgewachsen in Donezk, studiert noch Architektur in Kiew.
- Jana und Maxim aus Lugansk flohen 2014 nach Kiew. 2022 floh Jana mit der Tochter in die Schweiz und Maxim arbeitet weiter in Kiew als Unternehmer.
- Sergej B., geboren 1954 und aufgewachsen in Mariupol. Er machte Karriere in der städtischen KP, zog in den Neunzigern um nach Donezk zur Arbeit auf einer Bank, floh 2014 nach Butscha, von dort im März 2022 in die Schweiz.
- Tonja, geboren 1987 und aufgewachsen in Mariupol, studierte und arbeitete in Donezk als Musikerin, floh 2014 nach Kiew, 2022 nach Holland.
- Alexander Hug, Schweizer Offizier, 2014–2018 stv. Leiter der OSZE-Beobachtermission im Donbass, und Heidi Grau, u. a. Botschafterin in Moskau und OSZE-Delegierte für Verhandlungen zum Donbass
Vorurteile gegen die Donbass-Bevölkerung
Anja und Alexander, Maxim und Jana, Sergej N., Katja – alle beschreiben ihre Erfahrung, dass in der Ukraine die Bevölkerung des Donbass abwertend beurteilt wird, schon vor 2014, als unmündig, passiv, denkfaul, grob wie eben Schachtarbeiter – und seit 2014 noch schlimmer: als Verräter am Freiheitskampf der Ukraine. Die Menschen in Kiew könnten nicht verstehen, was in den Menschen im Donbass, die Krieg erleben, seelisch vorgeht, sagt Alexander. Sergej N. musste dann sogar selber die Erfahrung machen, als er Hilfestellungen für Flüchtlinge anbot, dass das Vorurteil von der Unfreundlichkeit der Donbass-Bewohner sich in der Aufnahmestätte bestätigte.
Der Umsturz im Donbass im Frühling 2014
Alexander, Aktivist für Demokratie, erinnert im Gespräch 2016 den Umsturz zur Gründung der «Volksrepublik Donezk» vom Frühling 2014: Es gab Demonstrationen für und gegen die neue Kiewer Regierung. Die Bevölkerung erwartete keinen Umsturz und war ratlos, als Bewaffnete auftauchten, unklar wer das war, eindeutig nicht Einheimische, welche die Polizeistationen, das Parlament, die Verwaltung besetzten. Dann tauchte Girkin auf, Söldnerführer in russischen Diensten, auch Soldaten und Offiziere der russischen Armee; freiwillige Einheimische schlossen sich an (er schätzt, dass sie schliesslich etwa die Hälfte der Bewaffneten bildeten), später tauchten auch schwere russische Waffen auf. Unter den einheimischen Milizionären gab es auch überzeugte Verteidiger «russischer Werte», zum grösseren Teil waren es aber Arbeitslose, die diesen sehr gut bezahlten Job anstrebten. Dazu kamen Tschetschenen, die Krieg suchten. Das Referendum war völlig unseriös, ohne Wählerlisten und Kontrollen. In der Öffentlichkeit schweigt man lieber, wenn man für die Ukraine ist.
Maxim erinnert den Frühling 2014 in Lugansk: Am Tag des Umsturzes sass er in einem Café im Stadtzentrum von Lugansk. Plötzlich tauchten Bewaffnete auf, Unbekannte, die die Stadtverwaltung besetzten. Einen nachhaltigen Eindruck hinterliess der Einschlag einer Rakete von einem ukrainischen Kampfflugzeug auf einem zentralen Platz bald nach Beginn der «Antiterroristischen Operation» der ukrainischen Armee. Es war ein erster Eindruck von der Entschlossenheit von ukrainischer Seite, die Wirren mit militärischer Gewalt ohne Schonung der Bevölkerung zu lösen. Solche Erlebnisse trieben viele Bewohner auf die prorussische Seite. Der Lehrer Vitalij bestätigt mir 2018 in Woronesh genau diese Schilderung: Der Umsturz in Lugansk geschah auf ganz unklare Weise für die Bewohner – unklar, wer woher Waffen hatte; die neuen Führer waren praktisch unbekannte Leute. Wenn Granaten ins Wohngebiet fielen, wusste man nicht, wer geschossen hat. Der Raketeneinschlag auf einem zentralen Platz in Lugansk war aber klar von einem ukrainischen Flugzeug.
Sergej N. erzählt mit Einzelheiten: Trotz intensiver Korruption unter der Protektion von Bergbau-Oligarch Achmetov und «seinem» Gouverneur Janukowitsch gab es einen relativen Wohlstand und eine entsprechende Zufriedenheit. Europa lag fern. In seiner sowjetischen Kindheit waren schon Antipathien gegen die Bewohner der Westukraine geschürt worden.
Als dann die Protestbewegung auf dem Majdan in Kiew einsetzte, teilte sich die Gesellschaft: Eine nicht kleine Minderheit unterstützte auch in Donezk die Anliegen des Maidan, eher die gebildete Schicht, viele Studenten; sie demonstrierten friedlich. Dagegen traten eher Arbeiter und Pensionierte auf und es bildeten sich Milizen gegen den Maidan, auch Kriminelle waren darin vertreten. Allmählich wurden immer mehr Menschen vom Rand der Gesellschaft bewaffnet als Vertreter der neuen Machthaber in Donezk. An der Besetzung von Verwaltungsgebäuden beteiligten sich Gruppen von jungen Männern mit den Helmen von Schachtarbeitern, die aber offensichtlich nicht aus den Bergwerken kamen, wie sich Sergej im Gespräch mit einem von ihnen vergewissern konnte. Sie wurden bezahlt und in Bussen herangeführt.
Demonstrationen für die Ukraine – auch die evangelikale Kirche war darin vertreten – wurden brutal zusammengeschlagen; auch Frauen, Kinder, Alte wurden nicht geschont. Das Hauptquartier der Polizei wurde von den Separatisten kampflos besetzt, ein Teil der ukrainischen Polizisten lief zu den Aufständischen über, ein Teil floh. Es wurden auch wehrlose Polizisten erschossen (Sergej kam kurze Zeit darauf an der Stelle der Ermordung vorbei).
Sergej war dabei, als seine Kirche ein Friedensgebet auf der Strasse organisierte, mit ukrainischer Flagge. Der leitende Pastor wurde verhaftet, in ein Polizeigebäude geführt, geschlagen und verhört; er ist sich sicher, dass der Verhörleiter ein Russe war. Auch in die neue Verwaltung traten offensichtlich Russen ein. Lastwagen mit Kämpfern fuhren auf, die sich selber als Kadyrovzy (also Tschetschenen) bezeichneten. Eine Freundin von ihm filmte eine russische Buk-Flugabwehrstellung im Zentrum von Donezk.
Das separatistische Referendum vom Mai 2014
Am 11. Mai 2014 fand das Referendum für oder gegen die Separation von der Ukraine statt. Erstaunlich wenige für eine Millionenstadt sah man in die Wahllokale gehen. Der ukrainische Geheimdienst fing eine Anweisung der russischen Führung ab, was für ein Resultat bekanntzugeben sei: 88% Ja. Genau diese Prozentzahl wurde dann verkündet.
Alle proukrainischen Äusserungen in der Öffentlichkeit wurden sofort unterdrückt. So ging es auch einer Demonstration, zu der der Oligarch Achmetov aufgerufen hatte: Man solle mittags um 12 die Autohupe betätigen und mit den Kirchenglocken läuten. Zu lange hatte er geschwiegen, bis die DNR (separatistische Donezker Republik) begann, auch sein Eigentum zu konfiszieren. Überhaupt wurde Eigentum in grossem Stil konfisziert, auch im Kleinen, wie z. B. Autos; Wohnungen wurden geplündert. Es kam auch vor, dass Eigentümer, deren Sache man konfiszieren wollte, getötet wurden.
Es herrschte eine Atmosphäre der Angst und Rechtlosigkeit bei denjenigen, die den separatistischen Umsturz nicht unterstützten, und sie gewöhnten sich daran zu schweigen. Sergej floh mit seiner Familie nach Berdjansk, das ukrainisch geblieben war, um ein Auffanglager für Flüchtlinge, vor allem für Alte, Frauen und Kinder zu organisieren, gegen 200 Leute. Zu diesem Zeitpunkt kümmerten sich nur Freiwillige und Kirchen um die Flüchtlinge.
Der damals sechzigjährige Sergej B. erlebte den Umsturz in Donezk eindeutig als von Russland geplante Intervention. Mit Bussen wurden Leute aus Russland, aus Rostow zum Beispiel, als Demonstranten herangefahren, die auch auf Pro-Maidan-Demonstranten einprügelten. Auch Söldner aus Russland kamen. Ortsfremde besetzten die Polizeistationen, wobei die Polizisten zum Teil freiwillig mit ihren Waffen zu den aufständischen Separatisten übergingen. Es war kein Aufstand der Bevölkerung, und es hatte nie Druck auf die russische Sprache gegeben. Nie hörte er, dass die Bevölkerung in Angst war vor den ukrainischen Freiwilligen-Bataillonen.
Am Tag des Referendums suchte er ein Abstimmungslokal auf, das gerade neben seinem Haus eingerichtet wurde. Dort fand er aber keine Wähler, auch keine Abstimmungszettel, nur frisch am Ort kopierte Wahlzettel, auf die man allen sichtbar ohne Kabine sein Ja oder Nein schreiben konnte, ohne Registrierung der Personalien. Er wunderte sich, wie es möglich war, dass es dann hiess, 90% der Bevölkerung hätten abgestimmt. Er fühlte sich nicht aufgerufen, sich mit einem Nein in Gefahr zu bringen. Vor diesen Verhältnissen einer undurchschaubaren Rechtlosigkeit floh er mit Familie in den Raum Kiew, in den nordwestlich der Hauptstadt gelegenen Ort Butscha, wo er im März 2022 dem blutigen Einmarsch der russischen Armee um einen Tag zuvorkam mit seiner Flucht.
Der russische Einmarsch in Butscha
Der Kampf tobte schon seit dem ersten Kriegstag nur 5 km von Butscha entfernt, während Sergej infolge eines schweren Rückenleidens hilflos zuhause lag. Am 2. März entschlossen sich er und seine Frau, die Flucht nach Westen zu wagen, obwohl er kaum transportfähig war und es keine sichere Auskunft mehr gab, auf welchen Strassen man nicht beschossen wurde. Der Bruder blieb zwei Tage länger und erlebte mit, wie am 3. März die russische Armee einrückte. Alle Wohnungen in Sergejs Wohnblock wurden mit Gewalt aufgebrochen und geplündert. Die Informationen seines Bruders und seiner zurückgebliebenen Bekannten sind eindeutig: Zivilpersonen wurden gefoltert oder erschossen, wenn sie Verdacht weckten, die Besatzer nicht zu begrüssen. Über die Theorie, die ukrainische Armee hätte selber 650 Zivilpersonen erschossen, um die russische Armee zu beschuldigen, kann er nur traurig den Kopf schütteln.
Unterschiedliche Reaktionen in Donezk und Mariupol
Tonja erlebte den Unterschied von Mariupol und Donezk: Mariupol, wo Tonja aufgewachsen ist, war eine weltoffene Stadt, mit griechischen und tatarischen Einflüssen. Donezk war viel sowjetischer geprägt als das multikulturelle Mariupol.
2014 kamen eindeutig russische Panzer, am auffallendsten diejenigen mit kaukasischer Besatzung, nach Donezk, und Grossmütter brachten ihnen Blumen. In Mariupol hingegen begann die Bevölkerung sofort mit der Errichtung von Verteidigungslinien; sie hoben Gräben aus, als das Herannahen von separatistisch-russischen Milizen bekannt wurde.
Entgegen der russischen Propaganda, die Geburtsklinik von Mariupol sei im Zeitpunkt der Bombardierung am 9. März leer gestanden bzw. als Stützpunkt von der rechtsextremen Asov-Miliz genutzt worden, kann Tonja versichern, dass eine Freundin von ihr zu diesem Zeitpunkt in der Klinik geboren hat. Nach ihren Informationen durch Augenzeugen hat die Asov-Miliz die Klinik nicht als militärischen Stützpunkt eingerichtet, sondern für Übernachtung und Verpflegung mitbenutzt. Es gab bei Asov auch viele Russischsprachige, aber man verabredete sich als Erkennungszeichen gegen die Separatisten auf den Gebrauch des Ukrainischen. Nachdem Asov-Leute die leerstehende Wohnung ihres Vaters als Stützpunkt benutzt hatten, konnte man keinerlei Plünderung feststellen.
Auch Katja, die den Umsturz in Donezk miterlebt hat, versichert, dass es sich nicht um einen Aufstand des Volkes zur Verteidigung der Freiheit handelte. Vorausgegangen waren grosse Demonstrationen, auch solche gegen Janukowitsch, diese eher von einer gebildeten Schicht. Plötzlich tauchten Waffen auf, Tschetschenen, Russen, bezahlte Gewalttäter, vor denen man keinen Schutz mehr bei der Polizei suchen konnte. Ihr Elternhaus im Umfeld von Donezk wurde von Milizen des Rechten Sektors ausgeraubt.
Acht Jahre Krieg im Donbass – schon vor der russischen Grossinvasion
Arzu war 12 Jahre alt, als sie in Donezk zum ersten Mal das Geräusch nahender Panzer hörte. Als sie dann auftauchten und auch einige Zeit stationiert blieben, waren sie durch russländische Flaggen klar erkennbar, die Soldaten gaben sich unzweifelhaft als Russen zu erkennen. In der darauffolgenden Zeit hörte sie oft Artilleriefeuer von der nahen Front, bis 2015 (als sich die Front in die von der OSZE überwachte «Kontaktlinie» verwandelte), dann nie wieder bis im Februar 2022. Sie verneint eindeutig, dass die Bevölkerung ihrer Stadt acht Jahre lang von der ukrainischen Armee terrorisiert worden sei.
Zuhause sprach man Russisch, ihre Vorfahren waren teils aus der Ukraine, teils aus Russland. Bis 2014 besuchte Arzu eine russischsprachige Schule mit Ukrainisch-Unterricht. Dann blieb dieser eine Zeit lang freiwillig, bevor er ganz aufgehoben wurde. Die verbleibenden Ukrainisch-Lehrpersonen mussten sich umschulen auf Russisch – oder fliehen. Viele Lehrerinnen flohen in die Ukraine, es kamen neue, welche ohne Mühe die Positionen der separatistischen DNR vertraten. Lehrer und Schüler mussten an Demonstrationen zur Unterstützung der DNR teilnehmen.
Die Grosseltern im Dorf blieben auf der ukrainischen Seite der neuen Grenze. Auch das trug dazu bei, dass Arzu sehr oft die Kontaktlinie überquert hat, später auch für das Studium in Kiew. Am Anfang war es sehr schwierig – Behinderungen, schikanierende Wartezeiten auf beiden Seiten. Allmählich normalisierten sich die Kontrollen auf der ukrainischen Seite, begreiflicherweise durchsuchte man das Gepäck nach Waffen, fahndete nach Agenten, aber die Mädchen konnten problemlos passieren.
Für das «Referendum» 2022 über den Anschluss an Russland holte man die Stimmen in den Wohnungen ab und bedrohte dabei auch die Bewohner mit der Waffe, wenn sie nicht Ja stimmten. Fliehende aus dem zerstörten Mariupol berichteten, wie rücksichtslos sie von russischen Soldaten behandelt wurden, ausgeraubt, zu Fuss nach Donezk geschickt.
Leben in der separatistischen Donezker Republik
Anja berichtete mir in Gesprächen 2016, 2017 und 2018 in Kiew – wohin sie jeweils für ihre pädagogische Ausbildung über die Frontlinie anreiste – vom Leben in der DNR: Die Angriffe der ukrainischen Armee haben viele politisch unentschiedene Menschen auf die russische Seite getrieben, so auch ihre Eltern. Die Pensionäre können zwar ihre Pension an einem ukrainischen Bankomaten abheben, das heisst sie müssen den sehr mühsamen Grenzübergang mit vielen Schikanen durch die ukrainischen Wachen auf sich nehmen. Es kann sein, dass man stundenlang bei jedem Wetter im Freien warten muss, auch Kinder und Alte. Es gibt willkürliche Zurückweisungen, Männer können ohne Erklärung abgeführt werden. Man ist rechtlos. Schnell gilt man einfach durch die Tatsache, dass man im Donbass geblieben ist, als Verräter der Ukraine.
Aber auch in Donezk weiss man, dass man gegen Behördenverfügungen kein Recht haben kann. Es gibt keine Opposition. In der Öffentlichkeit, im öV, äussert man keine Kritik an der DNR, nur unter nahen Bekannten. Es ist verboten, private Vereine zu gründen, z. B. für einen Kindergarten. Das Leben geht aber äusserlich normal weiter, die Verwaltung funktioniert, es wird vom Staat viel Kultur organisiert. Überall Propaganda, grosse Plakate wie «Wir bestimmen unsere Zukunft selbst!», in den Schulen Portraits des DNR-Führers Sachartschenko mit Putin, ab der 1. Klasse patriotischer Unterricht mit Hymne und Flagge (das Rot darin bedeute – sagt man den Kindern – vergossenes Blut). Wie in sowjetischen Zeiten werden Mitarbeitende eines Hochschul-Instituts mit Bussen zu einer Veranstaltung gefahren, wo sie ungefragt als «freiwillige» Statisten einer patriotischen Kundgebung mit Lukaschenko inszeniert werden. Schon 2017 werden russische Gesetze übernommen, auch im Bildungswesen.
Das Militär ist freiwillig, es wird mit grossen Plakaten geworben, z. B. «Wer schützt, was ihm lieb ist?» Ihr Bruder ist aus Überzeugung in die Armee der DNR eingetreten. Von ihm weiss sie, dass russische Offiziere oft Führungspositionen einnehmen und dass freigelassene Sträflinge, auch Mörder, mitkämpfen. Der Lohn ist hoch.
«Meine Nächsten kämpfen auf beiden Seiten!»
In keinem Gespräch erwähnt sie einen lebensbedrohlichen Beschuss durch die ukrainische Armee. Viele kehren nach den heftigen Kämpfen von 2014/2015 zurück in ihre Wohnungen oder Häuser, sogar in Frontnähe. Es sind recht stabile Verhältnisse, alles funktioniert. Als sie das Leben in Donezk normal nennen will, bricht ihre Freundin in Tränen aus: Nichts ist normal hier! Meine Nächsten kämpfen auf beiden Seiten …!
Jana, die nach ihrer Flucht nach Kiew jedes Jahr bis 2020 ihre In Lugansk gebliebene Mutter besuchte, versicherte, dass sie nie Explosionen im Stadtgebiet hörte oder Schäden wahrnahm, nur aus der Richtung der «Kontaktlinie» war Krieg zu hören.
«Russische Intervention 2014 im Donbass eindeutig»
Alexander Hug versichert im Skype-Gespräch am 19. Juli 2022: Die russische Intervention im Donbass 2014 war eindeutig, zuerst maskiert, dann offen. Wir haben mit russischen Soldaten gesprochen und russische Waffentypen festgestellt, nächtliche Transporte über die Grenze abseits der kontrollierten Strassen mit Drohnen gefilmt.
Aus all meinen Gesprächen mit Vertretern der ukrainischen Armee bis zur Führung fand ich keine Hinweise auf die Planung einer ukrainischen Invasion im Donbass. Die 500 km Frontlinie war sehr stark befestigt, das heisst nicht ohne viel Aufwand zu überwinden. Sie verlief nahe an grossen Städten, die nicht ohne weitgehende Zerstörung zu erobern wären – kaum eine Strategie der Ukraine. Sogar als der Krieg begann, versuchte die ukrainische Armee die Städte zu schonen, im Vergleich zur russischen Armee. Möglich, dass aggressive ukrainische Kampfgruppen auf eine Invasion drängten, aber sie stellten einen so kleinen Teil der Armee dar, dass sie selbständig auf keinen Fall die Mittel dafür hatten. Die OSZE-Beobachter haben nie ungewöhnlich starke Bewegungen von verbotenen schweren Waffen von Seiten der Ukraine auf die Grenzlinie hin beobachtet. Man hätte auch gewiss Nachrichten aus informellen Quellen bekommen (z. B. Fotografien von Bewohnern) über auffallende Truppenverschiebungen.
In meinen fünf Jahren im Donbass habe ich nie eine ethnisch begründete Aggression erlebt. Seit Kriegsbeginn kann sich das aber ändern.
Die Kontakte zur ukrainischen Seite bis hin zur Armeeführung waren im Ganzen unproblematisch, man traf überwiegend auf guten Willen und Rechtsstaatlichkeit. Mit den Bataillonen mit rechtsextremer Tendenz konnte am Anfang kaum kommuniziert werden. Nach ihrer Integration in die Armee wurde es besser. Sie bildeten einen sehr geringen Anteil. Die Kontakte zu den Separatisten waren geprägt vom Fehlen eines guten Willens zur Kooperation, sie waren unzuverlässig im Einhalten von Abmachungen.
Strategische Entscheidungen wurden bei Verhandlungen offensichtlich nicht in Lugansk und Donezk getroffen. Sachartschenko, Puschilin, Plotnizki usw. waren als Führer der Volksrepubliken nicht zuständig. Auch auf lokaler Ebene haben wir oft mit Vertretern aus Russland verhandelt. Ich hatte an der Grenze zu Russland im Bereich der DNR ein Treffen mit einem russischen General und beklagte mich über das unzuverlässige Verhalten der Separatisten. Er forderte mich auf, sich direkt an ihn zu wenden bei Schwierigkeiten, er könne das lösen. 2014 wurden acht OSZE-Mitarbeiter von Separatisten entführt und einen Monat gefangen gehalten. Ich führte die Verhandlungen über die Freilassung mit russischen Vertretern, d. h. mit Vertretern der Russisch-Orthodoxen Kirche, da der russische Staat nicht als Beteiligter erscheinen wollte. In der OSZE-Mission gab es nur ein kleines Kontingent Russen, einzeln aufgeteilt auf die Gruppen. Am meisten Beobachter stellten die USA.
Putins Behauptung eines «Genozids» im Donbass
Heidi Grau, damals Botschafterin in Georgien, bekräftigte in einem Telefongespräch im August 2022, wie vollkommen unangemessen die Begründung der Invasion durch einen angeblich seit acht Jahren vor sich gehenden Genozid gegen die Bevölkerung im Donbass war. Gerade 2021 war die Zahl von zivilen Opfern in den Volksrepubliken ausserordentlich gering. (Im Januar 2022 beklagte Putin zum ersten Mal den seit acht Jahren andauernden «Genozid».)
Vitalja, Schülerin aus Donezk, die bis heute in dieser Stadt lebt, schrieb im Juli 2024: «Vor der SVO («Spezielle Militär-Operation» ist das unter Strafandrohung zu verwendende Wort für den Krieg, den die russische Armee in der Ukraine führt) war es in Donezk absolut ungefährlich, obwohl der Krieg schon acht Jahre angedauert hatte. Explosionen von Geschossen hörte ich seit 2016/17 bis 2022 keine. Als die SVO erklärt wurde, begann in Donezk das Chaos. Man verkündete die sofortige Evakuation. Jeden Tag gab es den Anflug von Geschossen auf die verschiedenen Stadtquartiere, auf alles: Wohnblöcke, Privathäuser, Wassertürme, Elektrizitätswerke, Märkte, Warenhäuser usw. Es schien, als ob es nirgends ungefährlich wäre.
Als Russland die Mobilisierung verkündete, blieben fast keine Männer auf der Strasse, alle versteckten sich. Da begannen sie Busse zu kontrollieren, Privatautos anzuhalten, und wenn sie einen Mann zwischen 18 und 60 Jahren entdeckten, holten sie ihn heraus und gaben ihm das Aufgebot in den Krieg.
Es gab einen Zwischenfall, als auf einem Telegram-Kanal die Mütter, Grossmütter, Tanten, Schwestern von Mobilisierten aufgerufen wurden, sich zu einer bestimmten Zeit auf der Verwaltung einzufinden. Es kamen etwa 30, da wurde die Versammlung von einer Granate getroffen, viele starben – im Zentrum der Stadt! Das war widerwärtig. Natürlich sterben im Krieg Unschuldige, aber einfach auf friedliche Leute im Stadtzentrum zu zielen, das ist zu viel!»