Die Stadt Falludscha in der irakischen Provinz al-Anbar befindet sich nun schon seit sechs Wochen ausserhalb der Kontrolle der Regierung. Die Stadt Ramadi, auch in der Anbar-Provinz, ist inzwischen weitgehend unter die Herrschaft der Regierung zurückgekehrt - mindestens tagsüber. Falludscha ist zu drei Vierteln von der irakischen Armee umzingelt. Von Zeit zu Zeit erklärt ein General oder auch einer der hohen Beamten der Regierung, demnächst werde die Stadt von der Armee zurückerobert. Das könne, heisst es manchmal, innerhalb der nächsten 24 Stunden geschehen. Doch dies wurde allzu oft gesagt, ohne dass etwas geschah. Niemand glaubt mehr daran.
Zielloser Beschuss
Es kommt vor, dass die Armee einzelne Häuser beschiesst. Doch sie scheint dies ziemlich ziellos zu tun. Die Ärzte im Spital von Falludscha erklären, der Beschuss habe bisher 71 Tote und 441 Verwundete gekostet. Lauter "unschuldige Zivilisten" sagen sie. Manche der Verwundeten schwebten in Lebensgefahr, weil die medizinischen Mittel fehlten, um sie richtig zu behandeln. Der Beschuss mache die Regierung noch verhasster als sie schon sei.
Auf der Nordseite ist der Zugang nach Falludscha noch offen. Dort gibt es sogar Felder und landwirtschaftliche Betriebe, die zum Herrschaftsgebiet der Aufständischen gehören. In der Stadt gebe es noch genügend Brot, die Läden seien offen. Die Supermärkte verkauften ihre Vorräte. Manche der Lebensmittel seien älter als die erlaubten Verkaufstermine, doch sie würden trotzdem gekauft. Es herrscht schwerer Mangel an Medikamenten und medizinischem Material. Die Elektrizität funktioniert noch weitgehend, jedoch herrscht grosse Benzinknappheit. Auch Trinkwasser ist knapp geworden. Der Euphrat fliesst durch die Stadt. Die Leute holten sich Wasser aus ihm, obwohl sie wissen, dass es verschmutzt ist. Die Schulen seien geschlossen, die Banken ebenfalls. Doch eine von ihnen habe einmal kurz geöffnet, um Pensionen auszuzahlen. Die Banken würden von Bewaffneten bewacht und seien aus diesem Grund nicht geplündert worden. Die Preise seien stark angestiegen, für manche Lebensmittel um das Dreifache. Nur Fleisch sei billiger geworden, weil sich viele Bauern veranlasst sähen, ihre Tiere zu schlachten, bevor sie Kämpfen und Schiessereien zum Opfer fielen.
Etwa 60 Prozent der 300‘000 Einwohner zählenden Stadt haben Falludscha verlassen. Die meisten von ihnen sind wegen der Beschiessungen geflüchtet. Viele fürchten, dass die Armee die Stadt stürmen wird.
Ein Stadtrat mit ISIS-Beteiligung
Übermittelt wurden diese Informationen von Mustafa Habib, einem Journalisten, der für die Internet-Zeitung "Niqash" arbeitet. Er konnte die Stadt besuchen. In den gedruckten irakischen Zeitungen kann man nichts darüber finden, was in der Stadt selbst vor sich geht. Habib sagt auch, die Stadt werde durch einen Stadtrat von 15 Personen regiert, dem die Vertreter der verschiedenen Milizen und bewaffneten Stammesleute sowie lokale Honoratioren angehören. Auch Vertreter der ISIS-Kämpfer sind dabei. Das sind jene radikalen islamistischen Kampfgruppen, die auch in Syrien kämpfen und bisher als ein Bestandteil von Qaeda galten. Kürzlich jedoch wurden sie vom Qaeda-Chef Zawahiri persönlich als "nicht zu Qaeda gehörig" erklärt.
Habib fand, dass die Zahl der ISIS-Kämpfer wahrscheinlich kleiner sei als jene der bewaffneten Stammesleute. Sie dürften mehrere Hundert Personen ausmachen. Die Stammeskämpfer ein paar Tausend. Doch die Leute von ISIS seien besser bewaffnet und kampfgeübt. Als ein Angriff der irakischen Armee befürchtet wurde, verminten sie die Zugänge zu der Stadt. Sie haben auch Erdwälle aufgebaut, die ihren Kämpfern als Deckung dienen. Zu ihren Waffen gehörten Panzerwagen und Raketen, die gegen Kampfhelikopter eingesetzt werden könnten.
Gefangene "nicht ermordet"
Der wichtigste Beschluss, den der regierende Rat bisher gefasst habe, so der Besucher, sei, dass es ihm gelungen sei, die ISIS-Leute dazu zu überreden, die gefangenen Soldaten der irakischen Armee nicht zu ermorden sondern am Leben zu lassen. Der Rat glaubt, sie könnten künftig möglicherweise als ein politisches Pfand Verwendung finden.
Nach Aussagen der Bewohner sei ISIS bemüht, nicht allzu brutal aufzutreten. Polizisten der Regierung und sogar ehemalige Sahwa-Kämpfer (Stammesleute, die sich zur amerikanischen Zeit gegen die Islamisten erhoben und mit den Amerikanern gegen sie zusammengearbeitet hatten) würden nicht umgebracht sondern nur aufgefordert, ihre Posten und Positionen zu räumen.
Eine Hauptrolle in dem regierenden Rat spiele ein Geistlicher Namens Abdullah Janabi, ein "Salafist", der schon aus der Zeit der Kämpfe gegen die Amerikaner in Falludscha bekannt war und damals versuchte, Scharia-Gerichte zu organisieren. Er halte in einer der Moscheen Brandreden gegen die Regierung. Doch in einer anderen spreche regelmässig einer der bekannteren Stammesscheichs. Er spreche über humanitäre und nicht über politische Belange.
Gegen ISIS - aber noch mehr gegen Maliki
Die Stammeskämpfer sind offenbar geteilt. Manche ihrer Oberhäupter arbeiten eher mit der Regierung zusammen. Sie haben ihr versprochen, dass sie die Stadt von den ISIS-Kämpfern befreien wollten. Doch bisher ist ihnen dies nicht gelungen. Sie scheinen es nicht einmal ernsthaft versucht zu haben. Der Grund dafür dürfte sein, dass sie selbst der Regierung misstrauen und dass die Maliki-Regierung und ihre Soldaten von den Stammesleuten und von den verbleibenden Bürgern Falludschas als feindliche "Schiiten" eingestuft werden.
Man hasst sie und fürchtet sie auf Grund ihres bisherigen Verhaltens. So kam es offenbar häufig vor, dass die Sicherheitsleute der Regierung (immer als "Schiiten" angesehen) sunnitische Frauen gefangen nahmen und auch noch heute gefangen halten, nicht weil sie den Frauen etwas vorzuwerfen hätten, sondern ihren Männern, deren sie nicht habhaft werden konnten. Natürlich geht das Gerücht um, diese Frauen würden in jeder Hinsicht misshandelt. Dies muss man als wahrscheinlich ansehen. Es gibt kaum einen Weg, um sich bei der Bevölkerung verhasster zu machen als diesen, weil er Grundvorstellungen von Mannes- und Familienehre verletzt.
Nach Aussagen der Sicherheitsoffiziere selbst, sollen ständig neue Gruppen von Bewaffneten nach Falludscha strömen. Oft seien es Familienmitglieder, die Rache für Verwandte üben wollen. Sie kommen um gegen die Regierungsarmee zu kämpfen. Sie stammen meist aus den anderen sunnitischen Landesteilen des Iraks, besonders aus dem Raum Mosul und aus den Provinzen Diyala und Salah ad-Din. Der Hauptort von Salaheddin ist Tikrit, der Geburtsort Saddam Husseins. Solche Personen bieten sich auch als mögliche Selbstmordattentäter an. Es ist durchaus anzunehmen, dass ISIS über einen grösseren Vorrat von solchen verfügt.
Ausdehnung auf die Hauptwüstenstrasse
Ebenfalls aus den Kreisen der Sicherheitsoffiziere ist neuerdings zu vernehmen, Kämpfer von ISIS beherrschten die internationale Strasse, die nach Jordanien und Syrien führt, mindestens abschnittweise. Sie hielten alle Fahrzeuge an, die dort verkehrten. Sie liessen die Sunniten durch, doch Automobile und Waren von Schiiten "konfiszierten" sie.
Der stellvertretende irakische Innenminister hat in einem Zeitungsinterview der Zeitung "Sharq al-Awsat" erkärt, die Regierung habe sechs der wichtigsten militärischen Führer von ISIS identifiziert. Drei davon seien ehemalige Offiziere Saddam Husseins und frühere Mitglieder der Baath-Partei. Dies ist glaubhaft, weil die Präsenz solcher früherer Offiziere schon zuvor in islamistischen Quellen geschildert wurde. Sie erklärt mindestens teilweise die taktische Überlegenheit von ISIS gegenüber anderen islamistischen Kampfgruppen und Stammeskämpfern, die oft todesmutig aber selten so fachmännisch vorgehen wie ISIS.
Wer gewinnt die Stämme für sich?
In Falludscha findet offenbar ein politisches Ringen statt, in dem es darum geht, welche Seite die Gunst der lokalen Bewohner und Stammeskämpfer gewinnt: die der Regierung oder jene von ISIS. Man gewinnt den Eindruck, ISIS sei die erfolgreichere Seite. Eine Erklärung von Ministerpräsident Maliki scheint dies zu bestätigen. Er liess mitteilen, er sei im Begriff einen Plan zu erarbeiten, wie seine Seite die Gunst der Stämme von Anbar gewinnen könne. Was zeigt, dass er weiss: gegenwärtig besitzt er sie nicht. Er liess durchblicken, dass alle jene Stammesleute, die erfolgreich gegen ISIS kämpften und die Region von ISIS befreiten, von der Regierung gefördert würden. Als Polizisten und Sicherheitskräfte seien sie ausersehen, die Provinz "wiederaufzubauen."
Details sollen offenbar noch festgelegt werden. Doch wie immer er aussehen mag, ist voraussehbar, dass der Plan Malikis auf grosses Misstrauen bei den Bewohnern von Falludscha stossen wird. Sie haben schon mehrmals erfahren, dass Versprechen nichts wert sind. Sie werden in Zeiten der Not abgegeben. Wenn die Notlage überwunden ist, sind sie vergessen.