Die Armeeoffiziere sind an der Macht, wie es aussieht mit der Zustimmung von bedeutenden Teilen der ägyptischen Gesellschaft. Sie sind im Begriff, jene anderen Teile, die sie am 3. Juli von Macht entfernt haben, soweit irgend möglich auszuschalten. Die Führerschaft der Muslimbrüder wird festgenommen und angeklagt, "Unruhe gestiftet" zu haben, soweit keine anderen Anklagegründe gegen sie gefunden werden können. Reih und Glied der Bruderschaft werden verfemt als Terroristen.
As-Sisi als Führer – aber kein Präsidentschaftskandidat?
Sehr viele Ägypter stimmen zu. Sie preisen die Armee, die, wie sie es sehen, "den Willen des Volkes" durchsetzt. In den Augen sehr vieler - ist es die grosse Mehrheit? das kann niemand genau ermessen - sind die Offiziere die Retter Ägyptens geworden: as-Sissi an ihrer Spitze.
Der Armeesprecher hat gerade erklärt, die Armee gedenke, keinen Kandidaten für die Präsidentschaft aufzustellen. Dies sei ihr endgültiger Entscheid. Die Erklärung kam als Antwort auf eine Kampagne, die den Oberkommandierenden und Verteidigungsminister as-Sissi, der dazu auch als Stellvertetender Minsterpräsident amtiert, dazu aufgerufen hatte, sich um die Präsidentschaft zu bewerben. Die Beobachter merken an, wenn er das täte, wäre es gegenwärtig praktisch gewiss, dass er gewählt würde.
Die Armee also, wird ihn nicht vorschlagen. Vielleicht heisst das, dass er nicht kandideren wird. Oder kann er von anderer Seite vorgeschlagen werden, wenn die Stunde kommt?
Die Brüder ohne Strategie
Die Muslimbrüder tun alles, um der Armee in die Hände zu spielen. Ihre Organisation, die immer ausschliesslich von der Spitze aus gelenkt worden war, ist schlecht geeignet, eine neue Strategie zu entwickeln, wenn die Führerschaft im Gefängnis sitzt. Die unteren Ränge fahren fort, gegen den "illegitimen Staatsstreich" zu demonstrieren.
Doch die Zahlen der Demonstranten nehmen ab. Sie oder ihre Sympathisanten, begehen genügend Gewaltakte, um die Anklage des Terrorismus aufrecht zu erhalten und zu bestätigen, obwohl die letzten der verbleibenden Führer und Unterführer der Bruderschaft immer wieder betonen, die Demonstrationen, zu denen sie unentwegt weiter aufrufen, müssten gewaltlos sein.
Das Netz der Geheimdienste ist geflickt
Ein Teil der Gewaltakte könnten auch Provokationen sein, die von den Geheimdiensten ausgehen, um sie den Brüdern zuzuschreiben. Denn die Geheimdienste sind wieder voll zurückgekehrt und im Begriff, ihr vor zwei dreiviertel Jahren durch die Revolution durchlöchertes Kontrollnetz erneut über die gesamte ägyptische Zivilgesellschaft auszubreiten.
Der Ausnahmezustand wurde für zwei weitere Monate verlängert. Weitere Verlängerungen dürften noch folgen. Ein Geheimprozess gegen den gefangen gehaltenen Mursi hat begonnen, sowie, immer geheim, andere gegen Oberhäupter der Brüder und ihrer politischen Partei. Ein Gericht von Kairo hat soeben beschlossen, dass alle Aktivitäten der Muslimbrüder und ihrer sämtlichen Zweigorganisationen verboten seien. Ihre Gelder seien zu konfiszieren.
Die Richter - es sind die gleichen, die unter Mubarak Karriere gemacht haben und schon damals für die Niederhaltung der Bruderschaft sorgten - achten darauf, dass formalrechtlich alles korrekt gehandhabt werde. Falls Gesetze fehlen, die man dazu benötigt, werden sie dekretiert.
Eine neue Verfassung – nach dem Willen der Militärs
Das Verfassungskomitee von 50 von der Regierung ausgewählten Volksvertretern tagt, um Mursis Verfassung zu revidieren. Aus ihrem Umkreis verlautet, es werde eine neue Verfassung werden, kaum einer der bisherigen Artikel bleibe bestehen. Auch das Wahlgesetz werde geändert, so dass mehr Volksvertreter (oder gar alle?) auf Grund von individuellen Kandidaturen gewählt würden, nicht auf der Basis von Parteilisten. Amr Moussa, ein ehemaliger Aussenminister, späterer Generalsekretär der Arabischen Liga und einer der unterlegenen Kandidaten in den Präsidentenwahlen, die Morsi im Juni 2012 knapp gewann, übt den Vorsitz der 50 aus.
"Obligatorischer Blickwinkel " für die Medien
Die Presse ist bereits weitgehend gleichgeschaltet. Hisham Allam, ein bekannter Enthüllungsjournalist, hat auf der Website der Internationalen Vereinigung von Enthüllungsjournalisten (International Consortium of Investigative Journalists) bekanntgegeben, warum er seine Arbeit bei der Zeitung "el-Watan" niedergelegt hat. Er sagte: "Es ist obligatorisch geworden, die Ereignisse aus einem bestimmten Blickwinkel zu beschreiben, nämlich indem man die Anhänger des entfernten Präsidenten verurteilt und sie als Kriminelle beschreibt.
Gleichzeitig ignorieren die lokalen Medien völlig all die brutalen Tötungen und eigenmächtigen Verhaftungen der Anhänger des früheren Regimes. Die meisten namhaften Journalisten haben beschlossen, ihre Medien für die nächste Zeit zu verlassen, weil sie fürchten, sie würden unter Druck geraten und verpflichtet werden, ihre Leser und Zuhörer zu betrügen.
Zuvor, unter Mursi, hatte Allam als Enthüllungsjournalist die Hintergründe der Gefängnissausbrüche in den ersten Tagen der Revolution untersucht. Er kam zu dem Schluss, dass es Bewaffnete von Hamas gewesen seien, die damals ägyptische Gefängnisse mit Gewalt und mit Verlusten an Menschenleben aufgebrochen und die Insassen befreit hätten, nicht etwa, wie allgemein angenommen wurde, die Gefängniswärter des Innenministeriums selbst. Da auch Mursi und andere Spitzen der Bruderschaft damals frei kamen, haben die Offiziere den Gefängnisausbruch als ein mögliches Verbrechen Mursis angesprochen.
Fanatismus geht um
Die Ägypter sind als gutmütiges und tolerantes Volk bekannt, die gerne politische und andere Witze machen. Doch heute herrscht eine Stimmung des Fanatismus. Dies geht gewiss teilweise auf die Medienhetze zurück, die nun gegen die "Terroristen" geführt wird. Doch der Stimmungsumschlag hat wohl tiefere Gründe. Er hat wahrscheinlich mit der Enttäuschung zu tun, die die Ägypter übermannte nach der riesigen Hoffnungswelle, welche die Revolution aufwarf. Jemand muss doch daran schuld sein, dass die Revolution "gestohlen wurde", so empfinden sie. "Wer?" - "Es war Mursi, der sie für sich und seine Muslimbrüder zu stehlen suchte".
Die immer noch im Hintergrund glimmende Hoffnung, dass die Revolution, doch noch zu einem besseren Leben führen könnte, wird nun auf die Offiziere projiziert: "Sie haben 'dem Volk' geholfen, Mursi los zu werden, und sie bestrafen ihn nun. Sie müssen es nun sein, die die Ziele der Revolution verwirklichen werden, wenn es uns je wieder besser gehen soll! Und es muss uns doch besser gehen! Denn so wie heute geht's nicht mehr weiter !" Je mehr man hoffen will, dass nun doch noch ein besseres Leben kommt, desto heftiger sieht man sich veranlasst, die Gegner und Widerspieler des gegenwärtigen vermeintlichen Hoffnungsträgers zu verurteilen und zu dämonisieren. Wenn man "den Schuldigen" finden und bestrafen kann, öffnet dies, so empfindet man dunkel, endlich doch den Weg zum Erfolg.
Sinai und die Wirtschaft
Werden die Offiziere solche Hoffnungen erfüllen können? Zurzeit sind zwei Hindernisse zu sehen, die ihnen entgegenstehen: Sinai und der dortige Aufstand, als das kleinere, die ägyptische Wirtschaft, die in einer wachsenden Krise steckt, als das grössere der beiden.
In Sinai ist ein ungleicher Krieg ausgebrochen. Die Armee hat eine Grossoffensive gegen die dortigen Guerrilla begonnen, und sie gelobt, diese werde nicht mehr aufhören, bis die "Terroristen" niedergekämpft seien.
Doch dies wird für die ägyptische Armee, die seit 1973 keinen Krieg mehr geführt hat, keine leichte Aufgabe werden. Ihre Feinde, eine undurchsichtige Mischung aus gewaltbereiten Islamisten und rachedurstigen Beduinen, sind dank der libyschen Waffen gut ausgerüstet, und sie kennen ihre Wüstentäler und Berge.
Alles "Terroristen"
Die Armee glaubt, sie würden aus Gaza von Hamas unterstützt, und sie ist geneigt, sie gleich auch mit den Muslimbrüdern in einen Topf "des Terrorismus" zu werfen. Hamas schwört, das treffe nicht zu. In der Tat ist es wahrscheinlich, dass es sich eher um Kleingruppen handelt, die - radikaler als Hamas und ohne dessen Verantwortung für die Zivilbevölkerung des Streifens - einen Kurs nach dem Vorbild der Kaida einschlagen möchten. Weil Hamas sie in Gaza stillzulegen sucht, sind sie in den Sinai ausgewichen.
Die Armee ist dabei, alle Tunnels nach Gaza zu zerstören, weil diese die Verbindung dorthin vermitteln. Es soll sogar einen festen Tarif für den Durchgang von Personen durch die Tunnels geben. Dass diese gewalttätigen radikalen Islamisten mit den Beduinen zusammenarbeiten, die seit Jahrzehnten von den ägyptischen Behörden und Geheimdiensten verfolgt und misshandelt werden und daher Rache suchen, darf als sicher gelten.
Radikalisierungsgefahr auch im Niltal
Der Ausgang des Ringens ist noch ungewiss. Wenn die Offensive der Armee fehlschlägt, oder nur Teilerfolge aufweist, besteht die Gefahr, dass die Bewegung des Sinai sich auf andere Wüsten- und Randgebiete Ägyptens ausdehnt. Sie könnte zum Beispiel mit AQIM, dem Kaida-Zweig, der in der Sahara agiert, Kontakt aufnehmen. Der Waffenschmuggel aus Libyen erreicht den Sinai schon heute auf diesen Spuren, und er muss sich dabei quer durch das Delta bewegen! Versprengte und verbitterte Reste der Muslimbrüder könnten sich radikalisieren und dazu stossen. Dies ist der Einsatz von Sinai.
Die kritische Frage der Staatssubventionen
Was die Wirtschaft angeht, so ist unübersehbar, dass die Staatssubventionen für Grundnahrungsmittel, einschliesslich Brot und für alle Formen von Energie von der Elektrizität bis zu Benzin und Diesel Öl, reduziert werden müssen. Ihr Anteil am gesamten Staatsbudget ist so hoch geworden, dass der Staat sie nicht mehr fortführen kann. Der IMF hat zur Zeit Mursis klargemacht, dass er Ägypten keine Anleihe gewähren kann, wenn die Subventionen nicht abgebaut werden.
Doch dies droht zu Unruhen zu führen, weil die riesigen ägyptischen Unterschichten, die gegenwärtig auf Grund des verbilligten Treibstoffes und Weizens dem Hunger nur knapp entgehen, dann in Gefahr schweben Hunger zu leiden.
Geld kommt aus den Erdölstaaten
Die Militärs haben beschlossen, für die gegenwärtige Übergangszeit die Subventionen beizubehalten. Es ist ihnen gelungen, zu diesem Zweck eine grosse Summe von Hilfsgeldern aus den drei Erdölstaaten: Saudiarabien, Vereinigte Arabische Emirate und Kuwait zu erhalten. Man spricht von total 12 Milliarden Dollar. Ein Teil davon wurde bereits ausbezahlt. Die Devisenreserven der ägyptischen Zentralbank sind daher wieder gestiegen. Sie hatten zuvor einen Tiefstand erreicht, der kaum für die wesentlichen Importe von drei Monaten ausgereicht hätte. Ägypten ist der grösste Weizenimporteur der Welt.
Politische Finanzhilfe
Die Übergansperiode bis zur Wahl eines neuen Parlaments kann mit diesen Mitteln wahrscheinlich überbrückt werden. Doch dann müssten neue Milliarden fliessen, oder der Zeitpunkt kommt, an dem eine Korrektur des Subventionswesens, auf welchem die gesamte - sehr knappe - Wirtschaft des Landes beruht, angepackt werden muss.
Die drei Ölstaaten haben die Gelder gewährt, weil ihnen die Vorstellung einer erfolgreichen Islamischen Demokratie unter Führung der Muslimbrüder in dem Scharnierland der arabischen Welt, Ägypten, als eine Gefahr für die eigenen, nicht demokratischen Herrschaftssysteme erschien. Sie waren bereit, zur Konsolidierung des Nachfolgeregimes beizusteuern. (Kuwait besitzt zwar ein gewähltes Parlament, doch die Regierung wird vom Herrscher ernannt und seinen engsten Verwandten anvertraut. Die beiden anderen Geldgeber sind voll absolute Herrschaften). Wie viele Male werden sie erneut in die Taschen greifen?
Ohne Stabilität keine materielle Verbesserung
Diese beiden Herausforderungen sind miteinander verbunden, weil ohne Stabilität die ägyptische Wirtschaft nicht einmal mehr auf den Stand gebracht werden kann, der zur Zeit Mubaraks herrschte. Die Bevölkerung aber erwartet eine grosse Verbesserung ihres schon damals unerträglich knappen Auskommens. Die "Revolution" hat dies nicht erbracht; nun sollen die Militärs es hervorbringen !
Der "Dritte Platz", weder Militärs noch Brüder
Natürlich gibt es Gruppen von "Revolutionären" denen es ernsthaft um Dinge geht wie persönliche Freiheiten, Menschenrechte, Gewerkschaftsfreiheit, politische Selbstbestimmung des ägyptischen Volkes, und die diese über die Fragen des Lebensstandards stellen. Doch dies sind vergleichsweise kleine Gruppierungen. Einige von ihnen haben begonnen, die "Militarisierung" zu kritisieren, die nun mit aller Macht eingesetzt hat. Die bekannte Revolutionsgruppe des "6. April" ist darunter. Sie nimmt ihren Namen von den offiziell als illegal eingestuften und blutig niedergeschlagenen grossen Streiks in den Textilstädten des Deltas, Zentrum Mahalla al-Kubra, vom Jahr 2008. Sie hatten sie anzetteln helfen.
Einige versprengte Liberale stimmen ihnen zu. Zusammen mit anderen Gruppen haben sie sich zum "Dritten Platz" zusammengeschlossen. Sie betreiben eine Seite bei Facebook. Alle zusammen sollen sie etwa 70000 Personen ausmachen. Die Ägypter sind über 80 Millionen. Baradei hat sich auf ihre Seite gestellt. Seine früheren Weggefährten aus der gegen Mursi gerichteten Nationalen Rettungsfront haben sich zu den Offizieren geschlagen. Die kritischen Stimmen sind gegenwärtig in der ägyptischen Öffentlichkeit kaum zu vernehmen - noch weniger als in den Tagen Mubaraks.
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