Ich treffe Thomas im Hauptbahnhof Zürich, Gleis 17, wo der Interregio 37 nach Aarau und Basel abfährt. Wir kennen uns beruflich seit über dreissig Jahren.
Thomas hat in verschiedenen Positionen im Stab der ETH-Leitung dazu beigetragen, dass ich mich als Angehöriger des damaligen Departementes für Umweltnaturwissenschaften unter optimalen Bedingungen um Lehre und Forschung kümmern konnte. Unzählige Stunden haben wir am gleichen Sitzungstisch gesessen, wo über Forschung, Lehrkonzepte, Finanzen, Professorenwahlen und anderes diskutiert worden war und uns dabei kennen und schätzen gelernt.
Aber irgendwie ist es wie beim Mond: Wir meinen ihn zu kennen, aber sehen tatsächlich immer nur die eine Seite. Und eines Tages entdecken wir dann zufällig – quasi auf einem geistigen Raketenflug – die andere Seite des Mondes bzw. eine andere Seite des uns vermeintlich so bekannten Menschen, sind überrascht und lernen Fähigkeiten und Interessen kennen, welche sich am Sitzungstisch nie bemerkbar machen konnten.
So ist es mir vor ein paar Monaten mit Thomas gegangen. In einem Mail, in dem es um eine ETH-Angelegenheit ging, antwortete Thomas auf meine Frage, wie er sich auf seine Pensionierung vorbereite, es sei gerade ein Buch von ihm herausgekommen, weitere Projekte seien in der Pipeline. Als ich den entsprechenden Link anklickte, stiess ich auf ein über 500-seitiges, bebildertes Werk mit dem Titel «Vom Gotthardzubringer zur S-Bahn. Die Wynental- und Suhrentalbahn» (1).
Auf dem Buchdeckel posieren neun Kondukteure, jeder mit einem neuen tragbaren Billetapparat behängt, vor einem blau-weissen Triebwagen, auf dessen Seitenwand die Initialen «AS» sichtbar sind. Natürlich erkannte ich als alter Eisenbahnfan sowohl das unverwechselbare Design des Fahrzeuges als auch die Initialen: AS steht für «Aarau–Schöftland», also für die 1901 in Betrieb genommene 10 Kilometer lange Strassenbahn – so nannte sie sich in den ersten Jahren – von Aarau ins Suhrental, welche es trotz hochfliegender Pläne nie über Schöftland hinaus ins Luzernische Suhrental schaffte, nicht einmal bis nach Triengen, um wenigstens den Anschluss an die (heute stillgelegte) normalspurigen Bahn nach Sursee herzustellen.
Meine Neugierde war geweckt; ich bestellte das Buch. Ich wusste zwar, dass Thomas Geschichte studiert hatte, wunderte mich aber über das Interesse des Historikers an den beiden Aargauer Lokalbahnen. Eine Erklärung fand sich auf einer der ersten Seiten des Buches: Ein sympathischer Mann in typischer Bähnleruniform (drei Streifen am Hut) nimmt von einer Schülerin ein Sträusschen entgegen. Darüber der Text: «Gewidmet unserem Vater, Hans Eichenberger (1931–2013), angestellt bei der Wynentalbahn ab 1949, Stationsvorstand in Teufenthal in den Jahren 1958–1975 und danach Bahnhofvorstand in Aarau WSB bis 1993, und unserer Mutter, Nelly Eichenberger-Faes (1932–2020).»
Beim Lesen wurde mir bald klar, dass man in diesem Buch weit mehr lernt als die Geschichte zweier Nebenbahnen, der bereits erwähnten Bahn ins Suhrental und ihrer drei Jahre jüngeren, aber doppelt so langen, weiter östlich verlaufenden Wynentalbahn (WTB) von Aarau über Suhr und Reinach AG nach Menziken. Tatsächlich berichtet es über die wechselvolle Entwicklung von den 1870er Jahren bis ca. 1980 zweier einst landwirtschaftlich geprägter Aargauer Täler zur «Wohn- und Dienstleistungslandschaft» Schweiz. Es erzählt von den Spuren politisch und wirtschaftlich einflussreicher Familien, vom Aufbau und Niedergang insbesondere der Maschinen- und Tabakindustrie und geht der Frage nach, wie sich dabei die beiden Schmalspurbahnen mit ursprünglich überregionalem Anspruch zur modernen S-Bahn des Kantons Aargau gewandelt haben.
Darüber liesse sich eine klassische Buchbesprechung schreiben, doch ich fand eine andere Variante spannender, nämlich Thomas um eine gemeinsame Zugreise ins Land seiner Jugend zu bitten.
Ankunft in Aarau. Der Bahnhof der Wynental- und Suhrentabahn WSB (2) befindet sich auf der von der Stadt abgewandten Südseite des SBB-Bahnhofs. Mein «Reiseleiter» hat für den Anfang eine Fahrt nach Menziken vorgeschlagen. Während wir im modernen Triebwagen durch das Wynental fahren, erklärt er mir anhand von mitgebrachten alten Fotos und Plänen die im Laufe der Jahre entstandenen Veränderungen der WTB.
Ursprünglich seien die Geleise links oder rechts in die Kantonsstrasse verlegt worden, was in den engen Dörfern zu vielen Unfällen geführt habe, wenn beispielsweise ortsunkundige Autofahrer sich plötzlich einem auf der falschen Seite fahrenden Güterzug gegenüber sahen. Unterdessen verkehre die Bahn überall auf separatem Trassee. Auf zwei Abschnitten, zwischen Aarau und Suhr sowie zwischen Reinach und Menziken, hätte die kleine Schmalspurbahn von der Stilllegung zweier SBB-Strecken profitiert und deren Trassee übernehmen können.
Nach knapp 40 Minuten Fahrt sind wir in Menziken. Der neue Bahnhof mit imposanter Halle liegt auf dem Terrain der ehemaligen SBB-Strecke Beinwil am See–Beromünster, welche einst Teil der Seetalbahn gewesen ist. Auf der Hauptstrasse wandern wir durch die nahtlos ineinander übergehenden Dörfer Menziken und Reinach, auf der sich früher Autos und Bahn den engen Platz geteilt hatten, vorbei an ehemaligen Fabrikgebäuden und unzähligen Tabakfabriken, viele leer stehend oder nur noch wenig genutzt. Der Wegzug der Industrie hat auch das Gesicht der Dörfer verändert: Wo es früher ein reichhaltiges Angebot an Läden gab (sogar der Globus hatte in Reinach offenbar einst einen Ableger), haben sich in den leer stehenden Liegenschaften Immobilienfirmen, Nail Studios, Autogaragen und Bars mit exotischen Namen eingemietet. Das Bild erinnert mich an französische Dörfer, in denen der Supermarkt auf der grünen Wiese auch den letzten Boulanger zum Aufgeben gezwungen hat.
Beim 1904/05 erbauten Zentralschulhaus, einem imposanten Bau, der auf der Liste der Reinacher Kulturgüter figuriert, steigen wir wieder in die Bahn Richtung Aarau. An der Station Teufenthal, wo Thomas seine Kindheit verbracht hatte, überspringen wir einen Zug. Er zeigt mir sein damaliges Zimmer im Stationsgebäude (Fenster im ersten Stock rechts) und berichtet von den täglich sechs Güterzügen, welche u. a. Güterwagen zum Gleisanschluss der benachbarten Injecta gebracht hätten, weshalb es für die WTB wichtig war, den Stationsbeamten und seine Familie im Bahnhofsgebäude unterzubringen.
Mit der Injecta AG sind wir bei einem weiteren Kapitel der Wynentaler Industriegeschichte. Die Firma, gegründet 1920, liquidiert 2011, spezialisiert auf die Herstellung von Werkstücken im Druckguss-Verfahren, sei die erste Druckgiesserei in Europa gewesen. Vor allem mit dem Leichtmetall-Druckguss konnte die Injecta eine grosse Palette von Produkten herstellen, von Haushaltsmaschinen, Fahrradzubehör, Farbstiftspitzer bis zu den Halterungen für Telefonbücher in den öffentlichen Telefonkabinen. In den besten Zeiten (1970er Jahre) beschäftigte die Injecta ca. 1000 Personen. Heute ist Teufenthal eine gewöhnliche S-Bahn-Station mit einem ferngesteuerten Kreuzungsgeleise, ohne Personal, ohne Güterverkehr, ohne Herrn Eichenberger mit seinem steifen Bähnlerhut, auf dem zwei oder drei Streifen prangten.
Dank des durchgehenden 15-Minuten-Taktes fahren wir wenig später weiter, können im Aarauer WSB-Bahnhof sitzen bleiben – die Züge verkehren heute durchgehend auf beiden Tallinien – und treffen rechtzeitig an der andern Endstation Schöftland ein, wo im Restaurant Schlossgarten ein Mittagessen auf uns wartet, Zeit um nach den Familien Eichenberger (Vater) und Faes (Mutter) zu fragen. Typisch für die Schweiz: Sie sind beide im Kanton verwurzelt, die Vorfahren waren in der Landwirtschaft tätig, der Grossvater Hühnerfarmer in Reinach, wurden Zeugen der Veränderungen ihrer Dörfer und haben es erlebt, wie ihre Kinder in den 1970er und 1980er Jahren den Sprung ans Gymnasium und an die Universität schafften.
Auch andere Sprünge gab’s in dieser Generation: Man heiratete nicht mehr unbedingt innerhalb des eigenen Tales, sondern schaute vermehrt über die Kantons- und sogar die Landesgrenze hinaus. Im Buch von Thomas findet sich auf Seite 11 ein farbiges Foto, welches einen blumengeschmückten roten Wagen der WSB zeigt, der von einem Brautpaar auf einem Stationsgleis durch Muskelkraft bewegt wird. In griechischen Lettern steht darüber, der Autor danke seiner Frau Sofia Karakostas, welche über längere Zeit seinen Enthusiasmus für Bahngeschichten hätte ertragen müssen. Und dann: «Wie schon bei unserer Hochzeit half sie tatkräftig mit, dieses Ding [das Buch] an die richtige Stelle zu rangieren.»
Da wurde mir definitiv klar: Der Mensch ist weit komplexer als der Mond mit seinen (nur) zwei Seiten. Er ist mindestens ein Dodekaeder (ein aus zwölf Flächen bestehender symmetrischer Körper). Thomas’ Frau Sofia Karakostas, griechischer Abstammung, aber in der Schweiz aufgewachsen, Historikerin wie Thomas, scheint sich an den tatkräftigen Aargauer Männern des 19. Jahrhunderts orientiert zu haben, an Olivier Zschokke zum Beispiel, welcher sich für die Wynentalbahn stark gemacht hatte. Sie hat sich in der Politik engagiert und präsidiert im Amtsjahr 2023/24 den Zürcher Gemeinderat. Und um das Potenzial der Frauen (ob aus dem Wynental oder von einer griechischen Insel) noch zu unterstreichen: Auch Angelica Eichenberger, die Tochter von Sofia und Thomas, ist Mitglied des Zürcher Gemeinderats.
Fast hätten Thomas und ich über diesen Gesprächen im Schlossgarten vergessen, wieso wir eigentlich hier sind. Es wird Zeit für die Rückreise nach Aarau. Thomas möchte mir noch zeigen, wo in Aarau das «Schöftland-Tram» früher seine Endstation gehabt hatte: Von Oberentfelden über den Distelberg kommend fuhr es auf den Aarauer Rathausplatz, machte dort eine Spitzkehre und setzte auf der Bahnhofstrasse bis zum Bahnhofplatz zurück, wo bis 1924 auch die WTB endete. Die dortigen Rangiermanöver mitten im Verkehr seien manchmal unübersichtlich gewesen, hat Thomas im Archiv der beiden Bahnen gelesen. Immer wieder sei es auch zu Zusammenstössen gekommen. Mit der Inbetriebnahme des Tunnels von der Station Binzenhof zum heutigen WSB-Bahnhof (1967) wurde wieder eine Verbindung zwischen den beiden Bahnen hergestellt und ein durchgehender Betrieb von Schöftland bis Menziken möglich.
Mein Reiseführer hatte mir in seinem Programm auch einen Gang zu jenem Schulhaus angeboten, der Alten Kantonsschule, wo einst – ich zitiere Th. E. – «Einstein, Corine Mauch, Franz Hohler, Daniel Wyler und ich» zur Schule gegangen sind, aber ich meinte, den Geist der Aargauer Intelligenzija auch ohne diesen Besuch spüren zu können. Als ich auf der Rückfahrt nach Zürich rechterhand das Schloss Lenzburg auf seinem Hügel thronen sah, wurde mir bewusst: Er ist mir näher gerückt, dieser Kanton, dessen Autofahrer früher in Basel und Zürich traditionsgemäss verlacht worden sind. Und er hat es weit gebracht: von der Geburtsstätte der Habsburger über Berner Untertanengebiet bis zum selbständigen Kulturkanton. Nur die eigene Universität blieb ein Traum. Wer weiss: Vielleicht klappt es dafür mit dem lange geplanten neuen Fussballstadion.
(1) Thomas Eichenberger. Vom Gotthardzubringer zur S-Bahn. Die Wynental- und Suhrentalbahn. Zürich: Chronos-Verlag, 2022.
(2) Die Benennung der beiden Bahnen ist für den Laien verwirrend. Aus den beiden getrennten Gesellschaften AS und WTB entstand 1958 durch Fusion die WSB. Seit 2018 gehört die WSB zum «Aargau Verkehr» (AVA), doch die Bezeichnung WSB überlebte bis heute.