Demokratische Grundbestimmungen werden mit Sondervollmachten für Offiziere und Polizisten vermengt. Daher scheint eine gewisse Portion Skepsis gegenüber dem Entwurf angebracht zu sein.
Revolution oder Staatsstreich?
Am 14. und 15.Januar werden die Ägypter einmal mehr über eine neue Verfassung abstimmen. Der Verfassungsentwurf ist soeben fertig geworden. Er wurde von 50 ernannten "Volksvertretern" geschrieben, nachdem 10 ebenfalls ernannte Juristen ihn vorbereitet hatten. Die Ernennungen hatte die Übergangsregierung vorgenommen, die ihrerseits von den ägyptischen Militärs eingesetzt worden war.
Die Militärs erklären, sie handelten im Namen des Volkes und berufen sich dabei auf eine Grossdemonstration gegen den gewählten aber missliebig gewordenen Präsidenten Morsi, die am 30. Juni dieses Jahres stattfand und von den Apologeten des neuen Regimes die "Revolution vom 30 Juni" genannt wird. Die Feinde des neuen Regimes sprechen von Staatsstreich des 30.Juni.
Der Sieg der alten Garden
Die neue Verfassung, die auf diese "Revolution" zurückgeht, hat Sieger und Verlierer. Die Verlierer sind die Islamisten, sowohl die Muslimbrüder, wie auch die Salafisten, obgleich letztere dem militärischen Eingriff zugestimmt haben. In der neuen Verfassung sind Parteien verboten, die "auf religiöser Grundlage beruhen". Künftige Gesetze sollen die Einzelheiten festlegen. Bestehende Parteien können nur von Gerichten aufgelöst werden. Was dies für die Partei der Muslimbrüder und für die salafistische Nour Partei bedeuten wird, bleibt abzuwarten.
Sieger sind die Militärs, wie zu erwarten war, und weiter die Ordnungskräfte und die Richter, die zur Zeit Mubaraks Karriere gemacht hatten, nach dem Sturz Mubaraks eng mit den Militärs zusammenarbeiteten und mit Morsi massiv zusammenstiessen.
Privilegien bleiben bestehen
Es ist ein demokratischer Verfassungsvorschlag geworden. Allerdings einer, der die Privilegien und Vollmachten der Militärs noch weiter verstärkt, als das bereits in Morsis Verfassung von 2012 der Fall war. Der Vorschlag legt neu fest, dass für die kommenden beiden Präsidialperioden von je vier Jahren der Verteidigungsminister von der Armee ernannt wird und weder vom Ministerpräsidenten noch vom Präsidenten abgesetzt werden kann.
Die Privilegien der Armee, die schon Morsi eingeräumt hatte, bleiben bestehen: Budgethoheit der Offiziere ohne Kontrolle durch das Parlament; die Möglichkeit, Zivilisten vor Militärgerichte zu stellen, wenn es um Schädigung der Militärinteressen geht, oder auch, wenn die mutmasslichen Vergehen in einer Zone vorkommen, die von den Militärs als Militärzone erklärt worden ist.
Die Macht der Staatsanwälte
Wie schon heute werden auch künftig die militärischen Staatsanwälte
in der Lage sein, gegen Kritiker und Protestierende aus eigener
Vollmacht vorzugehen und sie aus eigenem Ermessen in
Militärgefängnisse und vor Militärgerichte zu bringen.
Die Polizei erhielt als eigene Konzession, dass sie sich nun als "dem Volk gegenüber loyal" zu betrachten habe, nicht gegenüber einer bestimmten Regierung. Angebliche "Loyalität gegenüber dem Volke" ist die Grundlage, die den Militärs dazu diente, ihren Eingriff vom 30.Juni zu rechtfertigen und ihn als Revolution, nicht als Putsch zu bewerten.
Ein neuer Oberster Polizeirat muss künftig bei allen Gesetzen, welche die Polizei betreffen, zugezogen werden. Dies ist die Vorsorge dafür, dass künftig keine Reform des Polizeiapparates stattfindet, ohne dass die Polizeikommandanten mitbestimmen. Eine davon unabhängige Polizeireform wäre aber sehr dringend nötig.
Das Label des "Terrorismus"
Die Geheimdienstoffiziere sollen künftig von der Militärjustiz abhängen. Sie werden dadurch frei von ziviler Beaufsichtigung oder Verfolgung durch die zivilen Gerichte. Sie geniessen ohnehin meistens Offiziersrang und Offiziersprivilegien.
Der Staat erhält auch ausdrücklich die Aufgabe, "Terrorismus" zu bekämpfen. Dies ist bemerkenswert, weil der Begriff "Terrorismus" zur Zeit in Ägypten sehr weit gefasst wird. Was immer den führenden Leuten im Staat nicht gefällt, bezeichnet man gerne als Terrorismus.
Auch die Richter des Obersten Verfassungsgerichts erhielten eine Sonderposition, sie werden künftig ihren Vorsitzenden selbst wählen. Alle Gerichte erhalten künftig, nach dem Vorschlag, ihr Buget als Gesamtsumme und können selbst über deren Verwendung befinden.
Erhöhtes Risiko für Demonstranten
Die Verfassung garantiert Menschenrechte, doch die konkreten Einzelheiten und die Grenzen für deren Inanspruchnahme sollen künftig durch die Gesetzgebung festgelegt werden. Bereits jetzt ist von der Übergangsregierung ein Gesetz erlassen worden, das die "Demonstrationsfreiheit" so eng umschreibt und Zuwiderhandelnde unter solch schwere Strafandrohungen stellt, dass Demonstrationen ohne Polizeibewilligung zu einem schweren Risiko für die Demonstranten geworden sind.
Die Mit- und Einsprachemöglichkeiten für Religionsvertreter in Belangen der Öffentlichkeit, die in der Morsi-Verfassung von 2012 vorgesehen waren, sind gestrichen worden. Dazu gehört auch die damals eingeführte Kompetenz der Azhar Moschee, darüber zu befinden, welche Gesetze der Scharia entsprechen und welche nicht. Darüber wird nach dem neuen Vorschlag das Oberste Verfassungsgericht zu entscheiden haben. Die Gleichberechtigung beider Geschlechter ist klarer festgelegt als in den früheren Verfassungen.
Keine neuen Kirchen für Christen
Die Christen erhielten eine explizite Erwähnung ihrer eigenen Rechte im Familienbereich und das Versprechen eines künftigen Gesetzes über die Restauration von Kirchen (die Möglichkeit von Neubauten ist nicht erwähnt) und die Freiheit eigener Religionsgebräuche. Das wurde in der Gesetzgebung schon bisher zugesichert, gab jedoch in der Praxis oftmals Anlass zu Streit.
Gottesdienste anderer Religionen als jener der drei abrahamischen (Juden, Christen, Muslime) sind nicht zugelassen. Meinungsfreiheit ist als Grundrecht anerkannt. Doch die Details darüber sind künftiger Gesetzgebung vorbehalten. Ein Passus in Morsis Verfassung, der die Beleidigung von Propheten verbot, ist weggefallen.
Zuerst Parlament oder zuerst Präsident ?
Die Übergangsbestimmungen, die die Militärs nach ihrem Staatsstreich (den sie Revolution nennen) festlegten, besagten, dass im kommenden Jahr zuerst ein Parlament und dann ein Präsident gewählt werden soll. Der Verfassungsvorschlag erklärt, beide Wahlen sollen stattfinden, doch welche zuerst, jene des Präsidenten oder jene des Parlamentes, lässt er offen.
Wird as-Sissi kandidieren?
Dies fand starke Beachtung, weil nach wie vor eine Möglichkeit besteht, dass General as-Sissi, der gegenwärtige Armeechef, Verteidigungsminister und Vizepremier, möglicherweise für die Präsidentschaft kandidieren könnte. Er selbst hat sich nicht festgelegt, doch es gibt Gruppen von Anhängern, die dafür werben. Die Beobachter urteilen: Wenn as-Sissi kandidieren wollte, läge es in seinem Interesse, dass die Präsidentenwahl zuerst und so rasch wie möglich durchgeführt wird. Der General steht gegenwärtig auf einem Höhepunkt der Beliebtheit bei vielen Ägytern, die ihn als den Retter des Landes vor den Muslimbrüdern feiern.
Es gibt zur Zeit in Kairo Sissi-Teelöffel, Sissi-Süssigkeiten und Sissi-Unterhemden zu kaufen. Fänden die Wahlen sofort statt, würde er mit grosser Wahrscheinlichkeit siegen. Möglicherweise dauert die Popularität des Generals auch bis in den kommenden Herbst oder Winter an. Das heisst bis zur Zeit des zweiten vorgesehenen Wahltermins. Doch dies ist nicht sicher. Dass die Termine offen gehalten werden, dürfte den Wunsch des Generals und seiner Anhänger spiegeln, zunächst abzuwarten und abzuwägen, ob er die Wahlen bestreiten soll oder nicht. Parteigänger der Militärs werben bereits für vorgezogene Präsidentenwahlen. Wenn as-Sissi nicht Präsident wird, bleibt er jedenfalls der künftige unantastbare Armeechef und Verteidigungsminister für die nächsten 8 Jahre. Es sei denn, seine Mitoffiziere setzen ihn ab.
Die ersten Wahlplakate
Die Vorbereitung des Plebiszits hat bereits begonnen. Das Innenministerium meldet, 200.000 Polizisten stünden bereit, um Ruhe und Sicherheit zu gewährleisten. Natürlich wird auch die Armee zur Verfügung stehen, wenn das notwendig werden sollte. Die Muslimbrüder haben noch nicht beschlossen, ob sie das Plebiszit boykottieren oder ob sie die Nein-Parole ausgeben. Die Aktivisten vom 6. April und andere mit ihnen verbündete Revolutionsgruppen haben sich für "Nein" entschieden. Dies wegen der vorgeschlagenen Machtstellung der Militärs. Doch viele der Aktivisten des 6. Aprils sitzen bereits im Gefängnis.
Für die Übergangsregierung wird es darum gehen, mehr als die 18 Millionen Ägypter zur Teilnahme zu bewegen, die 2012 mitgestimmt haben, sowie mehr als die zwei Drittel Mehrheit zu erlangen, die Morsi's Verfassung annahm. Etwa 50 Millionen Ägypter sind wahlberechtigt. Die Kampagne mit Riesenplakaten für "Ja" hat in Kairo bereits begonnen. Es gibt auch schon eine Front für Ja-Stimmen, die von einem früheren Innenminster, Ahmed Gamal ed-Din, angeführt wird. Die salafistische Nour-Partei hat ebenfalls angefangen, für das "Ja"zu werben, obwohl der Verfassungsvorschlag sie als religiöse Partei nicht begünstigt.
Ein Wahlgesetz wird diskutiert
Darüber, in welcher Weise abgestimmt werden soll, schweigt die Verfassung. Sie sagt nur, ein gemischtes System aus Individualkandidaturen und Parteilisten sei möglich. Der provisorische Staatschef, der ehemalige Verfassungsrichter Adli Mansour, hat sich bereits mit ausgewählten Parteiführern darüber beraten, wie ein kommendes Wahlgesetz aussehen soll.
Manche Beobachter wollen wissen, dass den Offizieren ein Kompromiss zwischen Wahlen auf Grund von Parteilisten und solchen auf Grund individueller Kandidaturen vorschwebt. Möglicherweise zwei Drittel der Sitze für individuelle Kandidaturen, ein Drittel für Parteilisten. Individuelle Kandidaturen in Ägypten bedeuten, dass reiche und lokal einflussreiche Personen, zum Beispiel Grossgrundbesitzer, gute Wahlchancen erhalten. Das Gewicht der Parteien würde dementsprechend vermindert.