„Wir werden es schaffen“, sagt ein Mann in einer am Samstag publizierten Karikatur in der linksliberalen Zeitung „La Repubblica“. Und seine Frau fügt bei: „Und wenn nicht, dann werden wir es schaffen.“
Die treffende Karikatur sagt viel aus über den gegenwärtigen Gemütszustand der Italienerinnen und Italiener. Die Botschaft lautet: Auch in schweren Zeiten ist nicht alles verloren. Machen wir das Beste draus, lassen wir den Kopf nicht hängen. Irgendwann geht es ja wieder aufwärts.
Das italienische Volk ist längst nicht so lebensfreudig, wie es das Klischee will. Doch die Italienerinnen und Italiener haben schon längst gelernt, mit Krisen und Entbehrungen zu leben. Ihre Stärke ist es, am Abgrund zu stehen und „O sole mio“ zu singen. Während andere Völker in Lethargie und Selbstzerfleischung verfallen, versuchen sich die Italiener durchzuwursteln – und es gelingt ihnen immer: irgendwie. Und immer sehen sie irgendwo ein Licht am Ende des Tunnels.
60 Millionen im Hausarrest
Was jetzt allerdings über das Belpaese hereingebrochen ist, ist das Schlimmste seit dem Zweiten Weltkrieg. Seit zwanzig Jahren liegt Italien auf der Intensivstation – und jetzt noch das. Die Strassen sind leer, Restaurants, Schulen und Universitäten geschlossen – ebenso fast alle Läden. Die industrielle Produktion steht beinahe still. Die Börse ist abgestürzt. Das Land schlittert in eine neue Rezession, der wirtschaftliche Schaden ist gigantisch. Und das auf Jahre hinaus. Noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg hat ein Land derart dicht gemacht. 60 Millionen Menschen unter Hausarrest.
Und wie reagiert das Volk? Die Italienerinnen und Italiener sind nicht für solidarisches Benehmen bekannt. Man hilft und unterstützt die Familie, den eigenen Clan. Der Bankdirektor stellt anstatt eines fähigen Aussenseiters lieber einen unfähigen Cousin ein. Doch das Gemeinwohl interessiert wenige. Man hinterzieht Steuern, man wirft den Abfall irgendwo hin, an den Strassenrand oder in den Wald. Wer ausserhalb des eigenen Clans steht, der interessiert nicht; der soll selbst für sich sorgen.
Gnocchi für die Bedürftigen
Umso erstaunlicher ist es, was jetzt geschieht. Im Quartier Spagnoli in Neapel haben junge Leute einen Gratis-Lieferdienst eingerichtet. Sie beliefern alte Leute, die wegen der Ansteckungsgefahr nicht auf die Strasse sollten, mit Lebensmittel. Sie stellen die Pakete vor die Tür, klopfen und verschwinden.
In der Römer Altstadt kochen zwei junge Frauen von morgens bis abends Gnocchi und verteilen sie den Bedürftigen des Quartiers. Im Internet wurden Hotlines eingerichtet: Wer braucht was? Wie können wir helfen? „Zum Glück gibt es heute das Internet“, schreibt ein User auf Facebook. Da das öffentliche Leben fast stillsteht, hat man Zeit und will diese nutzen, um jenen zu helfen, die Hilfe brauchen. Tausende und Abertausende wollen helfen. In Rom treten zwei junge Männer als lustige Clowns in den Strassen auf. Sie bringen Kinder zum Lachen, die an den Fenstern hängen und zu Hause bleiben müssen.
Eine alte Frau ruft in Rom in die Gasse, dass ihr die Medikamente ausgegangen sind. Ein Polizist geht in die Apotheke und bringt ihr das Gewünschte.
Kein „chiacchierare“ wie früher
Die Regierung, die Polizei und die Medien fordern die Bevölkerung fast ultimativ auf, zuhause zu bleiben. Radio, Fernsehen und Zeitungen verbreiten unaufhörlich die gleiche Botschaft: Geht nicht aus dem Haus, wascht die Hände! Haltet Distanz, schüttelt keine Hände! Für die Italiener, die sich bei der Begrüssung gerne um den Hals fallen und auf die Wangen küssen, ist dies eine neue Erfahrung.
Das Trommelfeuer der Regierung und der Medien wirkt: Nur wenige gehen ins Freie. Die Italiener standen nie im Ruf, besonders diszipliniert zu sein. Und was geschieht jetzt? Im Supermarkt halten sie zwei Meter Abstand, stumm stehen sie an der Kasse, kein „chiacchierare“ wie früher. Wenn es um Leben und Tod geht, zeigt sich das Volk plötzlich erstaunlich diszipliniert.
Musik auf dem Balkon
In den Strassen patrouillieren Sicherheitskräfte. In einem toskanischen Städtchen wird Paolo, ein 75-jähriger Mann, von der Polizei angehalten und ultimativ aufgefordert, nach Hause zu gehen. Er habe doch nur ein Brot kaufen wollen, sagt er.
Viele versuchen aus der Not das Beste zu machen. Videos gehen um die Welt, die zeigen, wie in Neapel die Menschen auf den Balkonen stehen und gemeinsam musizieren.
Sie singen alte neapolitanische Lieder und machen sich Mut. Die Opernsängerin Laura Baldassari singt an ihrem offenen Fenster in Mailand ganze Arien.
Auch in Rom hängen die Menschen an den Fenstern, rufen sich zu, singen gemeinsam.
Aber natürlich ist nicht alles so romantisch. Viele Italienerinnen und Italiener sind niedergeschlagen, einige verzweifelt. Einige sind wütend: auf die Regierung, auf die Chinesen, auf irgendwen oder irgendwas. Viele haben kein Einkommen mehr, viele stehen vor dem Konkurs. Die Armen haben jetzt noch weniger. „Maledetta Italia. Wieso gerade wir? Wieder wir?“, fragen sich einige. „Wie haben wir das verdient?“ Und ein Priester in den Abruzzen weiss schon: „Gott will uns für unseren frivolen Lebenswandel bestrafen.“
Man hätte eben müssen
Italien wäre nicht Italien, wenn die Not nicht politisch ausgeschlachtet würde. Vor allem die rechtspopulistische Lega versucht, aus der Seuche Kapital zu schlagen. Lega-Chef Matteo Salvini wirft der Regierung vor, nicht energisch genug gehandelt zu haben – ausgerechnet er, der Ministerpräsident Conte zunächst vorwarf, hysterisch zu sein. Auch der dissidente Sozialdemokrat Matteo Renzi weiss plötzlich, was man alles hätte tun sollen.
Haben die Behörden versagt? Er stimmt, dass man ganz zu Beginn, als die ersten Fälle in Codogno in der Lombardei auftraten, der Seuche zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt hat. Aber man wusste damals einfach noch nicht, dass da etwas völlig Neues auf das Land zukam. Es wirkt im Nachhinein etwas einfach, zu sagen: man hätte eben müssen. Hätten andere Länder in Anbetracht dieser erstmaligen, einmaligen Situation anders reagiert? Man weiss es nicht.
Applaus für das Gesundheitspersonal
Als dann das Ausmass und die Gefährlichkeit von Corona ersichtlich wurde, hat Italien nicht allzu schlecht gehandelt. Die drastischen Massnahmen werden von den meisten beklagt, aber als nötig befunden. Auch das italienische Gesundheitswesen, das ja nicht den besten Ruf besitzt, hat gezeigt, dass es über sich hinauswachsen kann. Ganze Landstriche werden heute getestet. Für einmal spricht man in Italien nicht nur, sondern handelt.
Am Samstagmittag punkt 12 Uhr sind viele Italienerinnen und Italiener an ihre offenen Fenster oder auf ihre Balkone getreten. Sie applaudierten dem Gesundheitspersonal, das an vorderster Front gegen das Virus kämpft. Aufgerufen wurden sie via soziale Medien.
Überzeugender Ministerpräsident
Erstaunlich ist, dass man zurzeit in den sozialen Medien nicht allzu viel Kritik an der Regierung liest. In Zeiten der Not steht das Volk zusammen. Ministerpräsident Conte, der einst als unbedarfter „Pudel“ von Matteo Salvini galt, hat klar an Statur gewonnen. Seine fast täglichen, sachlichen Auftritte in den Medien tragen dazu bei, dass sich die Angst im Land in Grenzen hält.
Die Frage ist, was geschieht, wenn diese Situation lange andauert, wie dies auch italienische Virologen prophezeien. Verliert die Bevölkerung dann die Geduld? Wird dann die Regierung dafür verantwortlich gemacht, dass die Krise nicht bewältigt wird? Werden regierungsfeindliche Kreise dann die Gelegenheit nutzen, die Regierung zu stürzen?
Volksaufstand?
Schon gibt es Scharfmacher, die Horrorszenarien ausmalen. Was geschieht, fragen sie, wenn die Versorgung zusammenbricht, wenn die Supermärkte leer sind, wenn die Leute sogar hungern müssen? Kommt es dann zu einem Volksaufstand? Wird die Regierung dann durch ein autoritäres Regime ersetzt?
Kaum jemand glaubt, dass es dazu kommt. Italien ist eine festverankerte Demokratie. Und gerade in Krisensituationen übertrifft sich das Volk immer wieder.
Aus der Not das Beste machen
Was die Zukunft bringt, wird erst einmal verdrängt.
Vorerst machen viele aus der Not das Beste: Sie helfen sich, singen an den Fenstern, schauen fern, lesen Bücher, die schon lange ungelesen in den Büchergestellen standen, musizieren, skypen, telefonieren, kochen, schicken sich Messages und versenden – was das Zeugs hält – Selfies und Gruppenbilder der daheimsitzenden Familie. Allein sind im Zeitalter des Internets fast nur noch die alten Leute.
Kommentatoren glauben, dass das verordnete Zusammensein der Eltern dazu führen wird, dass die Geburtenrate in Italien endlich wieder steigt. Andere fürchten jedoch, dass die Quarantäne zu mehr häuslicher Gewalt führen wird.
Orlandos Tränen
Die Grosseltern spielen in italienischen Familien eine wichtige Rolle. Grossväter und Grossmütter haben oft eine enge Beziehung zu den Enkeln und Enkelinnen. Nicht nur das: Grosseltern übernehmen oft einen Teil der Rolle der arbeitenden Eltern. Jetzt dürfen sich die Alten und die Jungen wegen der Ansteckungsgefahr nicht mehr sehen.
Der zehnjährige Franceschino und der 74-jährige Orlando wohnen beide in einem Städtchen bei Siena. Via Skype plaudern sie täglich mehrmals lange miteinander. „Aber wir können uns nicht mehr umarmen und festhalten“, erzählt uns Orlando am Telefon. Dann bricht er in Tränen aus.
Romeo und Julia
Auch Anekdoten gibt es in Zeiten von Corona. Ein User erzählt diese Geschichte: Ein junger Mann hängt in Rom in seiner Gasse in der Altstadt am Fenster. Er bemerkt, dass in einem Haus quer vis-à-vis eine junge Frau lebt und ebenfalls am Fenster hängt. Er hat sie noch nie gesehen, ist fasziniert von ihr und ruft ihr zu. Doch wegen der grossen Distanz ist die Unterhaltung schwierig. So schreibt er ihr einen Brief, wirft ihn in die Gasse. Die junge Frau holt ihn – es ist ein Liebesbrief. Romeo und Julia in Zeiten des Virus. Se non è vero ...