Julian Assange und Edward Snowden drohen in den USA Gerichtsverfahren mit schwerwiegenden Konsequenzen, weil sie geheimdienstliche Informationen und fragwürdige Abhörmethoden publik machten. In einer funktionierenden Demokratie müssen solche Whistleblower-Aktivitäten grundsätzlich möglich sein. Wer sie gnadenlos verfolgt, leitet Wasser auf die Mühlen der Putin- und Xi-Propagandisten.
Der australische Staatsangehörige Julian Assange wartet in diesen Tagen in einem Londoner Gefängnis auf einen Richterentscheid darüber, ob seine Anwälte gegen eine Auslieferung an die USA weitere Einsprachen geltend machen können. Der amerikanische Bürger Edward Snowden lebt seit 11 Jahren mit seiner Familie in Moskau. Dorthin ist er geflüchtet, um sich einer Auslieferung an die US-Justiz zu entziehen, die ihm ein Gerichtsverfahre wegen seiner Enthüllungen über die weltweite Überwachung des Telefon- und Internetverkehrs durch die NSA (National Security Agency) androht.
Snowden und Ellsbergs Pentagon Papers
Nach allem was man über die sich seit mehr als einem Jahrzehnt hinziehende Saga der beiden prominenten Flüchtlinge und Digitalspezialisten weiss, handelt es sich bei Assange und Snowden über ziemlich unterschiedliche Persönlichkeiten. Snowden vermittelt den Eindruck eines gradlinigen, ernsthaften Idealisten, der einige Jahre als IT-Fachmann für verschiedene Firmen tätig war, unter anderem eine Zeitlang in Genf. Als NSA-Mitarbeiter bekam er jedoch Zweifel an der Rechtmässigkeit von deren unkontrollierten globalen Überwachungsmethoden.
Ähnlich wie der damalige Sicherheitsexperte Daniel Ellsberg, der 1971 Dokumente über manipulierte Informationen des Pentagon und des Weissen Hauses während des Vietnamkrieges kopiert und der «New York Times» übergeben hatte, informierte Snowden über einen Mittelsmann verschiedene westliche Medien anhand von internen Dokumenten über die geheime Abhörtätigkeit der National Security Agency.
Durch die 2013 veröffentlichten Enthüllungen erfuhr die Öffentlichkeit unter anderem, dass dieser US-Geheimdienst selbst die Telefone befreundeter Regierungschefs wie der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel anzapfte, was nicht nur in Europa Empörung verursachte. Um einer Verhaftung und Auslieferung nach den USA zu entgehen, flüchtete Snowden nach Moskau, wo man ihm zuerst temporäres Asyl und später die russische Staatsbürgerschaft gewährte. Dort lebt der heute 40-jährige seither mit seiner Frau und später geborenen zwei Kindern.
Offenbar ist Snowden aber kein ideologischer Eiferer oder unkritischer Anhänger des Putin-Regimes geworden. Jedenfalls hat er in einem langen Interview mit der «Zeit» vor vier Jahren den damals vom russischen Geheimdienst inszenierten Vergiftungsanschlag gegen den Putin-Kritiker Nawalny klar verurteilt und sich sehr kritisch über die Verfolgung von Oppositionellen in diesem Land geäussert. Aus welchen Gründen auch immer ist bisher jedoch keine Stellungnahme des prominenten US-Flüchtlings zum Tod Nawalnys bekannt.
Wichtig im Zusammenhang mit dem Fall Snowden und dessen Enthüllungen über die schrankenlosen Überwachungsmethoden von US-Geheimdiensten ist der Hinweis, dass der Oberste Gerichtshof in den USA später die Veröffentlichung geheimer Pentagon Papers durch Ellsberg zum Vietnamkrieg als verfassungsmässig zulässig beurteilte. Der damals von der Regierung Nixon gegen Ellsberg angestrebte Strafprozess kam nicht zustande – unter anderem deshalb, weil sich herausstellte, dass die Regierung den Whistleblower zuvor illegal überwacht hatte.
Assange – kein Unschuldslamm
Im Fall des Australiers Julian Assange gibt es zwar einige Parallelen und Überschneidungen zum Fall Snowden, aber auch wesentliche Unterschiede. Der Wikileaks-Gründer ist eine problematischere und jedenfalls in verschiedener Hinsicht umstrittenere Persönlichkeit als Snowden. Er hatte sich als Computer-Hacker spezialisiert und ist wegen solcher Aktivitäten schon 1996 in seinem Heimatland verurteilt worden. Als Kopf der Enthüllungsplattform Wikileaks hat er sich mit einer Reihe enger Mitarbeiter tief zerstritten. 2010 wurde von Schweden im Zusammenhang mit Vergewaltigungsvorwürfen ein internationaler Haftbefehlt gegen ihn erlassen. Um einer Festnahme zu entgehen, flüchtete er 2012 in London in die ecuadorianische Botschaft, wo er sieben Jahre lang ausharrte. Schweden hat die Untersuchung gegen ihn wegen Verjährung eingestellt und die schwedische Anklägerin hat ihm öffentlich verziehen.
Inzwischen hatte aber die amerikanische Regierung unter Donald Trump seine Auslieferung beantragt, und zwar im Zusammenhang mit der Veröffentlichung von Hunderttausenden von unredigierten klassifizierten Dokumenten über die US-Kriegsführung in Afghanistan und im Irak. Diese Dokumente waren ihm vom damals in Bagdad stationierten Soldaten Edward Manning zugespielt worden. Teilweise soll Assange diese IT-Spezialistin auch dazu angeleitet haben, verschlossene Computernetze der US-Army zu hacken. Manning wurde in den USA zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt. Dieser Kollaborateur hat inzwischen sein Geschlecht geändert und nennt sich jetzt Chelsea Manning. Präsident Obama hat sie am Ende seiner Amtszeit begnadigt.
Es geht auch um demokratische Glaubwürdigkeit
2019 wurde Assange das Exilrecht in der ecuadorianischen Botschaft entzogen und seither sitzt er in einem Londoner Untersuchungsgefängnis, wo britische Richter über seine mögliche Auslieferung nach den USA entscheiden sollen. Weshalb diese Entscheidung seit fünf Jahren auf sich warten lässt, bleibt für einen normalen Zeitgenossen kaum erklärbar. Der inzwischen 53-jährige Gefangene soll physisch und psychisch stark angeschlagen sein. Er ist jetzt mit seiner südafrikanischen Anwältin liiert und hat mit ihr zwei Kinder.
Sind Edward Snowden und Julian Assange nun zwei Kriminelle, die schwere Gesetzesbrüche begangen haben und dem amerikanischen Staat gewaltigen Schaden zugefügt haben, was eine langjährige Gefängnisstrafe, die bei einem Prozess theoretisch möglich wäre, rechtfertigen würde? Lässt man den widersprüchlichen, verwickelten juristischen Filigran beiseite und urteilt stattdessen nach Kriterien eines liberalen Gesellschaftsverständnisses und des politischen Pragmatismus, so drängt sich in beiden Fällen das Fazit auf: Snowden und Assange sind tolerierbare Whistleblower und keine Staatsverbrecher. Sie haben im Kern Praktiken und Eingriffe von staatlichen Stellen an die Öffentlichkeit gebracht, die mit einer glaubwürdigen Demokratie ohne nachvollziehbare legislative Kontrolle über längere Zeiträume hinweg nicht vereinbar sind.
Die globale Überwachung des Telefon- und Internetverkehrs durch die NSA stützt sich zwar auf den sogenannten Patriot Act, der nach dem Terroranschlag von 9/11 vom Kongress aus damals vielleicht verständlichen Motiven erlassen worden war. Doch die Öffentlichkeit war über diese Bestimmung nie informiert worden und die NSA hatte in einer Anhörung solche pauschalen Daten-Fischzüge rundweg bestritten, wie die renommierte amerikanische Historikerin Jill Lepore schon vor Jahren in einem langen Beitrag für den «New Yorker» argumentierte.
Australien fordert die Freilassung ihres Staatsbürgers Assange
Dass der Whistleblower Edward Snowden, der diese demokratisch fragwürdigen Praktiken für die Öffentlichkeit aufgedeckt hat, ausgerechnet in Moskau, der Hauptstadt von Putins repressivem Unrechtsstaat seit über zehn Jahren Zuflucht vor dem Zugriff der amerikanischen Justiz suchen musste, entbehrt nicht der bitteren Ironie. Der US-Kongress oder Präsident Biden sollte ihm im Interesse der eigenen Glaubwürdigkeit zumindest freies Geleit in seine Heimat zubilligen, damit er dort unbedroht vor möglicherweise unbegrenzter Haft die Gründe für seine vielleicht nicht restlos legale, aber im Interesse demokratischer Transparenz vertretbare Aufklärung darlegen kann.
Auch der dubiosere Whistleblower Assange verdient von Seiten der USA eine gnädigere Perspektive als die Aussicht auf eine möglicherweise drakonische Haftstrafe. Schliesslich wird er wegen seiner Veröffentlichung von Geheimdokumenten über die mit unwahren Behauptungen begründete US-Militärintervention im Irak bereits seit fünf Jahren in einem Londoner Hochsicherheitsgefängnis gefangen gehalten. Nicht von ungefähr fordern inzwischen Australiens Regierung und Parlament von London die Freilassung ihres Staatsbürgers.
Die Krokodilstränen der Putin-Claqueure
Und schliesslich sollte im weltpolitischen Kontext nicht übersehen werden, dass sich totalitäre Machthaber à la Putin und Xi Jinping die Hände reiben über solche endlosen Whistleblower-Verfolgungen, die sich unschwer als süffige Propaganda-Geschichten zur Diskreditierung westlicher Meinungs- und Pressefreiheit ausschlachten lassen. Rührige Putin-Claqueure in London, Berlin, Zürich und anderswo vergiessen denn auch wieder einmal schwere Krokodilstränen über die angebliche Heuchelei westlicher Medien, von denen sie entgegen allen Fakten behaupten, diese kümmerten sich keinen Deut um Assanges Schicksal. Stattdessen, so das Lamento der Putin-Apostel, kapriziere sich die «Mainstream-Presse» allein darauf, den Tod des russischen Regimekritikers Nawalny dem «missverstandenen» Kremlchef in die Schuhe zu schieben.