Ob den Kreml-Chef das vor allem im Westen dröhnende Echo auf den Moskauer Schauprozess gegen die drei Punk-Rockerinnen und deren Verurteilung zu je zwei Jahren Straflager überrascht hat, wissen wir nicht genau. Doch spätestens nachdem er in London beim Besuch der Olympischen Spiele von den Medien auf dieses Thema angesprochen worden ist, sollte ihm geschwant haben, dass dieser Prozess nicht bloss eine innere russische Angelegenheit bleiben werde.
Was das Ausland denkt ist gleichgültig
Hätte er da nicht veranlassen können, dass der Prozess glimpflich endet und die Angeklagten mit einer Busse oder einer bedingten Strafe davonkommen? Jedermann in Russland und ebenso im Ausland geht davon aus, dass es nur eines Winkes von Putin bedurft hätte, um das Gericht zu einem milden Spruch zu veranlassen.
Dass die russische Justiz in Fällen mit politischer Signalwirkung in der Ära Putin nicht unabhängig ist, weiss man durch eine Reihe offenkundig manipulierter oder verschleppter Verfahren (die zweimalige Verurteilung des früheren Oligarchen Chodorkowski, eine Reihe von nicht aufgeklärten Morden an unbequemen Journalisten und Menschenrechtsaktivisten wie Anna Politowskaja oder Natalia Estemirowa usw.)
Warum also hat Putin im Falle der Pussy Riot-Aktion in der Moskauer Christi-Erlöser-Kirche, die gerade mal 40 Sekunden dauerte und die man ja auch als einen eher unbedarften Jugendstreich auffassen kann, nicht ein sanftes Urteil bestellt, um so dem Mediengetöse im Ausland den Wind aus den Segeln zu nehmen? Ein Schweizer Bekannter, der seit vielen Jahren mit seiner Familie in Russland lebt und dort auch ein Unternehmen betreibt, ist überzeugt, dass dem Kreml-Chef das Urteil des Auslandes völlig gleichgültig sei. Die Empörung im Westen werde ihn ja keineswegs daran hindern, als Staatschef in der Welt herumzureisen und als Staatschef eines rohstoffreichen Landes überall mit dem roten Teppich empfangen zu werden.
Dieser Russlandkenner hält Putin für einen nachträgerischen Neurotiker, der je länger er herrsche, desto unfähiger werde, je eine persönliche Kränkung oder einen persönlichen Angriff zu vergessen und zu verzeihen.
Persönliche Kränkungen
An dieser letzteren Erklärung ist wohl etwas dran. Die Gnadenlosigkeit, mit der Putin etwa den früheren Oligarchen Chodorkowski von der Justiz seit neun Jahren Jahren durch offenkundig von oben manipulierte Verfahren hinter Gittern hält, trägt neben dem Einschüchterungseffekt Züge einer persönlichen Vendetta. Chodorkowski hatte es bei mindestens einem Treffen mit dem Kremlchef in Anwesenheit anderer Geschäftsleute gewagt, sich über die atemraubende Korruption im Staatsapparat zu beklagen und dies als ein Grundübel für die russische Wirtschaftsentwicklung angeprangert. Putin scheint das als unverschämte Herausforderung seiner Autorität empfunden zu haben. Dafür soll der frühere Ölmagnat nun endlos büssen.
Auch das „Punkgebet“, das die drei Pussy Riot-Aktionistinnen in der Moskauer Kirche rezitierten und in dem es heisst: „Muttergottes, erlöse uns von Putin“, dürfte der nachträgerische Kremlherr als unverzeihliche persönliche Kränkung registriert haben.
Prägungen des langjährigen KGB-Agenten
Doch es gibt noch ein anderes Moment, das Putin offenbar daran hinderte, die skurrile Punk-Affäre tiefer hängen zu lassen. Es ist die tiefsitzende Prägung als langjähriger KGB-Agent. Seine ganze berufliche Karriere bis zum – von ihm in als traumatisch empfundenen – Zusammenbruch der Sowjetunion hat er im Dienste des sowjetischen Geheimdienstes absolviert. Er selber hatte sich, wie er in einer biographischen Skizze schilderte, schon als junger Bursche freiwillig beim KGB in seiner Vaterstadt St. Petersburg gemeldet.
Später war er fünf Jahre lang Agent in der DDR. Als Präsident Jelzin ihn von St.Petersburg nach Moskau holte, stieg er schnell zum neuen Chef des FSB - dem umbenannten KGB - auf, ehe ihn Jelzin unerwartet zu seinem Nachfolger beförderte.
Aus der Haut der KGB-Mentalität, zu der ein pathologisches Misstrauen und entsprechende Überreaktionen gegenüber allem gehört, was sich der allumfassenden staatlichen Kontrolle entzieht, kommt Putin offenkundig nicht heraus. Von den eingeschliffenen Reflexen dieser autoritären Denkart ist Putin beherrscht, wenn es um echte oder vermeintliche Herausforderungen der Staatsmacht und ihrer vertikalen Ordnung mit dem Kremlchef an der Spitze geht.
Es gibt zwei Russlands
In gewissem Sinne untergräbt Putins durch seine Unfähigkeit, sich von dieser Fixierung auf die engen sowjetischen Denkschemen in gesellschaftspolitischen Fragen zu lösen, seine eigene Autorität und damit langfristig auch seine Machtposition. Denn die heutigen Realitäten in der russischen Gesellschaft sind längst nicht mehr die gleichen wie zu sowjetischen Zeiten.
Der Vater der angeklagten Punkerin Jekaterina Samuzewitsch hat es beim Prozess in Moskau auf den Punkt gebracht: Es gibt inzwischen zwei Russlands, und diese sind im Gerichtsfall Pussy Riot zusammengeprallt. Auf der einen Seite der liberale Teil der Bevölkerung, in dem viele Englisch sprechen, auf Facebook kommunizieren und für die Punkrock kein Schimpfwort sei. Auf der andern Seite der vorläufig noch grössere Bevölkerungsteil, dessen Meinung per Staatsfernsehen lenkbar ist und die Putin wählen, weil er Stabilität verspreche.
Kein Zurück in die „lupenreine Diktatur“
Diese Beschreibung ist bei aller Vereinfachung durchaus wirklichkeitsnah. Und trotz der verschärften staatlichen Repression hat man den Eindruck, dass die liberalen Teile der Bevölkerung, die sich nicht mehr von der Staatsmacht und seinen Propagandisten das eigene Denken und die eigene Informationsbeschaffung vorkauen lassen, sich ungleich vitaler ausbreiten, als die braven Massen der Putin-Herde.
Der in Berlin lebende russische Autor Wladimir Kaminer hat deshalb auch die These des „Spiegel“, Russland sei „auf dem Weg in die lupenreine Diktatur“ energisch zurückgewiesen. Nach den Erfahrungen mit halbdemokratischen Praktiken und einer offeneren Gesellschaft sind die Russen „nicht dumm genug, sich einer neuen Diktatur zu beugen“, meint Kaminer. „Man kann die Zahnpaste nicht zurück in die Tube drücken.“ Das dürfte zumindest für den liberalen, weltoffenen, gebildeteren und in vieler Hinsicht auch aktiveren Teil der russischen Gesellschaft gelten.
Fehlende Grösse
Hätte Putin die souveräne Grösse und Weisheit gezeigt, sich nach acht Jahren als Präsident und vier Jahren als Ministerpräsident (Medwedew war nur nominell der oberste Chef) von der politischen Bühne zurückzuziehen, wäre sein Bild als eine im Ganzen positive Figur in den russischen Geschichtsbücher wohl gesichert. Doch zu solcher Weitsicht ist der zunehmend in überholten Denkschablonen erstarrte Ex-KGB-Agent nicht mehr fähig. Nach den stabilisierenden Anfangserfolgen seiner Präsidentschaft kommt Russland unter seiner Führung in Richtung einer innovativen, wirtschaftlich diversifizierten, nicht einseitig vom Rohstoff-Export abhängigen Gesellschaft nicht voran.
Dazu sind breitere Entfaltungsmöglichkeiten und Freiräume für den liberalen, weltoffenen und ideenreichen Teil der russischen Bevölkerung unumgänglich. Aber weil Putin zunehmend unfähiger wird, über die langen mentalen Schatten seiner KGB-Vergangenheit zu springen, läuft seine Politik immer mehr auf Konfrontation mit den kreativen Kräften der Gesellschaft hinaus. Für den – möglicherweise langjährigen - Rest seiner Karriere als Kremlchef bedeutet das keine gute Prognose.