Das grossformatige, gewichtige Buch, das ich in Händen halte, ist ein Konzentrat jener im Wortsinn weltbewegenden Unternehmung, die 1751 ihren Anfang nahm und 21 Jahre später abgeschlossen werden konnte. „L´Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers“, in Paris initiiert, zu einem grossen Teil redigiert und herausgegeben vom französischen Philosophen und Literaten Denis Diderot und einem seiner Freunde, dem Mathematiker Jean-Baptiste d´Alembert, enthält 17 000 Artikel, die manchmal nur wenige Zeilen, dann wieder mehrseitige Essays umfassen; dazu kommen 3000 Seiten mit Farbtafeln, akkurat geprägte Kupferstiche, mit denen versucht wird, grosse Teile des damals bekannten und erforschten Wissens in allen möglichen Bereichen anschaulich zu machen. Der Dualismus von Schrift und Bild entspricht dem Credo der Aufklärer, die das Zusammenwirken von Vernunft und Sinnlichkeit, Intelligenz und Herz, Abstraktem und Konkretem, Ethik und Aesthetik als notwendig erachteten, um neue Erkenntnisse zu erlangen.
Ein Grosserfolg
Die „Encyclopédie“ wurde schnell zum europäischen Bestseller, soll sich im 18.Jahrhundert 25 000 Mal verkauft haben, eine für damalige Verhältnisse beeindruckende Zahl, und das trotz widriger Umstände: Der monarchische Staat und vor allem die allmächtige katholische Kirche verfolgten das Unternehmen von Anfang an mit unverhohlenem Misstrauen, übten Zensur (die Kirche setzte das Werk auf den Index), versuchten die sogenannten Enzyklopädisten, in denen sie gefährliche Freigeister sahen, einzuschüchtern. Zeitweilig arbeiteten über 150 namentlich erwähnte Autoren am Mammutwerk, darunter berühmte Namen wie Voltaire, Rousseau, Montestquieu. Daneben gab es viele anonyme Beiträger.
Die Seele des Werks war Diderot, in dem sich alles, was Aufklärung (und da vor allem die französische Spielart) meinen kann, ideal verkörpert. Zu seinem 300. Geburtstag im Oktober 2013 ist im Verlag „die andere Bibliothek“ ein Prachtband erschienen, der sich „Diderots Enzyklopädie“ nennt und eine Auswahl von Artikeln enthält – durchs ganze Alphabet hindurch; dazu kommen, thematisch geordnet, die Kupferstiche in druckgraphisch bestechender Qualität. Ob die Herausgeber, Anette Selg und Rainer Wieland, die richtige Auswahl getroffen haben, kann natürlich nur beurteilen, wer das Gesamtwerk kennt und präsent hat. Jedenfalls nimmt sich die zusammengestellte Textsammlung als gut abgestimmte Mischung von vielerlei Elementen und Disziplinen aus – und die Zentnerstücke fehlen nicht. Als sehr gelungen darf man die Uebetragungen aus dem Französischen bezeichnen. Holger Fock, Theodor Lücke, Eva Moldenauer und Sabine Müller retten einen schönen Teil der stilistischen Brillanz - Eleganz, Witz und Ironie - , die vielen der Enzyklopädisten (und vor allem ihren Wortführern) zu eigen war, ins deutsche Idiom hinüber und verleihen im übrigen den einzelnen Artikeln jene etwas altmodisch wirkende Patina, die ihnen gut ansteht.
Virtuosen im Miteinbeziehen
Die drei letzten Wörter, die uns die beiden Herausgeber in ihrem Vorwort mitgeben, bevor wir uns ans Stöbern, Blättern, Lesen machen, lauten: „…Anstiftung zum Selberdenken“. Und genau das ist es, was es auch im Jahr 2014 zu einem Vergnügen macht, sich in Texte zu vertiefen, die vor über zwei Jahrhunderten erdacht und verfasst wurden. Die Abschnitte, die sich mit den praktischen Seiten menschlicher Existenz oder mit Zoologie, Botanik, Anthropologie befassen, sind häufig veraltet, manchmal bewusst oder unfreiwillig komisch und lassen sich allenfalls als Kuriositätenschau inspizieren. Was man aber in den abstrakteren, in den philosophischen, politischen oder ethischen Passagen liest, bringt einen fast automatisch dazu, die Dinge, die verhandelt werden, weiterzudenken. Für echte Philosophen gehört ja diese aus der Antike stammende Tugend sowieso zum Rüstzeug des Metiers: dem Gegenüber, dem Diskussionspartner, dem Leser und der Leserin werden keine Gewissheiten, keine Dogmen, keine Glaubensaxiome eingetrichtert, sondern Angebote gemacht, die sie prüfen können und sollen.
Diderot und seine Mitstreiter waren - mündlich, wie man aus überlieferten Zeugenberichten weiss, und schriftlich – Virtuosen im Miteinbeziehen von Gesprächspartnern, im Anschieben von Denkprozessen, in die sie das Gegenüber einzuspannen wussten. Springt man bei der Lektüre der Enzyklopädie von Begriff zu Begriff, wird man immer wieder auf Definitionen, Analysen, Beschreibungen stossen, die in Fragen, manchmal in einem wahren Feuerwerk von Fragen an den Leser kulminieren. Natürlich sind das oft auch rhetorische Kunststücke, also nur zum Schein gestellte Fragen, wie sie dem Rede- und Schreibstil der Zeit entsprachen. Aber es ist erstaunlich, wie leicht es gelingt, solche Fragen und die damit zusammenhängenden Ungewissheiten für bare Münze zu nehmen und festzustellen, dass sie ganz selbstverständlich den eigenen Denkapparat in Gang setzen.
Subversive Strategien
Nimmt man sich einzelne Passagen vor, wird man als erstes die leidenschaftliche Neugier und Wissbegier wahrnehmen, für die Diderot bekannt war, die er seinen Mitstreitern zu vermitteln wusste und die man, ohne zu übertreiben, grenzenlos nennen darf. Diderot selber kann sich in seinen Beiträgen mit ebensolcher Eloquenz der „Schokolade“ annehmen wie er unter dem Stichwort „gezinkt“ über Spielbetrüger nachdenkt oder über das Wort „nichts“ in abgründigen Perioden räsonniert. Voltaire, der Meister der Ironie, steht ihm nicht nach, wenn er über „Eleganz“ oder über das kleine Wort „leicht“ schreibt: in einer brillanten Spielerei rund um den Begriff „glücklich“ entfaltet er seine ganze stilistische Kunstfertigkeit.
Die ständigen Bedrohungen, denen die Enzyklopädisten ausgesetzt waren, zwangen sie zu subtilen Strategien, um das, was ihnen im Kopf sass und am Herzen lag einbringen zu können. So werden ihre glaubens- und staatskritischen, ihre politischen Ueberlegungen mit Zündstoff für die damalige Zeit oft hinter harmlos klingenden Begriffen versteckt oder (eine subversive Taktik) mittels Querverweisen an den Leser gebracht. Es wird, um ein Beispiel zu nennen, nach einer Erklärung des Begriffs „Menschenfresser“ auf „Eucharistie“, „Kommunion“, „Altar“ hingewiesen, was zwangsläufig, wenn man die Sache zu Ende denkt, zu einer eher unchristlichen Betrachtungsweise katholischer Ueberzeugungen führen muss.
Die Zentnerstücke fehlen nicht in der Auswahl. Schlägt man sie nach, lässt sich ermessen, um was es den Autoren des Riesenwerks ging, wie sie ihre Aufgabe zu bewältigen suchten, mit welchen Voraussetzungen, mit welchen Absichten und Zielvorstellungen sie vorgingen. Berühmt ist der unter dem Stichwort „Enzyklopädie“ ins Buch aufgenommene Essay Diderots, in dem er seine Unternehmung beschreibt und begründet. Fast noch luzider und für uns Nachgeborene aufschlussreicher wirkt und liest sich Diderots ausführliche Abhandlung über den Begriff „Eklektizismus“. Darin bekennt er sich zu dieser oft abwertend gemeinten Methode des Denkens, die es vermeidet ein schlüssiges philosophisches System zu entwerfen und es stattdessen vorzieht, sich überall zu bedienen, selbständig zu prüfen zu überdenken, statt Autoritäten zu vertrauen und nachzueifern. Diderot war ein genialer Eklektiker und die Enzyklopädie ist das Resultat eines solchen in alle nur möglichen Richtungen ausschwärmenden, möglichst vorurteilslosen Denkens.