Die doppelte Grossoffensive richtet sich einerseits gegen Ramadi, die Hauptstadt der westlichen Wüstenprovinz Anbar. Gleichzeitig wird die in Beiji liegende Ölraffiniere ins Visier genommen; sie ist die grösste des Irak.
Beide Ziele sind seit Monaten umkämpft. Der Ort Beiji hat seit Juni 2014, als Mosul fiel, mehrmals die Machthaber gewechselt, und die Raffinierie wurde von Kämpfern des IS belagert.
Ramadi seinerseits war schon zu Beginn des Jahres 2014 - vor der Einnahme Mosuls durch den IS - zusammen mit der benachbarten Stadt Falluja vom IS überfallen und teilweise besetzt worden. Die Stämme von Anbar, die sich mit dem IS verbündet hatten, unterstützten zwar die IS-Kämpfer bei ihren Feldzügen und stellten ihnen grössere Truppenkontingente zur Verfügung. Sie verlangten dann aber, im besetzten Ramadi mitzuregieren.
Der Regierung von Bagdad, zunächst noch unter Nuri al-Maliki, gelang es nicht, Ramadi und Falluja zurückzuerobern und ganz zu kontrollieren. Doch in Ramadi konnten die Regierungstruppen, Teile der Innenstadt mit den Regierungsgebäuden halten.
Massenflucht
Bei der neuen euphratabwärts gerichteten Offensive des „Islamischen Staats“ gelang es den IS-Kämpfern, drei Dörfer rund um Ramadi in ihre Gewalt zu bringen: Albu Ghanim, Soufiya und Sijariya. Die IS-Milizen stehen jetzt offenbar zwei Kilometer vor den zentral gelegenen Regierungsgebäuden. Sie liegen jetzt in Reichweite der leichten Artillerie des IS.
Schon in den letzten Monaten waren viele Bewohner aus Ramadi geflüchtet. Die neue Offensive des IS hat nun zu einer eigentlichen Massenflucht geführt. 90‘000 Menschen sollen in den letzten Tagen geflüchtet sein.
Zuerst Anbar
Bei den Kämpfen um Ramadi geht es um die Zukunft der gesamten Wüstenprovinz Anbar. Nach dem Fall von Tikrit hatte die Regierung in Bagdad erklärt, nächstes Ziel sei die Rückeroberung von Anbar. Tatsächlich müssen die Regierungstruppen und ihre Verbündeten zunächst die Kontrolle über Anbar gewinnen, bevor sie eine Offensive auf Mosul starten können.
Anbar hat strategische Bedeutung. Von dieser weiten Wüstenprovinz aus könnte der vorwiegend sunnitische IS von Westen her Bagdad angreifen – aber auch die grossen schiitischen Städte und Heiligtümer wie Hilla, Kerbela und Najaf. Solange die Westflanke und die eigenen Kerngebiete nicht gesichert sind, kann es sich Bagdad nicht leisten, grössere Truppenverbände in den Norden zu schicken, um Mosul anzugreifen.
Die schwankende Loyalität der Stämme
Die Machtverhältnisse in der Anbar-Wüste sind unübersichtlich. Die Stämme haben dort das Sagen. Einige von ihnen halten zur Regierung. Doch dabei soll es sich um eine Minderheit handeln. Die meisten stehen auf Seiten des „Islamischen Staats“ - teils aus Angst und Abneigung gegen die schiitischen Sicherheitskräfte der Regierung, die noch immer in Bagdad den Ton angeben, teils wohl auch aus Angst vor den IS-Milizen.
Die Terrorgruppe hat deutlich gemacht, dass sie alle jene, die nicht oder nicht mehr mit ihr zusammenarbeiten, als Verräter einstuft – und Verräter werden getötet. Verschiedene Massaker an Beduinenstämmen, die sich gegen den IS aufgelehnt hatten oder sich nach anfänglicher Zusammenarbeit wieder vom IS zu lösen versuchten, haben dies deutlich gemacht.
Saddams Stammesfachleute im Einsatz
Innerhalb der Stämme gibt es Rivalitäten verschiedener Gruppen und Clans. Zudem sind die Stämme oft untereinander verfeindet. Den Fachleuten des „Islamischen Staats“ gelingt es immer wieder, sich der Meinungsverschiedenheiten innerhalb und zwischen den Stämmen zunutze zu machen. Diese „Fachleuten“ sind Spezialisten, die schon für Saddam Hussein Stammespolitik betrieben haben. Die meisten von ihnen sind zum IS gestossen. Dabei handelt es sich um ehemalige Offiziere, Geheimdienst-Mitarbeiter und Stammesfachleute der früheren Baath-Partei. Diese ist von den Amerikanern aufgelöst worden.
Weil der IS über derartige Kapazitäten verfügt und weil es der Führung des Kalifates offensichtlich sehr klar ist, dass sie eine neue «Sahwa» der Stämme vermeiden muss, ist Anbar ein politischer und militärischer Kampfplatz, in dem die politischen Erfolge und Rückschläge noch wichtiger sind als die militärischen Entwicklungen.
Bisher keine Stammesfront
«Sahwa» (Erweckung), nannten die Amerikaner den Aufstand der Stämme von Anbar nach 2008. Von dieser Revolte der Stämme, die zu einem Umschwung der Machtverhältnisse im damaligen Irak geführt hatte, konnten die Amerikaner profitieren.
Bisher ist keine neue «Sahwa» in Sicht. Die Voraussetzungen dafür fehlen. Nicht nur weil es dem IS gelingt, seine eigene Stammespolitik zu betreiben, sondern auch weil das Misstrauen der Stämme gegenüber Bagdad gewachsen ist.
Die Versprechungen, die zur amerikanischen Zeit den «Sahwa»-Kämpfern gemacht worden waren, wurden von der Maliki-Regierung nie eingehalten. Dies hat heute zur Folge, dass die Stämme den Versprechungen aus Bagdad nicht glauben.
Keine Waffen für die Stämme
Die Mehrheit der Stämme wäre wohl nur dann zu gewinnen, wenn sie von der Zentralregierung nicht nur Versprechen erhielten, sondern Gelder und Waffen – gewissermassen als Vorauszahlung. Doch Waffen will das Parlament in Bagdad den Stämmen nicht liefern. Die schiitische Mehrheit der Abgeordneten fürchtet, dass die vorwiegend sunnitischen Stämme diese Mittel verwenden könnten, um sich von Bagdad zu trennen.
Wenn die Stammesführer aber keine ernsthafte Aufrüstung von Bagdad erwarten können, verlieren sie ihren Einfluss bei ihren Gefolgsleuten. Diese wollen sich nicht – ohne Waffen – gegen den „Islamischen Staat“ auflehnen – und sich dann töten lassen. Es ist deshalb anzunehmen, dass die Kämpfe in Anbar zugunsten des IS verlaufen werden. Ramadi bietet den Zugang zur Provinz.
Truppen binden
Beiji im Tigristal, etwas oberhalb von Tikrit gelegen, ist ein Kampfplatz, der für die Regierungstruppen günstiger liegt. Dort lassen sich mit konventionellen militärischen Mitteln Erfolge erzielen. Wie weit allerdings die Raffinerie, eine riesige Industrieanlage, noch brauchbar sein wird, nachdem sie zum zentralen Kampfplatz geworden war, steht auf einem anderen Blatt.
Vermutlich versucht der „Islamische Staat“ Regierungstruppen in Beiji am Tigris in Kämpfe zu verwickeln und zu binden – Truppen, die dann in Anbar beim Vormarsch des IS fehlen werden.