Nicht über die herkömmlichen Medien, sondern über Facebook und Twitter-Einträge von Freunden habe ich vor gut zwei Wochen zuerst von der Besetzung des Gezi Parks in der Nähe des Taksim Platzes in Istanbul erfahren. Denn Türkische Medien, einschliesslich CNN Türkei, der türkische Tochtersender von CNN International, haben in einer Art Selbstzensur, anstatt über die Ereignisse zu berichten, Tier-Dokumentationen und Kochsendungen ausgestrahlt.
Eigentlich hatte alles friedlich angefangen: Eine Gruppe von jungen Umweltschützern hatte sich spontan im Park versammelt, um gegen dessen Zerstörung und den Bau eines Einkaufszentrums zu protestieren. Eine Aktion, die in einer demokratischen Gesellschaft als Ausdruck der freien Meinungsäusserung gewertet werden würde.
Vom Umweltprotest zum Volksaufmarsch
Nicht so in der Türkei. Statt das Recht auf Versammlungsfreiheit dieser jungen Menschen zu respektieren, die sich für den Erhalt eines der letzten grünen Flecken Erde in einer ansonsten zubetonierten Stadt einsetzten, griffen die Polizisten die Demonstranten mit Tränengas und physischer Gewalt an. “Als die Polizei auch noch versucht hat, unsere Zelte in Brand zu setzen, war der Punkt erreicht, wo sich die Umweltprotestaktion in einen wahren Volksaufmarsch verwandelt hat”, berichtet ein junger Mann, den ich im Gezi-Park vor einem der vielen Zelte antreffe, die bis vor kurzem den ganzen Platz bedeckt haben.
An jenem Abend des 7. Juni herrscht eine ausgelassene Stimmung im Park. Ich bin extra aus London angereist, um mir vor Ort ein eigenes Bild des Geschehens zu machen. Als Kind von türkischen Immigranten in der Schweiz geboren und aufgewachsen, habe ich zwar die meiste Zeit meines Lebens ausserhalb der Türkei verbracht. Dennoch empfinde ich eine tiefe Verbindung zu dem Land, das mein Vater aus politischen Gründen in den 80er Jahren verlassen musste - damals, als das Militär intervenierte, um dem Kampf der Zivilregierung gegen linke und rechte Studentengruppen ein Ende zu setzen und „Ruhe und Ordnung“ zu schaffen.
Anruf vom besorgen Vater
Kaum im Gezi-Park angekommen, klingelt mein Telefon. Es ist mein Vater. Ich solle mich in Acht nehmen. Schliesslich seien am Taksim Platz gleich neben dem Park bei einer Demonstration zur Feier des ersten Mai im Jahre 1977, an der auch er mit seinen damaligen Studienkollegen der Istanbuler Universität teilgenommen hatte, fast fünfzig Menschen ums Leben gekommen. Der Platz, der im Herzen von Istanbul liegt, ist seit jeher ein Ort des politischen Widerstandes. Ein Ort, der den politischen Freiheitsgeist der Türkei repräsentiert. Ein Ort, wo Andersartigkeit (im politischen, ethnisch, religiösem, selbst geschlechtsspezifischem Sinne) nicht verachtet, sondern akzeptiert wird - und Erdogan schon deshalb ein Dorn im Auge ist.
Ich versichere meinem Vater, dass ich nicht nach Taksim gekommen bin, um mich gewalttätigen Protesten anzuschliessen. Ich bin nach Taksim gekommen, um meine Solidarität mit jenen friedvollen Demonstranten kundzutun, die den zunehmend autoritären Regierungsstil von Premierminister Recep Tayip Erdogan und seiner AK Partei (Partei für Entwicklung und Gerechtigkeit) nicht mehr tatenlos hinnehmen wollen und deshalb an jenem Abend, die Woche zuvor, und die Tage danach sowohl den Park als auch den angrenzenden Taksim Platz füllen.
Seit die AK Partei im Jahre 2002 die Macht übernommen hat, hat sich in der Türkei eine Entwicklung vollzogen, die die berühmte türkische Politikwissenschaftlerin und Journalistin Nuray Mert kürzlich als „rising capitalist economy und declining democracy“ (progressive kapitalistische Marktwirtschaft und degressive Demokratie) bezeichnet hat. Während Erdogan seiner konservativen Wählerschaft in der Tat ökonomischen Wohlstand und politische Visibilität verschafft hat, hat er zur gleichen Zeit Schritt für Schritt die Rechte jener Menschen beschnitten, die sich für eine liberale und demokratische Türkei einsetzen.
Ein Gefühl des Glücks
So kommt es nicht von ungefähr, dass nirgendwo auf der Welt die Anzahl von inhaftierten Journalisten höher ist als in der Türkei. Kurz vor Beginn der Proteste hat das Parlament im Eilverfahren ein partielles Alkoholverbot verabschiedet, das viele als staatliche Verachtung eines liberalen Lebensstils und als Zeichen der schleichenden Islamisierung des Landes sehen. Der Versuch, den Park ohne vorherige öffentliche Debatte zu zerstören, ist nur ein Glied in einer Kette von Ereignissen, die das Fass zum Überlaufen gebracht hat.
Beim Betreten des Parks erfüllt mich ein Gefühl des Glücks. Hier sind sie nun, Menschen unterschiedlichster Couleur, Studenten und junge Professionals in Anzügen, Leute mittleren Alters, die mit ihren Kindern angereist sind und an den festlichen Aktivitäten teilnehmen. Selbst Frauen mit Kopftüchern – wenn auch nicht viele - haben sich unter die Menge gemischt. In den verschieden Zelten, die jeden Zentimeter des Platzes bedecken, sieht man Menschen zusammensitzen und diskutieren. Auf der Bühne, die in der Mitte des Parks aufgestellt wurde, wird ein alter Film gezeigt, in einer Ecke ist eine Freiluft-Bibliothek eingerichtet worden, aus einer anderen ist kurdische Musik zu hören.
"Endlich sind wir vereint"
Was sich an jenem Abend vor meinen Augen offenbart, ist eine Türkei, die alteingesessene Ressentiments, seien diese ethnischen oder ideologischen Ursprungs, überwunden zu haben scheint. Stattdessen herrscht eine ausgelassene Feststimmung, die ich so in Taksim noch nie erlebt habe. „Endlich sind wir vereint“, sagt ein anderer Demonstrant. „Zu lange haben wir geschwiegen. Genug ist genug. Auch Erdogan muss lernen, dass Demokratie nicht nur aus Wahlen besteht, sondern den Respekt von politischen Grundfreiheiten und Menschenrechten erfordert.“
Erdogan hat den Gezi-Park in der Nacht zum Sonntag gewaltsam räumen lassen. Seine Geduld mit den „Terroristen“ und „Capulcu“ („Randständige“) - die, nebenbei bemerkt, rund die Hälfte der Bevölkerung ausmachen - sei am Ende, hat der dabei verlauten lassen. Statt den Dialog zu suchen, deutet sein politischer Narzissmus auf weitere Konfrontation hin. Die türkische Bürgergesellschaft jedoch ist erwacht und wird sich nicht so leicht einschüchtern lassen. Der Türkei ein ereignisreicher Sommer bevor.