Das Oberste Gericht Libyens, das in Tripolis tagt, hat am Donnerstag überraschend entschieden, dass das libysche Parlament, das gegenwärtig in Tobruk beheimatet ist, unkonstitutionell sei. Damit wird natürlich auch die Regierung von Tobruk, die von diesem Parlament gewählt wurde, für unrechtmässig erklärt.
In Misrata und Tripolis wurde dieser Entscheid mit Feuerwerk und Jubel begrüsst. In Tobruk hat er Zorn ausgelöst. Die Abgeordneten von Tobruk haben erklärt, der Spruch des Obersten Gerichtes sei unter Druck der bewaffneten Milizen zustande gekommen, die in Tripolis und in Misrata herrschen. Er sei deshalb ungültig.
Die Gegenregierung von Tripolis
Auch in Tripolis gibt es ein Parlament und eine aus ihm hervorgegangene Regierung. Doch dieses Parlament kann schwerlich beanspruchen, seinerseits legitim zu sein. Es ist zusammengesetzt aus der «wiederbelebten» früheren parlamentarischen Versammlung, genannt «General National Congress» (GNC), die am 4. August dieses Jahres aufgelöst worden war.
Die Gründer waren Abgeordnete der früheren Kammer, die nicht mehr wiedergewählt worden waren, zusammen mit etwa zwanzig am 25. Juni neugewählten Abgeordneten, die sich geweigert hatten, mit der grossen Mehrheit des neugewählten Parlaments nach Tobruk umzuziehen und stattdessen in Tripolis verblieben. Die Mitglieder dieser Versammlung von Tripolis sind Personen, die den Muslimbrüdern nahestehen. Die Brüder hatten im vorausgehenden Parlament (GNC) die zweitgrösste Partei gebildet. Doch in dem neugewählten, das nach Tobruk umziehen musste, waren sie nur eine kleine Minderheit.
Die wirkliche Macht in Tripolis üben nicht das dortige selbsternannte Parlament und die von ihm ernannte Regierung aus, sondern die bewaffneten Milizen, die Tripolis und Misrata beherrschen. Unter diesen gibt es eher lokale Kräfte und eher islamistisch ausgerichtete. Beide Seiten sind miteinander verbündet.
Wenig Klarheit über das Urteil
Der Urteilsspruch des Obergerichts beruht darauf, dass seinem Befinden nach eine Kommission, die das frühere Parlament im März ernannt hatte, bei der Vorbereitung der Neuwahlen vom vergangenen 25. Juni nicht verfassungsgemäss gehandelt habe. Wie genau, ist noch nicht bekannt, weil die Urteilsbegründung nicht veröffentlicht wurde. Es könnte sein, dass das Gericht der Kommission vorwirft, sie sei vom damaligen Parlament (GNC) nicht ordnungsgemäss gewählt worden.
Ursprünglich hatten einige der selbsternannten Abgeordneten von Tripolis die Versammlung von Tobruk vor dem Gericht angeklagt, sie sei illegal, weil sie in Tobruk tage und nicht wie vorgesehen in Bengasi, und auch weil sie ausländische Mächte aufgerufen habe, in Lbyen zu intervenieren.
Das Gericht vertagte sich zweimal, ohne ein Urteil auszusprechen. Dann aber, am 6. November erklärte es die Versammlung von Tobruk als inkonstitutionell, ohne auf den Inhalt der ursprünglichen Klage einzugehen.
Wen anerkennt die internationale Gemeinschaft?
Mit dem Gerichtsurteil sind die äusseren Mächte vor die Frage gestellt, ob sie wie bisher die Versammlung von Tobruk und deren Regierung als die legalen Organe von Libyen anerkennen wollen und können. Die Sprecher der Versammlung von Tripolis haben erklärt, es müssten neue Wahlen durchgeführt werden. Offenbar wissen sie selbst, dass ihre selbsternannte Versammlung, man kann sie auch eine von den Milizen ernannte nennen, schwerlich international anerkannt werden kann.
Die internationale Anerkennung ist von ausschlaggebender Bedeutung für die libysche Politik und Wirtschaft, weil die im Ausland lagernden Staatsreserven und die Erdöleinnahmen Libyens der international anerkannten Regierung gehören und zufliessen.
Allerdings ist auch die Geldfrage kompliziert. Die Libysche Zentralbank, welche diese Geldströme lenkt, befindet sich in Tripolis unter der Macht der Milizen. Bisher haben die Bankbehörden es fertiggebracht, Tobruk die Gelder zukommen zu lassen, die das dort verabschiedete Budget benötigt. Man kann vermuten, dass die Milizen in Tripolis dies dulden, weil sie wissen: wenn sie die Zentralbank daran hindern, über das Geld zu verfügen, wird keines mehr aus dem Ausland in die Bank fliessen. Nicht nur Tobruk, sondern auch Tripolis und Misrata sässen bald auf dem Trockenen.
Gemeinsame Interessen aller Libyer
Beide Machtzentren in Libyen haben bisher dafür gesorgt, dass der Erdölexport aus Libyen nicht gänzlich abbrach. Er beträgt zur Zeit rund 800’000 Barrel pro Tag. In Friedenszeiten pflegte Libyen bis zu 1,4 Millionen pro Tag zu exportieren. Die Reserven des libyschen Staates betragen immer noch viele Milliarden Dollar.
Optimistische Beobachter glauben, dass der gegenwärtige Gerichtsentscheid gegen die international anerkannte Regierung sich als ein Wendepunkt herausstellen könnte. Er könnte beide Seiten, Tripolis und Tobruk, soweit schwächen, dass sie sich veranlasst sähen, auf die Versöhnungsversuche einzugehen, an denen zur Zeit sowohl die internationalen Behörden der vom Sicherheitsrat bestellten Hilfsmission für Libyen arbeiten, wie auch die Regierungen Algeriens und des Sudans. Der sudanesische Aussenminster hat einen Vermittlungsvorschlag entworfen, und kürzlich wurde er vom libyschen Aussenminister (der Tobruk-Regierung) besucht.
Eigentlich, so denken die internationalen Vermittler, müssten doch alle Libyer einsehen, dass ein Bürgerkrieg von keiner Seite gewonnen werden kann, aber alle zugrunde richtet. Vielleicht käme das optimistische Szenario zustande, wenn die internationale Gemeinschaft sich dazu durchringen könnte, beiden Seiten die Einkünfte aus dem Ausland zu sperren, vielleicht mit den Begründung, man wisse ja nicht, wer nun der legale Besitzer sei.
Das Land in der Hand irregulärer Milizen
Doch dies sind ungewisse Hoffnungen. Letztlich wird das Geschehen nicht von den Politikern abhängen, sondern von den Bewaffneten der Milizen und den immer noch rudimentären staatlichen Streit- und Sicherheitskräften. Diese stehen gegenwärtig, gemeinsam mit General Haftar, in einem blutigen Krieg in Bengasi, wo sie versuchen, die dortigen islamistischen Kampfgruppen zu vertreiben. Offenbar erhalten sie inoffizielle Hilfe von Seiten der ägyptischen Luftwaffe, die gelegentlich in die Kämpfe eingreift. Die letzte Offensive, die am 15. Oktober ausgelöst wurde und weiter andauert, soll auf der Regierungsseite 230 Opfer gefordert haben. Die islamistischen Milizen auf der Gegenseite geben die Zahl ihrer Gefallenen nicht bekannt.
Es gibt auch eine zweite Front im libyschen Westen, wo sich die Milizen von Zintan, die lose mit Tobruk verbündet sind, gegen jene von Tripolis und Misrata schlagen.
Jetzt auch noch Kämpfe der Tubu mit den Tuareg im Süden
Weil ein Unglück selten alleine kommt, wurde am Tag vor dem Urteil von Tripolis das grösste der Ölfelder Libyens, Sharara genannt, tief im Südwesten, in der Wüste von Murzuk, von Bewaffneten gestürmt und teilweise zerstört. 13 Erdölarbeiter wurden verletzt. Die Bewaffneten sollen inzwischen wieder abgezogen sein. Die Förderung musste stillgelegt werden. Erdölarbeiter sagen, die Eindringlinge stünden den islamistischen Kräften nahe.
In der Region liefern sich Tubu- und Tuareg-Stämme seit geraumer Zeit Gefechte, wobei es periodisch zu Waffenstillständen und zu neuen Fehdeausbrüchen kommt. Das Ölfeld steht, wie die meisten, unter der Aufsicht und theoretischen Oberherrschaft von Tobruk. Seine maximale Kapazität würde sich auf 200’000 Barrels pro Tag belaufen. Das dort geförderte Erdöl wird über eine Rohrleitung bis zum Ölhafen von Zawiya transportiert, der westlich von Tripolis liegt.