Er brachte die lateinamerikanische Literatur auch dem deutschen Sprachraum zur Kenntnis, spätestens, als er 1982 den Literaturnobelpreis bekam. Vorher kannten hierzulande einige vielleicht Pablo Neruda, sehr wenige Miguel Asturias, der als Erster den Nobelpreis bekam und dessen Roman «El Señor Presidente» von 1946 das Vorbild für alle Diktatorenromane danach wurde, auch für den «Herbst des Patriarchen» von Gabo, wie Márquez von seinen Freunden und Bewunderern genannt wurde. Hugo Loetscher kommt das Verdienst zu, dass er schon früh und unermüdlich auf den Reichtum lateinamerikanischer Literatur hinwies.
Wie das Meer
Den Inhalt der grossen Romane von Márquez zu beschreiben, das ist wie der Versuch, das Meer zu beschreiben. Der Leser steht am Ufer der ersten Seite, dann wird er verschlungen von einer magischen Realität wie von einem Rausch. Wie am Anfang des «Herbsts des Patriachen» die Revolutionäre die Türen des Palasts aufbrechen, weil niemand mehr sicher ist, ob der Diktator überhaupt noch lebt. Und dann zusammen mit dem Leser weggeschwemmt werden von der dahinter aufgestauten Zeit, von den Trümmern der Vergangenheit, von Liebe, Hass, Mut, Feigheit, Leiden, Optimismus, Lebenslust.
Sein wohl auch von ihm später unerreichtes Meisterwerk ist «Hundert Jahre Einsamkeit». 1967 erschienen, zeitlos, gigantisch. Jeder, der es noch nicht gelesen hat, dem steht ein wunderbares Erlebnis bevor, das er sich unbedingt verschaffen muss. Oder «Der General in seinem Labyrinth», das Werk über den lateinamerikanischen Befreiungshelden Simón Bolívar. Am Schluss lässt ihn Márquez, nach all seinen grossartigen Siegen und nach all seinen bitteren Niederlagen sagen: «Wir haben nur das Meer gepflügt.»
Manche sahen das als literarische Kritik an Fidel Castro, mit dem Márquez eine fast lebenslange und unverbrüchliche Freundschaft verband. Denn Gabo war immer, seit seinen Anfängen als Journalist, auch ein politischer Schriftsteller, bezog Position, war Sozialist, bestand auf kritischer, aber treuer Solidarität mit Kuba, trotz alledem.
Welche Sprachmacht
Auch in seinen kleineren Werken zeigte Márquez, dass magischer Realismus nicht ungebremste Fabulierlust ist, tropisch wuchernde Phantasie, ein assoziatives, rauschhaftes Kaleidoskop von bunten Bildern und Metaphern. Das auch, aber geordnet, strukturiert, kanalisiert – und deswegen noch viel mächtiger. Man lese nur «Der Oberst hat niemand, der ihm schreibt» oder «Chronik eines angekündigten Todes», zwei kürzere Werke. Ich selbst sollte einmal für eine Zeitschrift eine Kurzgeschichte von ihm neu übertragen. Eine deutsche Übersetzung lag bereits vor, die mir kaum verbesserungsfähig erschien. Auf kaum vier Seiten eine flüchtige Begegnung zweier Menschen in einem Hotel, eine Frau, ein Mann, der unbeabsichtigte Flirt, die kurze Liebesaffäre einer Nacht, das merkwürdige Ende.
Aber umso mehr ich mich auf seine Sprache einliess, umso mehr ich das fein und scheinbar mit leichter Hand gewebte Netz seiner Kunst erkannte, die zarte Andeutung hier, aufgenommen dort, umso mehr wurde mir klar, dass ich höchstens aufrecht scheitern kann, wenn ich das auf Deutsch zu übersetzen versuche. Aber keine Bange, es liegen Übertragungen der meisten seiner Werke auf Deutsch vor, die von begabteren Übersetzern geschaffen wurden als ich es bin.
Márquez als Einstiegsdroge
Wer lateinamerikanische Literatur nicht kennt, kann Gabo als Einstieg benützen. Und neben ihm Alejo Carpentier entdecken, Jorge Luís Borges, auch Mario Vargas Llosa, Guillermo Cabrera Infante («Drei traurige Tiger») und, und, und. Wer im Meer, das Gabo hinterlassen hat, nicht untergeht, kann sich in die weiteren Ozeane stürzen, die die lateinamerikanische Literatur ausmachen.
Aber niemand, so weit ich sehe, reicht an Gabo heran, der selbst in seinem Alterswerk nicht mehr an seine früheren Geniestreiche heranreichte. Man wusste, dass er schon längere Zeit schwer krank war, auch seine geistigen Kräfte begannen, ihn zu verlassen. Und nun hat er uns verlassen, und das erfüllt uns mit Trauer.
Aber wer zum ersten Mal den Satz liest: «Viele Jahre später sollte der Oberst Aureliano Buendía sich vor dem Erschiessungskommando an jenen fernen Nachmittag erinnern, an dem sein Vater ihn mitnahm, um das Eis kennenzulernen», mit dem «Hundert Jahre Einsamkeit» beginnt, der hat eines der schönsten Leseerlebnisse vor sich, das Literatur uns verschaffen kann.
Erinnern, erzählen, leben
Das bleibt, solange es Bücher und Leser gibt, das ist unsterblich. Das hilft jedem, der von Lateinamerika nicht mehr weiss, als dass es diesen Kontinent gibt, eine Welt zu verstehen. Die uns Europäern, Schweizern so nah scheint, die wir als Kolonialherren mitgeprägt haben. Die aber gleichzeitig ganz anders ist. Magisch, tropisch, selbst die Zeit ist anders, nicht linear, manchmal läuft sie auch rückwärts, verzweigt sich, teilt sich in mehrere Zeiten auf, alles ist wohl anders, als es zu sein scheint.
Danke, Gabo, das bleibt, das lebt und verströmt seine Magie. Auch nach dem Ende deiner physischen Existenz. Von einem anderen grossen lateinamerikanischen Autor stammt der Satz: «Der einzige konkrete Beweis für unsere Existenz ist die Poesie.» Und Gabo fügte hinzu: «Das Leben ist das, was wir erinnern und wie wir erinnern, um davon zu erzählen.»