Die Fakten sind klar. Im Oktober 2016 und im August 2017 greifen Kämpfer der Arakan Rohingya Salvation Army (ARSA) Polizeistationen im südwestlichen an Bangladesh grenzenden Bundesstaat Rakhine an. Polizisten, aber auch Zivilisten sterben. Das Militär – als Tatmadaw bekannt – greift ein. Und zwar so, wie es das seit Machtantritt 1962 – besonders gegen aufmüpfige nationale Minderheiten – immer macht: mit äusserster Brutalität.
Cox’s Bazaar
Nach UNO-Ermittlern kommt es zur Zerstörung ganzer Dörfer. Frauen werden systematisch vergewaltigt, Mord in grossem Stil an Männern, Frauen und Kindern. Zehntausend Menschen sollen nach dem Uno-Bericht ums Leben gekommen sein. Nach jenem August 2017 fliehen über 700’000 Rohingya über die Grenze nach Bangladesh. Dort werden sie im Cox’s Bazaar in einem Lager untergebracht, wo bereits weit über 200’000 Rohingya aus früheren Vertreibungen unter prekären Umständen leben. Nach Einschätzung der Vereinten Nationen sind die Rohingya die «am stärksten verfolgte Minderheit der Welt».
Apartheid
Noch immer leben über 500’000 muslimische Rohingya in Myanmar. Vor allem in Lagern und nach aussen abgeschotteten Dörfern. Es sind Apartheid-ähnliche Zustände. Im buddhistischen Myanmar haben Muslime im Allgemeinen und Rohingya im Speziellen einen schweren Stand, obwohl die grosse Mehrheit in Burma Buddhisten sind. Muslime in Myanmar machen je nach Schätzung gerade einmal zwei bis vier Prozent der Bevölkerung von 55 Millionen aus.
Üble Hetze von Mönchen
Extreme buddhistische Mönche hetzen in übelster Weise auf Flugblättern und in den sozialen Medien – allen voran natürlich Facebook – gegen die muslimische Minderheit. Die Behörden, an deren Spitze als Staatsrätin die Friedens-Nobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi steht, unternehmen nichts. Soviel zur «friedlichsten Religion» Buddhismus und zu der von Facebook hochgelobten Meinungsfreiheit…
«Bengali»
Die Rohingya sind nicht erst seit neuestem eine verfolgte Minderheit. Obwohl die meisten seit Generationen, zum Teil seit über dreihundert Jahren, auf dem Gebiet des heutigen Myanmar leben, gelten sie bis auf den heutigen Tag als illegale Einwanderer. Offiziell werden sie als «Bengali» bezeichnet, aus Bengalen, also Bangladesh stammend. Das Wort Rohingya ist tabu.
Die Rohingya haben und hatten in Burma keinerlei Rechte. Im Staatsbürgergesetz von 1982 werden 135 ethnische Bevölkerungsgruppen offiziell anerkannt, nicht aber die Rohingya. Damit haben sie auch keinen Anspruch auf Staatsbürgerschaft. Sie können sich nicht frei bewegen, haben zu vielen sozialen Diensten – unter anderem Bildung – keinen oder extrem limitierten Zugang. Heute leben 1,5 Millionen Rohingya als Staatenlose im Exil. Bereits 1978 sind 200’000 und 1991 über 250’000 Rohingya nach einem militärischen Pogrom nach Bangladesh geflüchtet.
Uno-Gerichtshof
Obwohl unterdessen Myanmar und Bangladesh ein Rückführungsabkommen unterzeichnet haben, ist nichts geschehen. Rohingya im Flüchtlingslager Cox’s Bazaar in Bangladesh nämlich wollen nicht ohne umfassende Sicherheits- und Rechtszusagen zurückkehren. Gambia hat nun vor dem Internationalen Uno-Gerichtshof in Den Haag ein Verfahren gegen die systematische Verfolgung der muslimische Rohingya-Minderheit angestrengt. Gambia handelt im Namen von 57 Staaten der Organisation für Islamische Zusammenarbeit. Anklagepunkte sind ethnische Säuberung oder gar Völkermord. Zur Verteidigung der Militärs ist vor den internationalen UNO-Richtern niemand geringerer als Aung San Suu Kyi erschienen.
8.8.88
Aung San Suu Kyi, die Tochter des kurz vor der Unabhängigkeit Myanmars 1947 ermordeten Nationalhelden General Aung San, ist in den letzten paar Jahren zur Realpolitikerin mutiert. Die 1991 mit dem Friedens-Nobelpreis und dem Sacharow-Preis Ausgezeichnete bot über zwei Jahrzehnte lang den Militärs die Stirn. Nach langen Jahren im Ausland ist Suu Kyi 1988 nach Burma zurückgekehrt, um ihre todkranke Mutter zu pflegen. Im August 1988 – am bedeutungsschwangeren 8.8.88 – kam es zu breiten Studentenprotesten. Am 26. August hielt sie vor der Shwegadon-Pagode in Yangon ihre berühmte Rede zur Demokratie.
Gewaltlosigkeit
Gewaltlosigkeit werde den Sieg bringen. In den nächsten zwei Jahrzehnten hielten die Militärs Suu Kyi fünfzehn Jahre lang unter Hausarrest, verschiedentlich wurde sie ins Gefängnis geworfen, unter anderem auch in das berüchtigte Insein-Gefängnis in Yangon. Bei den Wahlen 1990 erzielte die von ihr mitbegründete Nationale Liga für Demokratie (NLD) einen überwältigenden Sieg. Die Militärs annullierten die Wahl.
Langsame Öffnung
Nach dem Rücktritt von General Than Shwe 2010 begann sich Myanmar langsam zu öffnen. General Thein Sein wechselte als Präsident von der Uniform in den massgeschneiderte Zivilanzug. Aung San Su Kys NLD boykottierte zwar die allgemeinen Wahlen 2010, erzielte dann aber 2012 in Nachwahlen für 45 Sitze mit 43 gewonnen Sitzen einen Überraschungserfolg. Bei den allgemeinen Wahlen 2015 errang die NLD 86 Prozent aller wählbaren Sitze. Die Militärs nämlich reservierten für sich ein Viertel aller Parlamentssitze, um eine Zweidrittelsmehrheit für Verfassungsänderungen zu verhindern. Zudem blieb das Innen-, Sicherheits- und Verteidigungsministerium in der Hand der Militärs. Die Uniformierten können überdies bis auf den heutigen Tag mit einem Federstrich die Verfassung ausser Kraft setzen und die Macht wieder total übernehmen.
Demokratie-Ikone
Seit April ist Aung San Suu Kys De-facto-Regierungschefin mit dem Titel eines Staatsrates sowie Aussenministerin. Präsidentin kann sie nach der geltenden Verfassung nicht werden, weil sie mit einem Ausländer verheiratet war und zwei Söhne mit ausländischem Pass hat. Die lange im Westen als Demokratie-Ikone Verehrte ist mit anderen Worten in der Realpolitik ganz von den Militärs abhängig. Deshalb wohl hat sie auch in Den Haag vor dem Internationalen Uno-Gerichtshof die Militärs verteidigt. «Die Beschuldigungen», so Suu Kyi, «sind irreführend und unvollständig». Die Armee habe nur das Land gegen bewaffnete Rebellen verteidigt. «Wir haben es hier mit einem internen bewaffneten Konflikt zu tun, ausgelöst durch koordinierte und umfassende Attacken der ARSA. Darauf haben Myanmars Verteidigungskräfte geantwortet.»
«Überproportionale Gewalt»
Möglicherweise habe es auch Übergriffe der Armee gegeben, doch die Justiz in Myanmar sei fähig und willens, die Schuldigen strafrechtlich zu verfolgen: «Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass überproportional Gewalt angewendet worden ist, in einigen Fällen von den Verteidigungskräften unter Missachtung des internationalen humanitären Rechts oder dass die Verteidigungskräfte nicht klar genug zwischen ARSA-Kämpfern und Zivilisten unterschieden haben.»
«Tragischerweise»
«Tragischerweise», soviel konzediert immerhin Suu Kyi, «führte der bewaffnete Konflikt zum Exodus von mehreren Hunderttausend Muslims.» Ähnliches, so die burmesische Staatsrätin, sei ja auch in Kroatien während des Jugoslawienkrieges – mit dem sich der Internationale Gerichtshof auch befasst habe – geschehen. «Es wird», so Suu Kyi ganz Friedens-Nobelpreisträgerin, «keine Toleranz zu Menschenrechtsverletzungen in Rakhine oder anderswo in Myanmar geben.»
Innenpolitik
Warum hat sich Aung San Suu Kyi diesen Auftritt in Den Haag angetan? Der Grund ist einfach: Innenpolitik. 2020 finden in Myanmar die nächsten allgemeinen Wahlen statt. Die Buddhistin Suu Kyi, liebevoll auch The Lady genannt, hätte keine Chance, wenn sie sich offen für Muslime und erst recht für die Rohingya einsetzen würde. Während ihres Auftretens in Den Haag vor dem Internationalen Uno-Gerichtshof haben in Myanmar Tausende für sie auf der Strasse demonstriert. Das internationale Image als Friedens-Nobelpreisträgerin bringt im buddhistischen Burma keine Stimmen.
Machtpolitikerin
Die moralische Autorität von einst als Demokratie-Ikone ist Aung San Suu Kyi international in der real existierenden Halbdemokratie Myanmars abhanden gekommen. The Lady ist nun durchwegs zur Realpolitikerin, ja zu einer Machtpolitikerin geworden. Wenn sie die Karten richtig spielt, werden die Militärs sie vielleicht gar als Präsidentin akzeptieren. Moral und Politik – ein trauriger Abschied von der Lady.