„Risorgimento“ nennen die Italiener ihren Freiheitskampf. „Risorgimento“ bedeutet: Überall Rebellion, überall fliesst Blut, Hunderttausende sterben, Zehntausende werden hingerichtet. Verrat und Intrigen, Rache und Verschwörung. Ein Papst und ein König auf der Flucht. Der päpstliche Innenminister mit dem Dolch im Rücken, ein Freiheitsheld, der gefangen wird, ein König, der exkommuniziert wird, Aufstände, Rückschläge, Strassenschlachten – und das Volk singt die Melodie des Gefangenenchors von Verdis Nabucco.
Eigentlich beginnt das Risorgimento kurz nach der französischen Revolution im Jahre 1789. Ideen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit werden auf die Apenninen-Halbinsel getragen. Eine Halbinsel die zerrissen ist: Im Norden dominieren die Habsburger, in Mittelitalien herrscht der Papst und im Süden haben sich die Bourbonen festgesetzt. Und überall gibt es, wie Konfettis, kleine Herzogtümer. Ziel des Risorgimento ist es, die fremden Mächte von der Halbinsel zu vertreiben und den Papst in Schranken zu weisen.
Napoleon ist der erste, der nach der französischen Revolution Italien eine sehr lose Einheit bringt – wenn auch unter seiner Dominanz. Doch der Wiener Kongress 1815, eines der traurigsten Kapitel in der europäischen Geschichte, bringt die früheren Adligen und Feudalherren wieder an die Macht. Italien zerfällt wieder. Erneut herrschen die Habsburger, der Papst und die Bourbonen. Die Ursprünge der Freiheitsbewegung liegen im Süden. Dort entstehen Geheimbünde, deren Ziel ein freies italienisches Italien ist. In Kalabrien wird der Geheimbund der „Carbonari“ (Kohlenarbeiter) gegründet. Sein Ziel ist das Ende der Feudalherrschaft: die Befreiung der Halbinsel von fremden Herren.
Die Österreicher schlagen die Aufstände der Carbonari nieder. Viele Intellektuelle und Dichter schliessen sich den Carbonari an. Zu ihnen gehört Alessandro Manzoni. Sein Drama „Die Verlobten“ gehört noch heute zum Pflichtstoff jeder italienischen Schule. Das Stück, das vordergründig die Geschichte zweier Verliebter erzählt, ist eine scharfe Anklage an die Adresse der österreichischen Besatzer. Das Drama löst riesige Emotionen aus und trägt wesentlich zur Einigung Italiens bei.
Der Held aller Helden
1931 gründet Giuseppe Mazzini einen neuen Geheimbund „La Giovine Italia“ (Junges Italien). Der Bund fordert einen geeinten Nationalstaat mit Parlament und Regierung. Dieser Bewegung tritt kurz darauf jener Mann bei, der heute noch als Held aller Helden verehrt wird: Giuseppe Garibaldi, eine der herausragendsten Figuren des 19. Jahrhunderts. Er trägt wesentlich zur Einheit Italiens bei. Er, der Feldherr und Visionär, hat ein Ziel: Italien als Republik.
Das gefällt nicht allen. Vor allem gefällt es dem Königreich Piemont-Sardinien nicht und dem dort herrschenden Haus Savoyen. Dieses beherrscht auch die beiden heutigen französischen Departemente Savoyen und Hochsavoyen, sowie das Aosta-Tal und Nizza. König Carlo Alberto ist an einer Vereinigung Italiens wenig interessiert. Auch sein Sohn Vittorio Emanuele II. wehrt sich zunächst gegen ein vereintes Italien.
Doch die Freiheitskämpfer werden immer dreister, die Bewegung gewinnt immer mehr Terrain. König Carlo Alberto wird vom Volk genötigt, Krieg gegen die österreichischen Besatzer zu führen. Er tut es und verliert. Es gärt immer mehr auf der Halbinsel. Da und dort werden regionale Verfassungen erlassen. In Venedig wird die Republik ausgerufen. In Mailand werden die Habsburger verjagt, kommen aber bald wieder.
In der Mailänder Scala findet 1842 die Uraufführung von Giuseppe Verdis Oper Nabucco statt. Der Freiheitschor mit den Worten „Va pensiero, sull’ali dorate“ (Fliege Gedanke, auf goldenen Flügeln“) gehört schnell zu den Hits jener Zeit; alle verstehen den Text als Absage an Fremd- und Feudalherrschaft.
Monarchie statt Republik
In Rom ereignet sich ein Mord mit Folgen. Pellegrini Rossi, der Innenminister des Papstes, wird 1848 von jungen Männern erdolcht. Der Mord ist das Signal zur Rebellion. Der Papst muss nach Gaeta flüchten, eine Festung bei Neapel. Der starke Mann im Königreich Piemont-Sardinien ist jetzt nicht der König, sondern Camillo Benso Graf von Cavour. Er ist hochgebildet, ein Diplomat, ein konservativer, aber offener Adliger: ein Vertreter der begüterten Bourgeoisie. Er steht im Dienst des Königs und wird 1852 dessen Ministerpräsident. Auch er will die fremden Mächte vertreiben und dem Papst sein weltliches Reich, den Kirchenstaat, entreissen.
Doch zunächst will er weit weniger als die Freiheitskämpfer um Garibaldi und Mazzini. Vor allem eines will er nicht: eine Republik Italien. Wenn schon eine Einigung, dann eine Monarchie.
Wieder wird König Carlo Alberto gezwungen, gegen Österreich Krieg zu führen. Wieder verliert er. Diesmal flüchtet er nach Portugal. Sein Sohn Vittorio Emanuele II. kommt an die Macht. In Rom erinnert das riesige weisse Monument am Ende des Corso an ihn: Das Vittoriano, im Volksmund auch „Schreibmaschine“ genannt.
Jetzt tritt Napoleon III. auf. Er mag die Habsburger nicht. Auch er will sie aus Norditalien vertreiben. Gemeinsam kämpfen Piemontesen, Freiheitskämpfer aus ganz Italien und vor allem 200 000 französische Soldaten gegen die Österreicher. Wien verliert die Lombardei, darf aber vorerst Venetien behalten.
Geglückter Coup des Hauses Savoyen
Jetzt beginnt der letzte Akt des Risorgimento. Im April 1860 verlädt Garibaldi tausend seiner Rothemden auf zwei Schiffe in Genua und fährt nach Marsala in Sizilien. Dort steht er aufständischen Bauern bei. Dieser „Zug der Tausend“ (Spedizione dei Mille) geht in die Geschichtsbücher ein. Viele Strassen in Italien heissen Via dei Mille. Die Bourbonen werden verjagt und diesmal endgültig. Nach Marsala erobert Garibaldi Palermo und vertreibt dort die Franzosen. Bald steht er vor Rom. König Vittorio Emanuele fürchtet nun den populären Garibaldi immer mehr. Denn dieser will eine Demokratie, eine Republik: die Herrschaft des Volkes. Da wäre kein Platz mehr für einen König wie Vittorio Emanuele.
So kommt es zur Kehrtwende in Turin. Vittorio Emanuele und Cavour ergreifen die Flucht nach vorn. Sie, die einst gegen ein vereintes Italien waren, wollen Garibaldi rechts überholen. Sie propagieren nun plötzlich ein geeintes Italien, allerdings als konstitutionelle Monarchie. Der Coup gelingt. Das Haus Savoyen darf bleiben.
Bei den Wahlen in das erste gesamtitalienische Parlament am 27. Januar 1861 können nur zwei Prozent der Bevölkerung teilnehmen. Die Wahlbeteiligung beträgt 57,2 Prozent. Cavours Partei erobert 350 der 443 Parlamentssitze. Die meisten Abgeordneten gehören der Bourgeoisie an. Die Bauern im Süden und die aufkommende Arbeiterschaft im Norden bleiben ausgeschlossen.
Um die Zustimmung der feudalen Grossgrundbesitzer im Süden zu erhalten, hatte der König versprochen, die Feudalstrukturen nicht anzutasten. Dies ist einer der Gründe für die heutige Unterentwicklung des Südens.
Ausgerechnet jetzt droht das Land auseinanderzudriften
Garibaldi verliert. Italien wird konstitutionelle Monarchie und bleibt eine solche – selbst unter Mussolini - bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges.
Das heutige Italien schleicht sich etwas beschämt an den grossen Geburtstag heran. Die meisten Italiener sind nicht in Festlaune. „Schaut euch den Zustand des heutigen Italiens an, sollen wir das feiern?“, meint ein Leserbriefschreiber. 150 Jahre nach der Vereinigung herrscht in Italien Lethargie und Hoffnungslosigkeit: eine agonisierende Regierung, eine schwer angeschlagene Wirtschaft, keinerlei Aussicht auf Besserung. Die Italiener sind niedergeschlagen und bedrückt.
Die starke Lega Nord, die offiziell gegen den Einheitsstaat ist, hat angekündigt, nicht an den Feiern teilzunehmen. Mit ihrem Föderalismusgesetz, das sie jetzt durchpauken will, ginge die Solidarität zwischen den Landesteilen verloren. Damit droht das Land ausgerechnet jetzt, wo die Vereinigung gefeiert wird, wieder auseinanderzudriften.