Die Verwaltung von Gaza hatte gehofft, Zusagen von insgesamt vier Milliarden Dollar zu erhalten. 5,4 Milliarden wurden versprochen. Qatar sagte eine Milliarde zu, die europäischen Staaten zusammen 565 Millionen, die Amerikaner, die Türken, die Vereinigten Arabischen Emirate je Beiträge von rund 200 Millionen. Doch es handelt sich um Versprechen. Die Verwaltung von Gaza hat schon erklärt, sie hoffe, dass die versprochenen Summen bald einträfen.
Ein Teil von ihnen ist ohne Zweifel dringend nötig, um die unmittelbare Not zu beheben. Der Sommer geht zu Ende und über 100‘000 Personen haben keine Bleibe und kein Dach über dem Kopf. 18‘000 Häuser mit 80‘000 Wohnungen wurden zerstört oder schwer beschädigt. Wichtige Infrastrukturen wie Wasser- und Abwasserversorgung, Elektrizität und Spitäler wurden zerstört oder beschädigt – auch 240 Schulen. In jenen Schulen, die der Zerstörung entgingen, sind Flüchtlinge einquartiert. Zu allererst muss der Schutt weggeräumt werden. Ganze Quartiere sind zu Schutthaufen geworden. Zurzeit leben viele der Palästinenser in Zelten und Notunterkünften über den Ruinen ihrer früheren Wohnungen. Es gibt bereits einen detaillierten Plan für den Wiederaufbau und für das, was am dringendsten notwendig ist.
„Kontrolliere Kollaboration“
Israel war nicht zur Geberkonferenz eingeladen. In ihrem Vorfeld hat der israelische Aussenminister Avigdor Lieberman bereits erklärt, ohne die Zustimmung Israels werde es keinen Wiederaufbau in Gaza geben. In der Tat hängt alles davon ab, ob Baumaterial nach Gaza geliefert werden kann. Zement und Eisenrohre sind von den Zufahrtseinschränkungen der Israeli besonders betroffen. Hamas hatte Zement dazu verwendet hat, um unterirdischen Stollen zu bauen. Darin wurden Raketen gelagert, aber auch Kämpfer vor israelischen Angriffen geschützt. Aus Eisenröhren wurden die primitiven Raketen gebaut, die in grosser Zahl aber ohne grosse Wirkung aus Gaza auf Israel abgeschossen wurden.
In der israelischen Presse ist davon die Rede, dass eine neue Gaza-Strategie innerhalb der Regierung diskutiert werde. Diese sähe vor, dass das Einfuhrverbot von Zement und andern Baumaterialen gelockert würde. Dafür allerdings will Israel innerhalb des Gazastreifens Kontrollen durchführen, um sicher zu stellen, dass der Zement einzig für Aufbauprojekte verwendet wird. Eine solche Kontrolle könnte einerseits durch Satelliten stattfinden, anderseits aber auch durch internationale Organisationen, die PLO-Behörden oder durch Bauunternehmer, die von Israel bestimmt würden.
Der bisherige Boykott wäre durch "kontrollierte Kollaboration" zu ersetzen. Wie diese Kontrollen allerdings genau aussehen könnten und ob sie zu einer „konstruktiven Zusammenarbeit“ führen – das bleibt abzuwarten.
Israel akzeptiert palästinensische Einheitsregierung
Etwas ist bereits neu: Die israelische Regierung hatte vor dem Gazakrieg die neugebildete Einheitsregierung der Palästinenser heftig abgelehnt. Diese war durch den Zusammenschluss von PLO und Hamas zustande gekommen. Den Gazakrieg hatte Israel offensichtlich teilweise mit dem Zweck provoziert, den Zusammenschluss der Palästinenser zu verhindern. Jetzt, nach den 51 Tagen des Krieges ist die neu gebildete "Einheitsregierung" der Palästinenser unter Ministerpräsident Rami Hamdallah von Israel stillschweigend hingenommen worden.
Sie hat am 9. Oktober eine symbolische Regierungssitzung in Gaza durchgeführt. Die Israeli hatten die neuen palästinensischen Minister nach Gaza eingelassen. Dort sollen nun auch die Beamten der PLO wieder zur Arbeit zugelassen werden. Während der Jahre, als Hamas allein den Gazastreifen dominierte, durften die PLO-Beamten ihre Ämter nicht ausüben. Welche Funktionen diese Beamten jetzt ausüben, ist unklar. Und was geschieht mit den Hamas-Polizisten? Als erstes sollen 3‘000 Mitglieder der Präsidialgarde von PLO-Präsident Abbas die Grenzsicherung zwischen Ägypten und Gaza übernehmen.
In der Einheitsregierung gibt es keine Hamas-Politiker. Doch die Vereinbarungen über den Zusammenschluss sehen vor, dass baldige Wahlen über ein neues palästinensisches Parlament stattfinden sollen. Dieses Parlament soll dann über die neue Regierung entscheiden. Wird bei diesen Wahlen Hamas siegen oder die PLO? Bis es dazu kommt, werden wohl die PLO und ihr Präsident, Mahmud Abbas, politisch das Sagen haben. Allerdings ist auch eine Neuwahl des palästinensischen Präsidenten längst überfällig.
Neue israelische Siedlungen
Dies ist nicht die einzige Ungewissheit, die über der künftigen Politik der Palästinenser schwebt. Zurzeit ist auch fraglich, wie sich ihr Verhältnis zu Israel weiter entwickeln wird. Die Amerikaner drängen auf Wiederaufnahme des "Friedensprozesses", der im vergangenen Frühjahr zusammenbrach, weil Mahmud Abbas und seine politischen Berater des bisherigen politischen Spiels der Israeli müde geworden waren. Dieses Spiel bestand über zwei Jahrzehnte darin, die Verhandlungen in die Länge zu ziehen. Während verhandelt wurde, wurden neue israelische Siedlungen in den besetzten Gebieten gebaut. Das heisst gerade in jenen Gebieten, die für die Palästinenser äusserst wichtig wären.
Nach dem Gazakrieg hat die israelische Regierung eine neue grössere Siedlung auf palästinensischem Gebiet angekündigt. Abbas fordert die Einstellung der Siedlerexpansion als Vorbedingung, um die Verhandlungen wieder aufzunehmen. Israel ist nicht bereit, diese Forderung zu erfüllen.
Gang an den internationalen Gerichtshof?
Doch die Einstellung der Verhandlungen wirft natürlich für die Palästinenser die Frage auf, welch andere Wege sie einschlagen könnten, um ihre Gebiete zurückzuerlangen. Hamas wollte kämpfen, um dies zu erreichen, doch der Kampf hat zur Zerstörung von Gaza geführt. Als Alternative gibt es das Projekt, an den Internationalen Strafgerichtshof (ICC) zu gelangen und Israel dort wegen Kriegsverbrechen, Vergehen gegen die Menschlichkeit und Diskrimination zu verklagen.
Diese Möglichkeit steht den Palästinensern offen, seitdem die Generalversammlung der Uno Palästina als Beobachterstaat zugelassen hat. Das Veto der Amerikaner, das die Palästinenser daran hindert, vor den Sicherheitsrat zu gelangen, besteht nicht im Falle der Generalversammlung. Deshalb kam dort die Zulassung Palästinas als Beobachterstaat mit grosser Stimmenmehrheit zustande.
Gegendruck der Geldgeber
Doch bisher hat Abbas gezögert, den Schritt zum Internationalen Gerichtshof zu gehen. Nicht nur Israel übt Druck auf ihn aus, sondern auch die USA und die europäischen Staaten. Finanziell ist die gesamte palästinensische Verwaltung auf die Hilfe aus den USA und Europa angewiesen. Israel hat immer wieder die Geldströme abgeschnitten. Israel kann dies, weil die israelischen Behörden die Sozialbeiträge und Steuern einziehen, welche Palästinenser bezahlen, die in Israel arbeiten. Diese Beträge werden an die Palästinensische Regierung überwiesen. Doch Israel kann sie blockieren und hat sie mehrmals blockiert, wenn es der Palästinenser Regierung eine Lektion erteilen wollte.
Dies und die Möglichkeit, die Einfuhren nach Gaza zu drosseln oder ganz abzuschneiden, sind Druckmittel, deren Einsatz eine palästinensische Regierung zu gewärtigen hat, wenn sie es wirklich wagen sollte, Israel vor dem Internationalen Gerichtshof zu verklagen. Vielleicht wären darüber hinaus auch die Hilfsgelder aus den USA und aus Europa betroffen.
Kritik an Abbas
Abbas und seine Mitarbeiter stehen aber auch unter starkem Druck durch die palästinensische Öffentlichkeit in den Westjordangebieten und in Gaza. Grosse Teile der Bevölkerung werfen der palästinensischen Regierung vor, sie wirke ja nur als Exekutivorgan der Israeli. Sie helfe ihnen, den palästinensischen Widerstand gegen die israelische Besetzung, wo er sich zu regen versuche, niederzuhalten. In der Tat versucht die palästinensische Polizei - oftmals in Koordination mit den israelischen Sicherheitsleuten - jener Palästinenser habhaft zu werden, die versuchen mit Gewaltakten gegen Israel und Israeli zu „kämpfen". Abbas ordnet dies an, weil er und seine Mitarbeiter überzeugt sind, dass Gewaltakte, wie erneut in Gaza, nur zu noch grösserem Leid der Palästinenser und zu noch brutaleren Gegenaktionen der Israeli führen.
Doch viele Palästinenser sind nicht dieser Ansicht. Ist es eine Minderheit oder eine Mehrheit? Niemand kann vor den palästinensischen Wahlen wirklich ermessen, wie viele den „Kampf gegen Israel“ wirklich fortsetzen wollen, koste es, was er wolle. Man kann vermuten, dass diese Meinung in Gaza weiter verbreitet ist als in den Westjordangebieten.
IS und andere Extremisten
Wahrscheinlich gibt es schon heute Palästinenser, die die Kämpfer des Islamischen Staates (IS) bewundern und sich einreden, die IS-Leute hätten das wahre Erfolgsrezept Dieses lautet: nur maximale Brutalität und grenzenlose, lebensverachtende Selbstaufopferung werden zum Durchbruch führen.
In Gaza gibt es nicht nur Hamas und seine Parteigänger sondern darüber hinaus bedeutend fanatischere und extremere Kleingruppen, die darauf ausgehen "den Kampf" um jeden Preis fortzuführen. Sie an ihren Aktivitäten zu hindern, wird Aufgabe der palästinensischen Ordnungskräfte sein. Wenn sie ihr nachkommen, wird dies jedoch die PLO und Präsident Abbas selbst politisch schädigen. Der Vorwurf wird Nahrung erhalten, sie handelten als Diener der Israeli. Für die "schon bald" bevorstehenden Wahlen kann es kaum eine schlechtere Voraussetzung geben.
Wie wirkt sich die neue Gaza-Strategie Israel aus? Wie verhalten sich die Palästinenser weiter gegenüber Israel? Von all dem hängt ab, wie weit Gelder nach Gaza fliessen und wieweit der Gazastreifen neu aufgebaut werden kann. Die Gelder sind nun versprochen, doch die politischen Grundlagen fehlen. Ohne sie werden die zugesagten Milliarden schwerlich ausbezahlt werden.