Frisch und wohltuend nüchtern wirkte Reina Gehrig, die neue Geschäftsleiterin der Solothurner Literaturtage, als sie am Auffahrtsdonnerstag ans Mikrofon trat. Das Bild, das sie brauchte, um das Ereignis zu charakterisieren (diesen monströsen Lese- und Redemarathon, der jeweils drei Tage lang durch das Städtchen stampft), fand sie im Bauwesen: einer Baustelle glichen die Literaturtage, meinte sie, an der Neues entstehe, aber auch viel Lärm und Staub in Kauf zu nehmen seien.
Nun – wie immer durfte man sich über Flops, suboptimale Dichtereien, unbedarfte Moderationen ärgern. Aber es gab als Entschädigung die Höhepunkte, hochkarätige Literatur, spannende Diskussionen, Begegnungen, an die man sich erinnern wird. Und man konnte – auch das alle Jahre wieder – staunen über den massiven Andrang von Leserinnen und Lesern jeglichen Alters, die den Landhaussaal und die Säulenhalle fluteten, den Kreuzsaal stürmten, den Klosterplatz bevölkerten, das dunkle Zelt aufsuchten, um zuzuhören wie aus Büchern gelesen wurde. Das Buch, als Stimme und Objekt, ist allgegenwärtig in der Stadt während den Literaturtagen; man kann sich schlecht vorstellen, dass es, wie mit zunehmender Vehemenz behauptet wird, auf dem Aussterbeetat stehen soll.
Bei der gläsernen Übersetzerin
„Stimmen - Voix – Voci – Vuschs“ ist den Literaturtagen dieses Jahr als Motto verpasst worden, ein leicht zu handhabendes Siegel, mit dem jeder der über sechzig Autorinnen und Autoren aus der Schweiz und dem Ausland etwas anzufangen wusste. Die Vielstimmigkeit, sprachlich gesehen, war für die Literaturtage stets eine Selbstverständlichkeit und das Uebersetzen eine literarische Disziplin, die in Solothurn gebührend Achtung und Beachtung fand. Wer wollte, konnte sich heuer beispielsweise zu Yla von Dach, eine der subtilen „gläsernen Uebersetzerinnen“ in ein Zimmer setzen, um als aktiver Mitmacher und Einmischer einer Stunde harter Knochenarbeit zu assistieren, der sich die Uebersetzerin am Bildschirm widmete. Da wurde das Schlachtfeld sichtbar, auf das der Transfer von einer (literarischen) Sprache in eine andere zuerst führt, die Wortfindungen und –verwerfungen, das Suchen und Tasten bis eine Spur gefunden ist, ein Stil festgelegt wird.
Die Stimmen verschiedener Sprachen, verschiedene Stimmen im selben Stück Prosa, poetische Stimmen, Stimmen als Klänge, Musik – das alles und die Stimmgeber dahinter gaben sich in Solothurn ein Stelldichein; es war als ob es für eine bemessene Zeit in der Stadt neben dem alltäglichen Stimmengewirr ein geformtes Stimmenorchester geben würde, was sich sogar buchstäblich manifestierte: Spazierte man vom Bahnhof ins Herz der Stadt sprangen einen auf der Kreuzackerbrücke über Lautsprecher Geisterstimmen an, die aus der Aare zu kommen schienen und Literatur ins Blaue hinaus flüsterten.
Drei starke Auftritte
Weil man sich, leider, nicht vervielfältigen kann, ist es in Solothurn nicht möglich, einen repräsentativen Teil der zahlreichen Veranstaltungen, Lesungen, Diskussionen zu besuchen. Man muss radikal auswählen. Von den gut vertretenen Koryphäen der aktuellen Schweizer Literatur habe ich dreien zugehört, die mich mit ihre Texten gefesselt haben. Lukas Bärfuss meistert in seinem neuen Roman „Koala“ ein Urproblem der Literatur virtuos und glaubwürdig: den Umgang mit sich selbst als Erzähler und als Gegenstand der Erzählung. Im ersten Teil des Romans versucht der Autor mit dem Selbstmord seines Bruders zurande zu kommen – und wie er das machte, luzid, unsentimental, zunehmend nachdenklicher, das übertrug sich (stimmig, stimmungsmässig) beim Lesen und darüber Reden förmlich auf das Publikum im Saal.
Rolf Niederhauser ist einer der neugierig erwarteten Wiederkehrer in der Schweizer Literatur. An die zwanzig Jahre, mit Unterbrüchen, hat er an der „Seltsamen Schleife“ gearbeitet. Ich kann über das Buch nicht (mehr) urteilen, bin nicht objektiv, habe es als Lektor begleitet. Deshalb nur so viel: dem Motto der Literaturtage entsprechend, wird man bei diesem Autor, wenn er liest, sofort auf das Spiel mit verschiedenen Stimmen aufmerksam gemacht. Da gibt es den Erzähler, der seiner Hauptfigur gewissermassen auf den Schultern sitzt, ihr zuschaut, sie in Abenteuer verwickelt und beschreibt und dann ist es wieder diese Hauptfigur, die ihre Stimme erhebt und hartnäckig, manchmal verzweifelt versucht, sich ihrer selbst bewusst zu werden – und dieses Bewusstsein zu erkennen, festzuhalten, aufzuschreiben, bis es Literatur wird.
Gertrud Leutenegger ist seit ihren Anfängen eine Meisterin im Stimme-geben. In ihrem jüngsten Roman, „Panischer Frühling“, führt uns die Erzählerin durch ein untergründiges, randständiges, vom Wasser dominiertes London, was zu einer Vielzahl suggestiver Bilder führt, lässt dazwischen Stimmen aus der Kindheit der Protagonistin einfliessen, dazu andere, fremde Stimmen und Figuren, die zur Biografie eines Zeitungsverkäufers gehören, mit dem sich die Erzählerin befreundet. Ein fliessender, ein rhythmischer, ein musikalischer Text, den die Autorin so lebendig zu lesen versteht, als ob er eben entstehen würde.
Kolumnisten
Kolumnen, wie sie heute in den Schweizer Medien inflationär sind, können einem ja das Lesen grad verleiden. Was da alles an Unsinn, Schwachsinn verbreitet wird, mit was für Schein- oder Nichtproblemchen man da ständig behelligt wird… nein, man darf gar nicht darüber nachdenken. Gottseidank gibt es auch das Umgekehrte, die Ausnahmen, die Kolumnisten, auf die man zählt und steht, die in den paar Zeilen ihre literarische Heimat gefunden haben. Peter Bichsel gehört zu denen oder eben Peter Schneider und Constantin Seibt, die sich beide in Solothurn präsentierten mit ein paar Beispielen aus ihren Küchen und mit einer munteren Plauderei. Was bekam man da zu hören, was wurde mit beifälligem Lachen und Kopfnicken begleitet? Das Kleinreden der Kolumne, die dann am besten ist, wenn sie aus Routinen zusammengesetzt, in ein, zwei Stunden hingepfeffert wird, beiläufig daherkommt. Während der eine (Seibt) sich damit amüsiert, unverdrossen gegen Windmühlen zu kämpfen, beschäftigt sich der andere (Schneider) mit dem täglichen Blödsinn, der, so scheint es, immer gigantischer wird und den gegen-ihn-Anschreiber zu demprimieren beginnt.
Es sass noch ein Dritter am Tisch, der hat in seinem Leben über 1500 Kolumnen geschrieben, über Jazz (und über Wein), darunter kein einziger Verriss! Jazz, so Peter Rüedi, sei eine Minderheitsmusik, die er liebe und promoviere; da werde er die paar wöchentlichen Zeilen, die ihm zuständen, nicht damit verschwenden, den Jazz schlecht zu machen.
Wirkliche Musik
Peter Rüedi war es schliesslich, der all die Stimmen und Stimmungen der Literaturtage in einem sich sanft in den Abend hineinziehenden Auftritt elegant zusammenfügte. Er las Texte, die von alten, von sehr alten Jazzvirtuosen handelten, von ihren Klängen und ihrem Leben, kleine Texte, die einem die Ohren für die Musik öffneten, Wörter, Stimmen, Töne, auch Begriffe und Gedanken, noch keine Musik, aber etwas, das nahe dran war, eine Brücke schlug zwischen den beiden Welten. Dazwischen sang die aus Albanien stammende Elina Duni in ihrer klangvollen Sprache, begleitet vom Schweizer Pianisten Colin Vallon, jazzige Volkslieder. Musik war das, die einem unter die Haut ging, von Rüedi kolumnisiert und also, ganz zu Recht, mit einem hohen Qualitätsausweis versehen.