Für den britischen Premier war die Gesichtswahrung wichtiger als für die EU. Das Chaos, das mit einem No-Deal ausgebrochen wäre, hätte ihn mit Sicherheit Kopf und Kragen gekostet. Für die EU ist das Resultat nicht nur eine Gesichtswahrung, sondern ein grosser Erfolg: Sie hat ihr politisches Projekt verteidigt und lässt es nicht zu, dass der Binnenmarkt durch einen Drittstaat geschwächt wird, selbst wenn dieser Drittstaat ein früheres EU-Mitglied ist und wirtschaftlich von einigem Gewicht.
Zum Jahreswechsel hat nun also Grossbritannien den europäischen Binnenmarkt verlassen: Die vier Freiheiten des Verkehrs von Personen, Waren, Dienstleistungen und Kapital existieren nicht mehr. Das neue Freihandelsabkommen folgt den Regeln der Welthandelsorganisation WTO. Anfang 2021 wird das noch nicht in seinem ganzen Ausmass zu spüren sein, aber bereits jetzt kommt auf britische Firmen ein grösserer administrativer Aufwand zu. Wenn jedoch die EU ihre Umwelt- oder Sozialstandards verschärft, was sie jederzeit tun kann und wohl auch tun wird, könnte sich dies rasch ändern. Zwar müssen die Briten nicht mitziehen und ihre Standards der EU anpassen. Aber die aus geringeren UK-Standards sich ergebende Wettbewerbsverzerrung kann die EU durch Strafzölle auffangen. Sie würden auf jenen Gütern erhoben, welche unter Verletzung der neuen EU-Standards produziert worden sind. Und die WTO kennt ziemlich genaue Regeln, wie hoch solche Strafzölle sein dürfen. Soweit nur ein Beispiel für die Folgen des Verlassens des Binnenmarktes.
Kontroverse Diskussion
Vor und nach Abschluss des Abkommens wurden im Schweizer Radio SRF Fachleute zum Verhältnis zwischen dem Brexit und den aktuellen Verhandlungen der Schweiz mit der EU befragt. Vor dem Abschluss kam der Schweizer Historiker Oliver Zimmer zu Wort, der in Oxford lehrt, nach Abschluss die Juristin Christa Tobler, Professorin für Europarecht in Basel. Der erstere beklagte, dass in der Schweiz die EU als rein wirtschaftliches Projekt wahrgenommen werde, dabei handle es sich doch um ein politisches Projekt. Als Beispiel erwähnte der Historiker nebst der Gemeinschaftswährung die Personenfreizügigkeit, bei welcher es sich um ein politisches Individualrecht handle, das über den wirtschaftlichen Zusammenhang weit hinausgehe. Wie recht hat doch der Mann!
Die daraus gezogenen Folgerungen waren dann aber recht abstrus und endeten in der Forderung, die Schweiz dürfe das zur Diskussion stehende Rahmenabkommen nicht unterzeichnen, auch dann nicht, wenn in den drei noch offenen Detailfragen eine gemeinsame Interpretation erzielt werden könne. Die Unterzeichnung komme einer Vorstufe des EU-Beitrittes gleich, vor allem weil der Europäische Gerichtshof EuGH gar kein Verfassungsgericht sei – als das er sich selber verstehe –, sondern ein politisches Gericht, das in den Nationalstaat eingreife und dessen Souveränität tangiere. Der Gerichtshof sei die politische Speerspitze des Supranationalismus.
In ihrer gewohnt verständlichen Art erläuterte dann nach Weihnachten Christa Tobler den Entwurf zum Post-Brexit-Abkommen sowie den grossen Unterschied zwischen den nunmehr rein WTO-basierten Handelsbeziehungen der EU mit Grossbritannien einerseits und der Teilnahme der Schweiz am EU-Binnenmarkt andererseits. Die Juristin wurde zu verschiedenen Aussagen des Historikers im vorangehenden Interview befragt. Zwar nicht direkt zu dessen Aussage, die Teilnahme an einem Binnenmarkt sei die Mitgliedschaft in einer politischen Struktur, aber zu seiner Qualifikation des EuGH als politisches Gericht. Jedes Gericht habe nebst der rechtlichen in beschränktem Masse immer auch eine politische Funktion, erläuterte die Juristin sinngemäss, denn im einzelnen Anwendungsfall müssten ja jene Gesetzeslücken geschlossen werden, die der Gesetzgeber verständlicherweise nicht alle habe voraussehen können und im Detail auch nicht habe vorausregeln dürfen.
Recht und Politik
In beiden Interwies stand der Zusammenhang zwischen Recht und Politik zur Diskussion. Recht fällt nicht vom Himmel, sondern es wird gemacht. Und gemacht wird es durch die Politik, sei diese nun diktatorisch oder demokratisch. In Demokratien werden Gesetze in Parlamenten verabschiedet. Verfassungen werden manchmal durch besondere verfassungsgebende Versammlungen verabschiedet, aber das ist eher selten. Da und dort kommen noch Volksabstimmungen hinzu. Aber der Inhalt des Rechts geht aus politischen Diskussionen hervor, aus Abstimmungen im Parlament, die letztlich durch Mehrheitsentscheide gefällt werden, manchmal sogar durch Stichentscheid des Präsidiums. Mehrheiten sind jedoch immer nur Mehrheiten auf Zeit. Die politische Auseinandersetzung geht weiter, und Mehrheiten können sich neu formieren. Wechselnde Mehrheiten sind das eigentliche Qualifikationsmerkmal demokratischer Politik und damit auch demokratischer Rechtssetzung.
Die so entstandene und immer wieder sich anpassende Rechtsordnung ist die Grundlage für vielfältige Beziehungen zwischen einzelnen Individuen sowie des Einzelnen zur öffentlichen Hand, letztere auf ganz unterschiedlichen Ebenen. Wenn ein Medizinal-Unternehmen im Kanton St. Gallen seine Produkte an ein Spital in Basel verkauft, ist das rechtlich eine einfache Sache, weil beide privatrechtlich demselben Schweizerischen Obligationenrecht unterstehen und weil der St. Galler-Produzent genau weiss, welche öffentlich-rechtlichen Sicherheitsstandards auch in Basel gelten. Und wenn er dasselbe Produkt an ein Spital in Stuttgart liefert, kann er sich in analoger Weise auf den Binnenmarkt verlassen und darauf, dass die Schweiz ihre Standards mit jenen der EU in Übereinstimmung gebracht hat.
Es ist ein grosses Glück für Europa, dass die EU ihr durchaus politisches Projekt gegen den britischen Angriff von aussen verteidigt hat, denn diese Absicht von jenseits des Ärmelkanals war in den ganzen Verhandlungen immer präsent: London versuchte die EU gezielt zu schwächen. Wie oft unternahmen es doch der britische Premier und seine Leute, mit Paris und Berlin direkt ins Gespräch zu kommen, um „bilateral“ ein Ergebnis zu erzielen, das mehr in ihrem Sinne gewesen wäre. Aber sowohl durch die französische als auch durch die deutsche Diplomatie wurden sie jeweils höflich, aber bestimmt nach Brüssel verwiesen: Ihr Verhandlungspartner sei die EU-Kommission und nicht die einzelnen Hauptstädte.
Der britische Angriff war ein eminent politischer: Der Binnenmarkt ist das Herzstück der EU. Er ist ein gemeinsamer Rechtsraum mit zahlreichen supranationalen Elementen – da hatte der Historiker im Interview mit Radio SRF durchaus recht. Und sobald sich Handels- und sonstige Beziehungen nicht mehr nur auf bilaterale Vereinbarungen abstützen, sondern immerhin teilweise zu einer multilateralen Rechtsordnung werden, brauchen sie einen politischen Rahmen, aus dem das Recht überhaupt hervorgehen kann. Oder auf eine Kurzformel gebracht: EU-Recht kommt so zustande, wie alles Recht, nämlich durch politische Prozesse, deren Ablauf durch die Mitgliedstaaten multilateral vereinbart worden ist. Dieser Ablauf kann immer wieder verändert werden, ausgedehnt oder eingeschränkt, aber Veränderungen sind nur multinational möglich durch neue Vereinbarungen der Mitgliedstaaten, und nicht durch irgendwelche bilaterale Vorschläge von aussen.
Die Europäische Union verändert sich
Der Multilateralismus ist in der Europäischen Union seit ihrer Gründung angelegt. Schon ihre Vorgängerorganisation, die 1950 gegründete „Montanunion“ legte die Verwaltung von Kohle und Stahl – in friedenspolitischer Absicht, denn das waren damals die beiden Güter, ohne die Kriege nicht geführt werden konnten – in die Hände einer supranationalen „Hohen Behörde“. 1957 ging diese im Rahmen der Römer Verträge in die Europäische Kommission über, vereinbart durch dieselben sechs Gründerstaaten der Europäischen Gemeinschaft. Die Staaten, die solchen Multilateralismus ablehnten, gründeten daraufhin die Freihandelsassoziation EFTA, konnten aber nicht verhindern, dass ab 1973 in den Reihen ihrer Gründerstaaten – beginnend mit Grossbritannien – ein Reigen von Beitritten in die heutige EU begann, und damit eine Marginalisierung der EFTA. Die EU wurde immer grösser, Beitrittsrunden tragen seit 1973 verschiedene Jahreszahlen, bis zur derzeit letzten von 2013 für Kroatien.
Langfristige Beobachter zur Entstehung der Brexit-Idee haben deren zeitliche Wurzeln untersucht. Offenbar liegen sie in der Zeitspanne, als man von einer „ever closer union“ zu sprechen begann. Die Briten waren an der Gemeinschaft auf dem Kontinent immer nur als Wirtschaftsprojekt interessiert. Dass dieses der Regeln bedarf, wussten auch sie. Durch den Beitritt 1973 verschafften sie sich den Zugang zu den Gremien, die dieses Regelwerk bestimmen. Als aber in den 80er Jahren die Binnenmarkt-Idee aufkam, wurde es heikel für die Briten, und dies eben deshalb, weil ein Binnenmarkt ein gemeinsamer Rechtsraum mit supranationalen Elementen ist, der einer politischen Grundlage bedarf.
Nicht alle verstanden unter „ever closer union“ dasselbe. Aber in dieser Perspektive kam für einige Europäer auch die Zielsetzung zum Ausdruck, die in einen gesamteuropäischen Bundesstaat ausmünden sollte. Die 90er Jahre trieben diese Idee voran, beflügelt auch durch das Ende des Kalten Krieges. Nun folgte die Kontroverse über „Erweiterung vs. Vertiefung“. Sinngemäss formuliert war es einer „geopolitischen Gesamtlage“ geschuldet, dass die Erweiterung unumgänglich wurde. Heute sehen viele die Perspektiven der Union etwas vielfältiger, in der Entwicklung einer neuen Form von Staatlichkeit, die sich nicht auf eine direkte Achse zwischen Staatenbund und Bundesstaat einordnen lässt. Mit neuen Erfahrungen geteilter Souveränität entsteht etwas durchaus Neues. Aber durch all dies hätte sich der Brexit nicht abwenden lassen, meinen die erwähnten Langfristbeobachter der Brexit-Anfänge: Die Briten wollten nur wirtschaftliche und niemals politische Annäherung, und das ist unvereinbar mit dem Binnenmarkt.
Take back control!
Wirtschaftliche ohne politische Annäherung, das will eine bislang offensichtlich noch mehrheitliche Bevölkerung der Schweiz offenbar auch. Und so war es immer: Ein – zugegeben übertriebenes – Bonmot sagt, am liebsten würde die Schweiz keine Aussenpolitik, sondern nur Aussenwirtschaftspolitik betreiben. Eine seriöse Analyse der schweizerischen Aussenpolitik würde das sicher in dieser Schärfe wiederlegen, obschon etwas Wahres daran ist. Aber konkret: Die Schweiz nimmt am europäischen Binnenmarkt weitestgehend teil. Sogar die Personenfreizügigkeit ist kürzlich mit grosser Mehrheit gutgeheissen worden.
Was macht da die Schweiz eigentlich? Sie versucht genau das, womit die Briten eben grandios gescheitert sind. Sie will rechtlich dabei sein und politisch nichts damit zu tun haben. Und damit das möglich ist, will sie als Drittstaat von aussen die Regeln, nach denen das Unionsrecht zustande kommt, ein wenig ändern ... nur ganz wenig, aber gerade so viel, dass das ganze danach in der Schweiz Akzeptanz finden könnte. Und das soll dann als Aufrechterhaltung des bilateralen Weges verkauft werden, was nicht ganz richtig ist: Bilateral ist seit dem Jahreswechsel das Verhältnis zwischen der EU und Grossbritannien. Die Schweiz ist rechtlich längst in den Binnenmarkt weitestgehend integriert, mit einem Verhandlungspartner, der multilateral funktioniert, und den man nur als Mitglied beeinflussen kann, nicht aber als Drittstaat von aussen.
Was also kann die Schweiz nun machen? Zum Beispiel dasselbe, was die Briten 1973 gemacht haben, nämlich sich Zutritt zu jenen Gremien verschaffen, in welchen die Regeln des Binnenmarktes und das gesamte EU-Recht multilateral ausgehandelt werden. Dabei kann ihr nicht dasselbe zustossen wie den Briten, welche – wenn die bereits genannten Langzeitbeobachter recht haben – nach der Wandlung der Union zu einem Binnenmarkt den Multilateralismus als unzumutbar zu empfinden begannen und deshalb wieder ausgeschieden sind. Heute sind die Perspektiven klar, denn es gibt den Binnenmarkt, und die Schweiz will an ihm teilnehmen.
Eigentlich weiss die Schweiz sehr genau, dass Recht aus Politik hervorgeht, wer wüsste das besser als dieses Land mit seiner politischen Kultur, die sich seit 1848 entwickelt hat. Integration in einen Rechtsraum, ohne sich politisch am Zustandekommen dieses Rechts beteiligen zu wollen, ist mit dieser politischen Kultur nicht vereinbar. Da kann man dieser Schweiz für 2021 nur zurufen: „Take back control!“. Und damit ist nichts anderes gemeint als der Beitritt dieses Landes zur Europäischen Union.
*) Gret Haller ist Co-Präsidentin der gesamtschweizerischen Sektion „EU“ der Sozialdemokratischen Partei: sp-ps-section.eu