Sonntag, 23. Juni 2013: Der katholische Kirchgemeindesaal Horgen ist bis auf den letzten Platz besetzt. Fasziniert folgt das Publikum diversen Präsentationen anlässlich des 20. Geburtstags eines nepalesischen Strassenkinderheims: Das „Home of New Hopes“ (Nawa Asha Griha NAG), die Privatinitiative einer damals 23 Jahre jungen Schweizerin, ist heute eine höchst bemerkenswerte kleinen Hilfsorganisation. Claude Nicollier, der bekannte Schweizer Astronaut, gibt Nicole Thakuri-Wick heute die Ehre, beim Anlass dabei zu sein, ebenso André Lüthi von Globetrotter.
Romedius Alber, Stiftungsratspräsident und Kinderarzt (gemäss Stiftungsurkunde soll auch ein Arzt im Stiftungsrat sein), führt durch den Nachmittag. 20 Jahre – welch gewaltige Spanne in unserer rasend schnelllebigen Zeit! Alber versucht das Publikum bildlich mittels Fotos aus jener Zeit ein wenig darauf einzustimmen. Sein damaliges Handy war beispielsweise eine Kiste von Apparat. Die Vorstellung der Sprecher vom Nachmittag ergänzen ebenfalls Fotos aus jener Zeit: André Lüthy etwa, der 2012 gefeierte Entrepreneur des Jahres, heute im Managerlook, sieht eher aus wie ein Taliban – und Nicole Wick auf einem Bild mit ihren ersten fünf Buben von der Strasse in Kathmandu wie deren grosse Schwester. Einer jener fünf ist hier und heute in Horgen dabei: als kleiner Entrepreneur aus Katmandu.
"Heim der neuen Hoffnungen"
Nicole Wick ist aufgewachsen in Horgen. Als es darum ging, ihre Berufstätigkeit mit einem weiteren Studium am Technikum in Angriff zu nehmen, hatte sie sich entschieden, stattdessen in Nepal Strassenkindern zu helfen. Das war vor 20 Jahren. Sie heiratete Jeethen Thakuri und wurde selbst Mutter, wobei sich ihr Privatleben ununterbrochen innerhalb vom „Home of New Hopes“ (Nawa Asha Griha NAG) abspielte. Heute bietet sie nahe Katmandu über 200 Kindern und Jugendlichen tagtäglich ein Dach über dem Kopf, Mahlzeiten, Kleidung und Schulunterricht. Plus medizinische Versorgung und die Möglichkeit, je nach Interesse und Begabung eine Berufsausbildung anzuschliessen.
Aber nicht genug damit: Weitere 150 Kinder werden täglich aus den Armutsquartieren per Bus abgeholt, um bei NAG in der Tagesschule unterrichtet zu werden – inklusive Schuluniform, Schulmaterial und Mahlzeiten. Besonders letztere sind das A und O für viele von ihnen, die sonst nur selten ein warmes Essen bekommen. Indem NAG ausserdem noch 350 Dorfkindern den Besuch der ortsansässigen Staatsschule von Thoka ermöglicht, wird zudem ein guter Beitrag zur eigenen Integration im Dorf geleistet.
"...der wird es schaffen!"
Die NAG’er, wie sich diese Strassenkinder nennen, die liefern ihren eigenen Beitrag zum Jubeltag des 20. Heimgeburtstags in Form eines voll von ihnen selbst fabrizierten Videos, welches nun vorgeführt und von Nicole kommentiert wird. Allmorgendlich beginnt der NAG-Tag mit der Nationalhymne, so will es der Staat. Wir sehen die Kinder beim Lernen und Waschen, bei der Küchenarbeit und beim Essen, aber auch bei Spiel, Sport und Tanz, im Musikraum, beim Malen oder Gestalten, oder in Aktion mit der hauseigenen mobilen Suppenküche, mit der sie Strassenkinder Katmandus regelmässig beglücken. Wir sehen und hören Ehemalige, die heute selbst bei NAG unterrichten, darunter solche, die davon träumen, im Dorf, aus dem sie kommen, eine Schule aufzubauen (Nicole dazu:„…der wird es schaffen, er ist dickköpfig genug!“). Wir sehen die erste junge Ärztin, die gerade als sechstbeste von Nepal ihre Abschlussprüfungen in Bangladesch bestand und ihr Praxisjahr in Nepal absolviert. Sie ist nicht die erste NAGerin, die studieren konnte.
Nicole Wick setzte und setzt weiterhin voll auf diese ihre Aufgabe in Nepal, unabhängig von politischen Wirren, die dieses kleine arme, aber schöne Land ständig belasten. Auch unabhängig von Ärgernissen mit nepalesischen Hauseigentümern – vier Mal musste das Heim mit Sack und Pack umziehen, weil jene Herrschaften anderweitige Verwendung für ihre Häuser hatten. Beim letzten Mal setzte die Schweizer Trägerstiftung alles auf eine Karte und erwarb eine leerstehende kleine Pashmina Fabrik in Tokha, die seitdem eine reizende Heimat und eine Art sicherer Hafen für NAG geworden ist. Nicole können auch persönliche Probleme nicht aus dem Konzept bringen – sie verlor ihren Sohn durch plötzlichen Kindstod, und sie verwitwete unerwartet vor fünf Jahren.
"Ohne euch wäre das alles nicht möglich"
„Viele NAG-Kinder verdanken Euch“, schliesst Nicole ihren Filmkommentar „dass sie ihre Träume wahr machen konnten!“ Womit auch das Motto dieses kleinen Festanlasses angesprochen ist. Einer dieser Glücklichen ist der mit ihr nach Zürich gereiste Wangel. Stiftungsrat Philipp Inauen führt mit ihm in der Folge ein Gespräch, in dessen Verlauf Wangel mit aus seinem Leben erzählt. Als Ältester musste er, nachdem sein Vater starb, die Schule abbrechen um die Familie zu ernähren. Aber immer schon war ihm klar, dass er ein eigenes Geschäft haben wollte. Dank seiner Schwiegermutter als anfängliche Partnerin ist er nun schon 11 Jahre erfolgreich Lebensmittelhändler, beliefert Klöster und Schulen, unter anderem NAG. Er kann seine Frau plus den 9-jährigen Sohn ernähren: „Ohne NAG wäre all das nicht möglich gewesen und ich danke euch dafür vom Grunde meines Herzens!“
Von Anfang an ist Nicole unterstützt worden von ihrer Familie in der Schweiz: Als sie 1993 mit wenigen Kindern in einer kleinen Mietwohnung, ohne Betten mit Schlaflagern am Boden im fernen Katmandu begann, mobilisierte ihre Mutter Judith, für die als gebürtige Australierin Wohltätigkeit zum Dasein gehört, umgehend ihren Freundeskreis und ist noch heute eine wichtige Ansprechpartnerin für die vielen Paten, die bei Nicole ein Kind unterstützen. Sie ist auch Nicole‘s wichtigste Bezugsperson, zumal Vater Niklaus Wick 2012 schwer erkrankte und kurz darauf starb. Er hatte noch kurz vor seinem Tod Nepals erste private Erdbebenwarnanlage bei NAG installiert.
Eine Einladung zu Kurt Aeschbacher ausgeschlagen
André Lüthi, CEO und Verwaltungsratspräsident von Globetrotter, dessen Reisekunden regelmässig Altkleider und anderes in ihrem Gepäck mitnahmen, kennt und bewundert Nicole und NAG schon lange. Sein Grusswort stützt er auf einen Satz von Josephine Baker: Wer Träume verwirklichen will, muss dazu erwachen.
Nicole hatte den Traum, Kindern eine Zukunft mit Beruf und Familie zu ermöglichen; sie hat das geschafft, trotz schwersten persönlichen Wegs. Und dies ganz bescheiden, fern von jedem PR-Wirbel. Sie will keinesfalls im Mittelpunkt stehen. Selbst eine Einladung zu Kurt Aeschbacher habe sie ausgeschlagen. „Nicole, Du bist erwacht….wir können etwas lernen von dir!“ Denn: Viele Leute haben Träume und reden davon, aber letztlich sei das wichtig, was man macht.
Wie ein kleines Dorf
Auf Lüthi folgt der weltbekannte Astrophysiker und NASA-Pilot Claude Nicollier, dessen Auftritt gekoppelt ist mit zweierlei: Einerseits hat auch er als einer der wenigen Menschen Träume wahr werden lassen, anderseits ist Nicole von Kindesbeinen an fasziniert vom Weltall, und Nicollier kennen zu lernen, war ein kleiner persönlicher Traum von ihr. Dessen Schilderungen von seinen vier Weltraumreisen gipfeln im Bild unserer Erde: ganz klein und bescheiden wie ein Raumschiff mit einer Besatzung von sieben Milliarden.
Daheim in Thoka sitzt Nicole meist in ihrem Büro am Computer wie im Cockpit eines Flugzeugs. Per Internet ist der intensive Austausch jetzt ohne Telefonspesen möglich, und ausserdem gehören inzwischen Social Media wie Facebook zu ihren täglichen Kommunikationsmitteln. Das Heim ist hervorragend geführt. Nicole organisiert, verwaltet und entscheidet. Die Bewohner kümmern sich um einander, die Grossen helfen den Kleinen, und das Areal des Heims wirkt wie ein kleines Dorf.
Abends wird das Wohnzimmer von Nicole je nach TV-Programm ab und zu Tummelplatz für einige Burschen oder Mädchen. Dr. Frédéric Perrier, Vizepräsident der Stiftung Kinderhilfswerk, ist extra aus Paris angereist für den Horgner Anlass. „Ohne ihn und meine Mutter hätte ich das alles nicht geschafft“ sagt Nicole und überreicht beiden holzgeschnitzte Ehrenurkunden made in Nepal. Perrier besucht Nepal mehrmals jedes Jahr und kennt die dortigen Verhältnisse bestens. Für ihn gibt es kein besseres Projekt.
Wer weiteres wissen will: www. nagnepal.org